L 2 SO 72/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 5771/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 72/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zum Verhältnis von § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (Hilfe zur Pflege) zu §§ 53 Abs. 1 und Abs. 3, 55 SGB XII, § 55 Abs. 1 SGB IX (Eingliederungshilfe)
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt F., F., beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.

Die zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) sowie form- und fristgerecht eingelegte (§ 173 SGG) Beschwerde ist nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustandes geht (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschlüsse des Landessozialgericht Baden-Württemberg v. 1.8.2005 – L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und v. 17.8.2005 – L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verlangt eine besondere Ausgestaltung, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Will sich das entscheidende Gericht in einem solchen Fall an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, dann muss es die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) gilt (BVerfG v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Güter- und Folgenabwägung zu entscheiden (LSG Baden-Württemberg v. 27.3.2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B und v. 6.9.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B). Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236). Diejenigen Folgen sind gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestanden habe.

Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (LSG Baden-Württemberg v. 4.4.2008 – L 7 AS 5626/07 ER-B und v. 11.6.2008 – L 7 AS 2309/08 ER-B (jeweils juris)). Sind nach Überzeugung des Gerichts Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Anordnungszwecks erforderlich sind (§ 938 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das SG aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht statt gegeben, da ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht wurden. Auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung wird gem. § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug genommen und die Beschwerde gegen die Entscheidung aus denselben Gründen zurückgewiesen.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass er weder die Auslegung des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII durch den Antragsgegner, noch seine Auffassung, aufgrund des Alters der Antragstellerin würde Eingliederungshilfe von vorneherein nicht in Frage kommen, teilt.

Wie das SG zu Recht ausgeführt hat, ergibt sich vorliegend der Anordnungsanspruch aus § 61 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 SGB XII (Hilfe zur Pflege) bzw. aus den § 53 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 SGB XII, § 55 SGB XII, § 55 Abs. 1 SGB IX (Eingliederungshilfe), ohne dass vorliegend im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Einzelnen eine Abgrenzung der beiden Leistungen vorgenommen zu werden braucht, denn Leistungen der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege stehen nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis sondern können, abhängig von den Umständen Einzelfalles, auch nebeneinander erbracht werden (vgl. BVerwG v. 27.10.1977 – V C 15/77BVerwGE 55, 31 = juris RdNr 18 f.; Meßling in: jurisPK-SGB XII, 2011, RdNr. 18; Voelzke in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 53 RdNr 32). Die Maßnahmen, um die vorliegend gestritten wird, enthalten sowohl Elemente der Eingliederungshilfe (Milderung der Folgen der Behinderung), als auch der Pflege (Kompensation eines bestehenden Defizits durch regelmäßig wiederkehrende notwendige Hilfen; vgl. zur Abgrenzung je nach Ziel und Schwerpunkt der Maßnahme VGH Baden-Württemberg v. 31.1.1996 – 6 S 494/93 = NVwZ-RR 1997, 362 = juris RdNr. 34).

Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 SGB XII ist Hilfe zur Pflege auch Kranken und behinderten Menschen zu leisten, die u.a. der Hilfe für andere Verrichtungen als die sog. Katalogverrichtungen nach § 61 Abs. 5 SGB XII bedürfen. Zu diesen sonstigen Verrichtungen zählt auch die vorliegend glaubhaft gemachte Erforderlichkeit einer Nachtwache zur Verhinderung selbstgefährdenden Verhaltens (vgl. Klie in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 61 RdNr 5; H. Schellhorn in: ders./W. Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl. 2010, § 61 RdNr. 35; Meßling in: jurisPK-SGB XII, 2011, § 61 RdNr. 89). Mit der Inbezugnahme auch "anderer Verrichtungen" hat der Gesetzgeber bewusst eine Öffnungsklausel normiert, die es dem zuständigen Sozialhilfeträger einerseits ermöglichen soll, auf unterschiedliche Bedarfssituationen flexibel zu reagieren (vgl. zu § 68 Abs. 5 BSHG: VG Leipzig v. 14.7.2004 – 2 K 1028/03 = juris RdNr. 20), andererseits aber auch verpflichtenden Charakter für den zuständigen Träger hat, indem die individuelle Bedarfsdeckung sichergestellt werden muss (vgl. BT-Drucks 13/4521, S. 3).

Soweit im Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten wird, es bestehe ein Anspruch auf Bedarfsdeckung für die "anderen Verrichtungen" in Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach den §§ 53 ff. SGB XII (Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010, § 61 RdNr. 32), da die Eingliederungshilfe den umfassenderen Ansatz habe, braucht dies nach dem vorstehend Ausgeführten zwar nicht vertieft zu werden, jedoch weist der Senat darauf hin, dass es dem Normzweck und dem Regelungsgehalt der §§ 53 ff. SGB XII nicht gerecht werden dürfte, wenn man grundsätzlich darauf abstellen würde, dass die 1931 geborene Klägerin schon auf Grund ihres Alters nicht mehr eingegliedert werden könne. Eingliederungshilfe zielt u.a. darauf ab, Folgen einer Behinderung abzumildern um auf diese Weise die Teilhabefähigkeit zu verbessern (§ 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII), weshalb grundsätzlich keine Altersgrenze bestehen dürfte (vgl. BVerwG v. 21.12.2005 – 5 C 26/04 – juris RdNr. 13; Voelzke in: Hauck/Noftz, K § 53a RdNr 26a; Wehrhahn in: jurisPK-SGB XII, § 53 RdNr, 41).

Soweit die Antragsgegnerin mit der Beschwerde vorbringt, die Antragstellerin sei derzeit bezüglich ihrer Erkrankungen und der erforderlichen Pflege in einem ungeeigneten Heim untergebracht, dürfte dies zwar zutreffen und ein zeitnaher Wechsel in ein geeignetes Heim erforderlich sein. Die Antragstellerin hat aber im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht, dass ein Wechsel in die von der Antragsgegnerin im Beschwerdeschriftsatz vom 4.1.2012 vorgeschlagenen Heime derzeit mangels Kapazitäten bzw. Geeignetheit nicht möglich ist. Der Senat hat diesbezüglich im Beschwerdeverfahren bei der Bruderhaus Diakonie D. eine ergänzende Auskunft über die mögliche Aufnahme der Antragstellerin eingeholt. Der Haus- und Pflegedienstleister S. hat mit Telefaxschreiben vom 17.3.2012 mitgeteilt, eine Aufnahme sei derzeit nicht möglich und es sei auch nicht absehbar, wann ein Zimmer frei werde. Seine gegenüber der Antragsgegnerin gemachte Aussage, wonach eine Aufnahme binnen 14 Tagen möglich sei, habe sich auf eine erste allgemeine Anfrage bezogen. Nach Kenntnis der Einzelheiten komme aber nur ein spezieller Bereich der Einrichtung in Frage. Insoweit bestehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund fort; es ist aber beiden Beteiligten anzuraten, den im beiderseitigen Interesse liegenden Heimwechsel möglichst zeitnah und möglichst kooperativ durchzuführen. Auch unter diesem Aspekt erscheint die vom SG vorgenommene Begrenzung bis längstens 30.6.2012 sachgerecht.

Aus diesen Gründen war der Klägerin auch unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten PKH ohne Ratenzahlung zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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