L 12 AS 1773/11 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 29 AS 3287/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 1773/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.09.2011 wird zurückgewiesen. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu zahlen.

Die 1979 geborene Antragstellerin polnischer Staatsangehörigkeit bezog von dem Antragsgegner von Februar bis Juli 2011 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (zuletzt Bewilligungsbescheid vom 20.05.2011). Die mit Antrag vom 02.08.2011 von der Antragstellerin begehrte Fortzahlung der Leistungen lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 04.08.2011 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II ab. Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 30.08.2011, eingegangen am 02.09.2011 Widerspruch ein. Am 01.09.2011 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf Eilantrag auf Leistungsgewährung rückwirkend ab 01.08.2011 gestellt.

Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 27.09.2011 verpflichtet, der Antragstellerin für den Monat September 2011 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 534,00 Euro (Regelleistung 364,00 Euro, Bedarfe für Unterkunft und Heizung 170,00 Euro) zu bewilligen. Soweit die Antragstellerin im Eilverfahren Leistungen bereits ab 01.08.2011 begehre, sei der Eilantrag unbegründet, da ihm ein Anordnungsgrund fehle. Leistungen könnten grundsätzlich frühestens ab Antragstellung im Gerichtsverfahren (hier: 01.09.2011) gewährt werden. Anhaltspunkte dafür, dass sich eine mögliche Notlage aus August 2011 auch auf den künftigen Zeitraum erstrecke, seien vorliegend nicht ersichtlich. Hinsichtlich des Monats September sei der Antrag begründet. Ob ein Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife, könne im Rahmen des Eilverfahrens nicht abschließend geklärt werden. Zweifelhaft sei, ob der normierte Leistungsausschluss nicht gegen Europarecht verstoße. Eine Regelung über September 2011 hinaus sei nicht getroffen worden, da die Antragstellerin im Oktober 2011 wohl eine Ausbildung beginne und der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dann ohnehin nicht mehr in Betracht komme.

Gegen den ihr am 30.09.2011 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 10.10.2011 Beschwerde eingelegt. Leistungen seien bereits ab August 2011 zu bewilligen. Eine besondere Notlage ergebe sich daraus, dass ihr Vermieter ihr fristlos zum 30.09.2011 bzw. nach einem Gespräch zum 31.10.2011 gekündigt habe. Im Übrigen habe sie zum 01.10.2011 eine neue Arbeitsstelle angetreten und werde einen neuen Leistungsantrag stellen. Die im August 2011 gewährten Leistungen seien zu gering. Anstelle der angesetzten 170,00 Euro fielen tatsächlich 340,00 Euro an Mietkosten für die Wohnung an.

Die Antragstellerin beantragt schriftlich sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.09.2011 zu ändern und den Antragsgegner zu verurteilen, ihr ab 01.08.2011 vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er sieht den angefochtenen Beschluss - in der Gestalt des am 04.10.2011 erlassenen Widerspruchsbescheides - als zutreffend an.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakten und der vom Antragsgegner übersandten Verwaltungsakten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung höherer Leistungen bzw. zur Zahlung von Leistungen in einem anderen Zeitraum als September 2011.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedarf besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 Rn 23 - Breith 2005, 803; BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 - 1 BvR 1087/91 Rn 28 - BVerfGE 93, 1). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 - 1 BvR 1087/91 Rn 28 - BVerfGE 93, 1). Der vom Antragsteller geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).

Hiervon ausgehend sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem von der Antragstellerin über den im Beschluss des Sozialgerichts festgesetzten Umfang hinaus nicht erfüllt.

Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass Leistungen im gerichtlichen Eilverfahren grundsätzlich erst ab Antragstellung gewährt werden können. Besondere Umstände, die eine vor Antragstellung begründete, fortwirkende dringende Notlage belegen könnten, sind weder dargetan noch ersichtlich. Soweit die Antragstellerin in der Beschwerdeschrift die Auffassung vertritt, dass die (mittlerweile) erfolgte Kündigung durch den Vermieter eine Eilbedürftigkeit auch der Gewährung rückwirkender Leistung bedinge, so vermag dies nicht zu einem anderen Ergebnis zu führen. In einem auf die Gewährung laufender Leistungen für Unterkunft und Heizung gerichteten Verfahren ist ein Anordnungsgrund regelmäßig erst dann gegeben, wenn konkrete Wohnungslosigkeit droht (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 25.11.2011 - L 12 AS 1831/11 B ER; ebenso z.B. LSG NRW, Beschluss vom 02.05.2011 - L 6 AS 2215/10 B; Beschluss vom 27.11.2008 - L 9 B 183/08 AS ER). Dies ist grundsätzlich nicht bereits dann der Fall, wenn eine Kündigung des Vermieters wegen Mietverzugs ernsthaft erwartet werden muss oder bereits vorliegt oder der Vermieter eine Räumungsklage angedroht hat. Allein diese Umstände begründen zwar die Vermutung, dass womöglich in näherer oder weiterer Zukunft Wohnungslosigkeit drohen könnte; sie führen hingegen in der Regel nicht dazu, dass der Leistungsberechtigte bereits mit konkreter, d.h. tatsächlich und ernsthaft (kurz) bevorstehender Wohnungslosigkeit rechnen muss. Solch konkrete Wohnungslosigkeit droht regelmäßig dann, wenn der Vermieter Räumungsklage erhoben hat (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats vgl. z.B. Beschluss vom 21.12.2011 - L 12 AS 1469/11 B ER m.w.N.; weitergehend LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2010 - L 5 AS 2025/10 B ER: erst bei Räumungsandrohung), weil der Mieter einer Wohnung nach den gesetzlichen Bestimmungen des Zivilprozessrechts (zwangsweise) erst dann aus der Wohnung gewiesen werden kann, wenn der Vermieter einen vollstreckbaren Räumungstitel gegen ihn erworben hat (§ 704 Zivilprozessordnung). Bei (bloßer) Kündigung oder Klageandrohung ist in der Regel noch nicht ausreichend klar, ob der Vermieter tatsächlich zu einer Räumung als letztem Mittel der Wahl greifen würde oder ob Kündigung bzw. Klageandrohung nicht vielmehr (zunächst) dem Zweck dienen, den Mieter mit höchstem Nachdruck zur Erfüllung seiner Mietpflichten zu bewegen. Die Erhebung einer Räumungsklage hingegen indiziert - insbesondere auch im Hinblick auf den hierfür regelmäßig vom Vermieter zunächst zu entrichtenden Kostenvorschuss - dessen ernsthafte Absicht, den Mieter wegen der Mietschulden tatsächlich auch zwangsweise aus der Wohnung zu entfernen bzw. entfernen zu lassen. Erhebt der Vermieter des Leistungsberechtigten gegen diesen - zu Recht - eine Klage auf Räumung des Wohnraums nach §§ 543 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 569 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), so kann der Räumungstitel vom Leistungsberechtigten nicht mehr verhindert werden, wenn es diesem nicht gelingt, die Rückstände gem. § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB entweder selbst auszugleichen oder eine Verpflichtung des Leistungsträgers zum Ausgleich zu erlangen. Anders als noch vor Klageerhebung ist nach Rechtshängigkeit der Klage kein weiteres aktives Handeln des Vermieters mehr erforderlich, um einen Räumungstitel und damit die Berechtigung zu erlangen, Wohnungslosigkeit des Mieters unmittelbar herbeizuführen (vgl. auch LSG NRW Beschluss vom 16.09.2010 – L 6 AS 949/10 B ER). Entsprechend droht ab diesem Zeitpunkt ernsthaft und konkret zeitnah absehbar für den Leistungsberechtigten der Verlust des Mietobjekts, wenn nicht eine Befriedigung des Vermieters innerhalb von 2 Monaten ab Rechtshängigkeit der Räumungsklage (§ 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB) erfolgt. Diese drohende Konsequenz spiegelt auch die Vorschrift des § 22 Abs. 9 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und SGB XII vom 24.03.2011 wider, die aus diesem Grund eine Mitteilungspflicht der Amtsgerichte an die Leistungsträger über entsprechende Klageeingänge normiert. Weigert sich der Leistungsträger, die Befriedigung des Vermieters vorzunehmen, so würde ohne Eilentscheidung des Gerichts über die Frage der Eintrittspflicht eine Räumung möglich und damit Nachteile für den Leistungsberechtigten eintreten, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr behoben werden könnten. Bis zu einer solchen Räumungsklage ist es dem Leistungsberechtigten aus den o.g. Gründen hingegen zumutbar, zunächst ein Hauptsacheverfahren zu betreiben. Eine besondere Eilbedürftigkeit vor Rechtshängigkeit einer Räumungsklage ergibt sich auch nicht daraus, dass der Leistungsberechtigte die Kosten des gegen ihn angestrengten zivilgerichtlichen Räumungsverfahrens nach dem Veranlassungsprinzip auch dann zu tragen hat, wenn der Leistungsträger im sozialgerichtlichen Eilverfahren zur vorläufigen Befriedigung des Vermieters verpflichtet wird. Bei diesen Kosten handelt es sich nicht um Nachteile, die sich im Hauptsacheverfahren nicht wieder gutmachen ließen. Hat der Leistungsträger die Zahlung der ausstehenden Mieten rechtswidrig verweigert, so ist er im Hauptsacheverfahren auf Antrag des Leistungsberechtigten zur Zahlung dieser Mieten und darüber hinaus zur Übernahme der dem Leistungsberechtigten durch die Leistungsverweigerung entstandenen weiteren Kosten, d.h. konkret der Kosten des zivilgerichtlichen Räumungsverfahrens zu verurteilen. Dies entspricht der im Sozialversicherungsrecht als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens geltenden Pflicht zur Erstattung der Kosten, die im Fall rechtswidriger Leistungsablehnung angefallen sind (vgl. Löns/Herold-Tews/Boerner, SGB II, 3. Aufl. 2011, § 22 Rn 128 unter Verweis auf BSG Urteil vom 17.06.2010 - B 14 AS 58/09 R Rn 21 - BSGE 106, 190).

Da die Antragstellerin im vorliegenden Fall eine Räumungsklage ihres Vermieters nicht einmal behauptet hat, ist ein Anordnungsgrund - hier für Zeiträume vor Antragstellung - nicht glaubhaft gemacht.

Fehlt es somit - entgegen der Entscheidung des Sozialgerichts - bereits grundsätzlich an einem Anordnungsgrund für Bedarfe der Unterkunft und Heizung, gehen die Ausführungen der Antragstellerin dazu, dass das Sozialgericht ihr die entsprechenden Bedarfe in einer niedrigeren als der tatsächlich anfallenden Höhe bewilligt habe, ins Leere.

Sofern die Antragstellerin mit der Beschwerde (Regel-)Leistungen auch ab Oktober 2011 begehrt, fehlt ihr im Eilverfahren hierfür das Rechtsschutzbedürfnis. Die Antragstellerin konnte zur Leistungserlangung - wie auch von ihr in der Beschwerdeschrift angekündigt - einen Neuantrag beim Antragsgegner stellen, um den geänderten Voraussetzungen der Arbeitsaufnahme Rechnung zu tragen. Steht ein einfacherer Weg als das Gerichtsverfahren zur Verfügung, bedarf ein Hilfebedürftiger keiner gerichtlichen Hilfe, um die Gewährung der von ihm begehrten Leistungen zu erreichen. Da die Antragstellerin diese ihr zumutbaren Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hat, das erstrebte Ziel auch ohne Einschaltung des Gerichts zu erlangen, fehlte es an der Notwendigkeit gerichtlichen Eingreifens (vgl. LSG NRW Beschluss vom 20.09.2011 - L 6 AS 1508/11 B ER; Beschluss vom 19.04.2011 - L 6 B 399/11 B ER; Beschluss vom 31.03.2011 - L 6 B 86/09 AS mwN).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Beschwerdeverfahren ist aus den o.g. Gründen mangels hinreichender Aussicht des Eilverfahrens auf Erfolg abzulehnen (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung).

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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