L 19 AS 1106/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AS 8241/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 1106/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 01. April 2012 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. September 2012 in Höhe von 299,20 Euro monatlich zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 346,72 Euro monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskosthilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit dem er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, ist zulässig, aber im Wesentlichen nicht begründet. Das Sozialgericht hat ihn grundsätzlich zu Recht verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 01. April 2012 bis zum 30. September 2012 zu zahlen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Handelt es sich - wie hier - um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen - ggf. vermindert auf das absolut erforderliche Minimum - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 - L 19 B 687/06 AS ER -, zitiert nach juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld 2 nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 01. April 2012 gegeben, denn der 1984 geborene, erwerbsfähige Antragsteller hat glaubhaft gemacht, seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern zu können (§§ 7, 8, 9 SGB II). Es ist zudem glaubhaft, dass der Antragsteller seit dem 31. März 2011 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch in der Bundesrepublik hat. Dass er sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits aus der am 31. März 2011 ausgestellten Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU), die bisher nicht von der Ausländerbehörde eingezogen worden ist. Eine Aufenthaltserlaubnis ist nicht mehr erforderlich (§ 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU).

Der Antragsteller ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 SGB II von den Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Er ist als spanischer Staatsangehöriger Ausländer, hält sich länger als drei Monate in der Bundesrepublik auf (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II) und ist nicht leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II). Der Antragsteller wird jedoch vom Wortlaut des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst, denn er ist zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist. Sein Aufenthaltsrecht beruht damit allein auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügigkeitsG/EU. Auf ein anderes Aufenthaltsrecht nach § 2 FreizügigkeitsG/EU, das den Leistungsausschluss bereits aus diesem Grund entfallen lassen würde, hat sich der Antragsteller nicht berufen. Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein anderes Aufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügigkeitsG/EU mit Ausnahme der Arbeitssuche in Nr. 1 2. Alt. der Vorschrift vorliegen könnte.

Der allein auf der Arbeitssuche beruhende Leistungsausschluss gilt jedoch nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA), zu denen u. a. die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Spanien zählen, das mit Wirkung zum 01. Dezember 1983 dem EFA beigetreten ist (vgl. Übersicht im Internet unter http://conventions.coe.int). Das EFA ist unmittelbar geltendes Bundesrecht, das weder von den Vorschriften des SGB II noch vom Recht der Europäischen Union verdrängt wird (so Bundessozialgericht (BSG) in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 21). Als Spanier kann sich der Antragsteller auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA berufen. Danach verpflichten sich die Vertragsschließenden, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebiets, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im Folgenden: Fürsorge) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebiets geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Bei den Regelleistungen nach § 20 SGB II handelt es sich auch um Fürsorge im Sinne dieser Vorschrift (vgl. BSG in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21).

Der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 für Leistungen nach dem SGB II erklärte Vorbehalt gemäß Art. 16 b) EFA gegen das EFA schließt den Antragsteller nicht wirksam vom Bezug von Grundsicherungsleistungen aus.

Zwar hatte die Bundesrepublik bereits zuvor einen Vorbehalt erklärt, der zum Ausschluss der Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten von den im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in §§ 30, 72 BSHG vorgesehenen Hilfen zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage und zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten geführt hatte. Allerdings hat sich der Vorbehalt nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG bezogen, so dass sich nicht die Frage stellt, ob der erste Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG mit Ablauf des 31. Dezember 2004 auf die Nachfolgegesetzgebung, also hier das SGB II, anzuwenden ist (vgl. BSG in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21). Der nunmehr zum 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt ist unwirksam, da er nicht den dafür normierten Voraussetzungen entspricht.

Nach Art. 2 Abs. 1 d) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) bedeutet Vorbehalt eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern. Aus der Verwendung des Wortes "bei" ergibt sich, dass der Vorbehalt dann abgegeben werden muss, wenn der Staat dem Vertrag beitritt. Dies wird in Art. 19 zur Anbringung von Vorbehalten noch einmal bekräftigt. Eine Regelung für einen nachträglichen Vorbehalt enthält die WVK nicht. Dagegen ist in Art. 16 b EFA als speziellerer Norm geregelt, dass jeder Vertragsschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen hat, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragsschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden machen. Diese Regelung setzt also voraus, dass gleichzeitig mit der Mitteilung neuer Rechtsvorschriften der Staat seinen Vorbehalt gegen die Anwendung dieser Rechtsvorschrift auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten erklärt. Zum 19. Dezember 2011 hat die Bundesrepublik den Vorbehalt hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II erklärt. Der Vorbehalt ist als Reaktion auf die Entscheidung des BSG vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - (in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21) zur Anwendbarkeit des EFA im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu verstehen. Das SGB II ist jedoch kein neues Gesetz, denn es ist bereits am 01. Januar 2005 in Kraft getreten, ohne dass ein Vorbehalt erklärt worden ist. Zwar könnte man die Auffassung vertreten, dass das Gesetz auch dann als neu zu bezeichnen ist, wenn es novelliert und neu verkündet wird (vgl. zum Streitstand: Matthias Reuß, Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestags, Sachstand: Zur Zulässigkeit von Vorbehalten zum Europäischen Fürsorgeabkommen - WD 2 - 3000 - 035/12 -). Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist aber mit wenigen redaktionellen Änderungen bereits zum 01. April 2006 (Gesetz vom 24. März 2006, BGBl. I, S. 558) in Kraft getreten, ohne dass gleichzeitig ein Vorbehalt erklärt worden ist. Letztlich werden bei der Anwendung und Auslegung geltenden Rechts durch ein Bundesgericht wie hier durch das BSG am 19. Oktober 2010 keine neuen Rechtvorschriften geschaffen. Der Senat weicht nicht von einer gegenteiligen Auffassung in den Beschlüssen des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 03. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER -, 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - und vom 05. März 2012 - L 29 AS 414/12 B ER -, zitiert nach juris, ab, denn die Ausführungen dort zum EFA gehören nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidungen, da die Antragsteller dieser Verfahren Staatsangehörige von Polen und Rumänien waren, die das EFA nicht ratifiziert haben.

Somit liegt ein wirksamer Vorbehalt nicht vor, die Vorschriften des EFA sind weiterhin anwendbar. Auf die Entscheidung der Frage, ob die Zulässigkeit des Vorbehalts an der fehlenden Ermächtigung durch ein Parlamentsgesetz scheitert (so Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 25. April 2012 - S 55 AS 9238/12 -, zitiert nach juris), kommt es damit nicht an.

Der Antragsteller kann also Grundsicherungsleistungen nach § 20 SGB II beanspruchen, allerdings nicht in der vom Sozialgericht tenorierten Höhe. Der Regelbedarf beträgt nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II ab dem 01. Januar 2012 374,- Euro monatlich. Zur Vermeidung der Vorwegnahme in der Hauptsache hält der Senat einen Abzug von 20% für angemessen, so dass sich der Regelbedarf auf 299,20 Euro monatlich reduziert. Insoweit war der Beschluss des Sozialgerichts abzuändern und der Beschwerde des Antragsgegners stattzugeben. Zudem war die Dauer der vorläufigen Leistungsbewilligung in Anlehnung an die Dauer eines sonst regelmäßigen sechsmonatigen Bewilligungszeitraums (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II) längstens auf den 30. September 2012 zu begrenzen und nicht, wie vom Sozialgericht formuliert, auf den rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Das teilweise Obsiegen des Antragsgegners ist so geringfügig, dass eine Quotelung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers nicht gerechtfertigt ist.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war abzulehnen, da der Antragsteller aufgrund der unanfechtbaren Entscheidung über die Kostenerstattung in der Lage ist, die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG). Mit ihm erledigt sich zugleich der Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG auf Aussetzen der Vollstreckung.
Rechtskraft
Aus
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