S 11 R 5359/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 11 R 5359/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 17. März 2008 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 8. August 2008 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 1. September 2007 eine große Witwenrente aus der Versicherung des B. B. zu gewähren. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine Witwenrente hat, obwohl ihre Ehe mit dem Versicherten weniger als ein Jahr dauerte.

Der im April 1947 geborene Versicherte B B bezog von der Beklagten seit längerem eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Er war mit der Versicherte M B verheiratet; seit 2001 war das Scheidungsverfahren rechtshängig. Die Ehe wurde mit am 29. September 2006 verkündeten und seit dem 10. November 2006 rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg geschieden. Ebenfalls im November 2006 trat bei dem Versicherten ein zentrales Bronchial-Karzinom mit hepatischer Metastasierung auf, das bis Mai 2007 mit einer kombinierten Radiochemotherapie behandelt wurde. Seit dem 13. Mai 2007 wurde er wegen einer Sepsis bei Peritonitis nach Sigmaperforation im Rahmen einer ischämischen Kolitis stationär in den DRK-Kliniken B K behandelt. Am 6. August 2007 heiratete er im Krankenhaus die im September 1948 geborene Klägerin.

Nachdem er am 25. August 2007 im Krankenhaus verstorben war, beantragte die Klägerin im September 2007 die Gewährung einer Witwenrente. Sie gab an, die Eheschließung habe erst zu dem späten Zeitpunkt erfolgen können, da die Rechtskraft des Scheidungsurteils ihnen erst im Mai 2007 bekannt gegeben worden sei. Bis zum 9. Juni 2007 habe ihr Mann im künstlichen Koma gelegen, als es ihm dann wieder besser gegangen sei und bevor er am 24 August 2007 zur Reha hätte fahren sollen, haben sie dann am 6. August heiraten können. Seit dem Jahr 2000 hätten sie auf diesem Tag gewartet. Seit Februar 2003 hätten sie in einer gemeinsamen Wohnung gelebt. Die Beklagte zog den Entlassungsbericht der DRK-Kliniken B -K vom 31. August 2007 sowie einen Befundbericht der Oberärztin Dr. H vom 3. März 2008 bei und lehnte anschließend mit Bescheid vom 17. März 2008 den Antrag auf Gewährung einer Witwenrente ab. Da die Ehe nicht ein Jahr lang gedauert habe, werde kraft Gesetzes eine Versorgungsehe vermutet. Die dargelegten Gründe für die Eheschließung seien nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung einer Versorgung zu widerlegen.

Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den hiergegen gerichteten Widerspruch am 8. August 2008 als unbegründet zurück. Aus den eingeholten medizinischen Unterlagen sei ersichtlich, dass der Tod des Ehemannes zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits vorhersehbar gewesen und nach Auskunft des Standesamtes aufgrund des Gesundheitszustandes um eine Eheschließung im Krankenhaus gebeten worden sei. Es sei auch weiterhin davon auszugehen, dass der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat die Begründung eines Anspruchs auf Hinterbliebenenrente gewesen sei.

Mit der am 3. September 2008 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie führt aus, sie und der Versicherte hätten bereits seit dem Jahr 2000 eine voreheliche Lebensgemeinschaft geführt; die Absicht zur Eheschließung hätten sie bereits im Jahr 2003, als der gemeinsame Hausstand begründet worden sei, gefasst. Diese Absicht habe aber wegen des langwierigen Scheidungsverfahrens zunächst nicht verwirklicht werden können. Als das Scheidungsurteil im Mai 2007 vorgelegen habe, sei man davon ausgegangen, dass die Lungenkrebserkrankung zum Stillstand gekommen und mit einem baldigen Ableben nicht zu rechnen gewesen sei. Trotz der im Mai 2007 auftretenden Komplikationen seien sie davon ausgegangen, dass sich der Gesundheitszustand wieder deutlich bessern werde. Erst am 23. August 2007 habe man von den Metastasen und einer Lebenserwartung von noch 3-4 Monaten erfahren. Der Tod am 25. August 2007 sei dann unvorhergesehen gekommen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 17. März 2008 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 8. August 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. September 2007 eine große Witwenrente aus der Versicherung des Verstorbenen B. B. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest und verweist auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid und dem Widerspruchsbescheid. Ergänzend führt sie aus, die Eheschließung habe zwar nachvollziehbar nicht vor Kenntnis über den Abschluss des Scheidungsverfahrens des Verstorbenen erfolgen können, jedoch habe nicht widerlegt werden können, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung die tödlichen Folgen der Krankheit nicht vorhersehbar waren. Aus medizinischer Sicht sei zum Zeitpunkt der Heirat der Tod des Versicherten sehr wohl vorhersehbar gewesen.

Die Kammer hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 30. Mai 2011 zu den Umständen der Eheschließung angehört.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf Gewährung einer großen Witwenrente gemäß § 46 Abs. 2 des Sechsten Sozialgesetzbuchs (SGB VI), obwohl die Ehe mit dem Versicherten weniger als ein Jahr gedauert hat, da die Vermutung einer Versorgungsehe nach § 46 Abs. 2a SGB VI widerlegt ist.

Gemäß §§ 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. 242a Abs. 4 SGB VI haben Witwen, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tod des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, einen Anspruch auf eine große Witwenrente, wenn sie das 45. Lebensjahr vollendet haben. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, ohne dass es näherer Darlegungen hierzu bedarf. Das ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig.

Jedoch ist gemäß § 46 Abs. 2 a SGB VI, der für alle seit dem 1. Januar 2002 geschlossenen Ehen gilt (§ 242 a Abs. 3 SGB VI), der Anspruch auf Witwenrente ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.

Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten hat weniger als ein Jahr gedauert, nämlich vom 6. August 2007 bis zum 25. August 2007, so dass der Tatbestand des §§ 46 Abs. 2a Hs. 1 SGB VI erfüllt ist. Der Ausschluss des Anspruchs auf Witwenrente tritt jedoch dann nicht ein, wenn "besondere Umstände" vorliegen, aufgrund derer trotz der kurzen Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Dies ist dann der Fall, wenn eine Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder zumindest gleichwertig sind (Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 5. Mai 2009, B 13 R 55/08 R, zitiert nach juris, Rn. 21). Die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe sind in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG, a.a.O.).

Als besondere Umstände im Sinne des §§ 46 Abs. 2 a SGB VI sind alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls anzusehen, die auf einen von Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen; dabei kommt es auf die (ggf. voneinander abweichenden) Beweggründe beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten beispielsweise durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zu Eheschließung veranlasst hat (BSG, a.a.O., Rn. 20). Eine abschließende Typisierung oder Pauschalierung der von der Versorgungsabsicht verschiedenen besonderen Beweggründe im Rahmen des § 46 Abs. 2a SGB VI ist angesichts der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten nicht möglich. Die vom hinterbliebenen Ehegatten behaupteten inneren Umstände für die Heirat sind zudem nicht nur für sich – isoliert – zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der jeweiligen Eheschließung bestehenden äußeren Umstände in die Gesamtwürdigung, ob sie mit dem Ziel der Erlangung einer Hinterbliebenenversorgung geschlossen worden ist, mit einzubeziehen (BSG, a.a.O., Rn. 24).

Allerdings kommt dem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung eine gewichtige Bedeutung zu. Bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten ist in der Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI (Widerlegung der Versorgungsehe) nicht erfüllt. Dennoch ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde; allerdings müssen dann bei der abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war. Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Annahme einer Versorgungsehe bei einem Versterben des Versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden (BSG, a.a.O., Rn. 27).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Kammer unter Abwägung der inneren und äußeren Umstände des Einzelfalles zu dem Ergebnis gelangt, dass die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe im Sinne eines Vollbeweises widerlegt ist.

Zwar litt der Versicherte an einer objektiv lebensbedrohlichen Erkrankung, einem Lungenkarzinom. Den späteren Eheleuten war die Diagnose seit November 2006 bekannt. In der Bevölkerung ist aber allgemein im Bewusstsein, dass bei einer Krebserkrankung, selbst einer solchen, bei der die Überlebenschancen wesentlich höher sind als bei einem Lungenkarzinom, das Risiko eines alsbaldigen Ablebens besteht. Dies muss auch der Klägerin bewusst gewesen sein, auch wenn sie angibt, sie und ihr verstorbener Ehegatte hätten daran geglaubt, dass es noch Aussichten auf Heilung gibt und dass sie nicht ahnten, dass es so schnell gehen würde. Auch wenn viele Erkrankte und ihre Angehörigen auf die Hoffnung, geheilt werden zu können, setzen, bleibt trotz der Hoffnung regelmäßig im Bewusstsein der Betreffenden, dass die Erkrankung oftmals tödlich verläuft. Die Klägerin selbst hat angegeben, es sei damals für sie "schlimm gewesen". Dies ist gerade deshalb so gut nachvollziehbar, weil regelmäßig das Auftreten einer Krebserkrankung die Auseinandersetzung mit einem möglichen Ableben hervorruft. Eine Erkrankung, die nicht oder selten zum Tod führt, sondern vielmehr regelmäßig gut heilbar ist, führt dagegen regelmäßig nicht dazu, dass die Situation von den Betroffenen als "schlimm" empfunden wird. Die somit objektiv vorliegende Erkrankung ist daher, auch wenn die Klägerin und der Versicherte davon ausgingen, dass es –möglicherweise – noch Heilung gibt, zunächst ein Indiz, das für eine Versorgungsehe spricht. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil zum Zeitpunkt der Heirat der Allgemeinzustand des Versicherten wegen der Folgen der Sigmaperforation sehr schlecht war.

Aber auch trotz des von der Kammer hier angenommenen Bewusstseins, dass der Tod in absehbarer Zeit eintreten kann, liegen gewichtige Umstände vor, die gegen eine Versorgungsehe sprechen. Die Klägerin konnte die Kammer in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass sie und der Versicherte bereits seit längerer Zeit die Absicht hatten, den Bund der Ehe zu schließen und dies letztendlich über Jahre hinweg deshalb nicht verwirklicht werden konnte, weil der Versicherte in erster Ehe noch verheiratet war und daher ein objektiv bestehendes Ehehindernis vorlag. Das Verfahren der Ehescheidung von seiner ersten Ehefrau war bereits seit dem Jahr 2001 rechtshängig; die Rechtskraft des Scheidungsurteils trat im November 2006 ein. Nach der glaubhaften Aussage der Klägerin und aufgrund der Vorlage des Schreibens des damaligen Rechtsanwaltes des Versicherten wurde dies ihnen erst im Mai 2007 bekannt gegeben, einem Zeitpunkt, als die Krebserkrankung bereits aufgetreten und der Versicherte schwer erkrankt war. Insoweit war aufgrund des äußeren Umstandes, dass der Versicherte noch verheiratet war, die Eheschließung zu einem Zeitpunkt, als die tödliche Erkrankung noch nicht bekannt war, überhaupt nicht möglich. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass er das Scheidungsverfahren schon seit längerer Zeit anhängig war und die "späte Scheidung" nicht auf einen mangelnden Scheidungswillen des Versicherten zurückzuführen war. Wäre ein Scheidungsverfahren nicht anhängig gemacht worden, so hätte argumentiert werden können, dass es dem Versicherten gar nicht ernst damit war, seine neue Lebensgefährtin zu heiraten. Als die beiden dann im Mai 2007 von der Rechtskraft des Scheidungsurteils erfuhren und damit für sie die Möglichkeit bestand zu heiraten, ist es aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des Versicherten auch sehr gut nachvollziehbar, dass die lange bestehenden Absichten nicht unverzüglich verwirklicht wurden, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Das objektiv bestehende Ehehindernis ist aber ein so gewichtiger Umstand, der bei einer Gesamtabwägung aller äußeren und inneren Umstände den Umstand der Kenntnis der tödlichen Erkrankung des Versicherten zurücktreten lässt. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die beiden bereits seit dem Jahr 2003 zusammengelebt, ein gegenseitiges Testament errichtet, eine Patientenverfügung aufgesetzt sowie gegenseitige Bankvollmachten eingerichtet hatten. Auch konnte die Klägerin glaubhaft darlegen, dass zu dem Zeitpunkt, als noch ein Ehehindernis bestand und die tödliche Erkrankung noch nicht bekannt war, sie bereits Erkundigungen bzgl. einer möglichen Eheschließung eingeholt haben.

Insgesamt ergibt sich aus den genannten Umständen für die Kammer das Bild, dass mit der Eheschließung noch das vollzogen werden sollte, was die beiden schon seit langer Zeit beabsichtigt hatten und nicht die Ehe noch schnell geschlossen wurde, um eine Witwenversorgung zu begründen.

Da der Versicherte im Todesmonat eine Rente bezog, beginnt die große Witwenrente gemäß § 99 Abs. 2 S. 1 SGB VI mit dem Folgemonat, dem 1. September 2007

Die Kostenentscheidung beruht auf Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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