L 11 KR 1687/12 B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 1687/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eine Untätigkeitsbeschwerde nicht statthaft.
Die Untätigkeitsbeschwerde des Klägers wird als unzulässig verworfen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die am 01.04.2012 beim Sozialgericht Ulm (SG) erhobene Untätigkeitsbeschwerde bezüglich des dort noch anhängigen Verfahrens S 13 KR 3061/10 ist nicht statthaft und daher gemäß § 176, § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 572 Abs 2 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) als unzulässig zu verwerfen.

Gemäß § 172 Abs 1 SGG findet die Beschwerde an das Landessozialgericht (LSG) gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist. Voraussetzung ist demnach, dass eine Entscheidung des SG ergangen und durch Verkündung oder Zustellung mindestens an einen Beteiligten wirksam geworden ist. Eine solche beschwerdefähige Entscheidung des SG in dem Verfahren S 13 KR 3061/10 liegt bisher nicht vor, sodass die am 01.04.2012 beim SG erhobene Beschwerde des Klägers bereits deshalb unstatthaft ist.

Eine Untätigkeit des SG im Sinne eines Nichtentscheidens kann nicht Gegenstand einer Beschwerde nach § 172 Abs 1 SGG sein (vgl hierzu bereits Senatsbeschluss vom 20.4.2010, L 11 KR 1544/10 B mwN; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.09.2009, L 13 R 3984/09 B - mwN = JurBüro 2010, 45; Bayerisches LSG, Beschluss vom 24.02.2012, L 16 SB 282/11 B 0 juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.02.2012, II-8 WF 21/12 = juris; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012, § 172 Rdnr 2c - sowie ausführlich vor § 143 RdNr 3d ff; aA LSG Hessen, Beschluss vom 27.12.2011, L 8 KR 326/11 B = juris). Für die vom Kläger erhobene Untätigkeitsbeschwerde existiert keine gesetzliche Rechtsgrundlage. Sie kann auch nicht durch richterrechtliche Rechtsfortbildung entwickelt oder begründet werden, da es gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit verstößt, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (vgl BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 - = BVerfGE 107, 395; Beschluss vom 16.01.2007 - 1 BvR 2803/06 = NJW 2007, 2538; Beschluss vom 20.09.2007 - 1 BvR 775/07 = NJW 2800, 503; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 05.12.2006 - 10 B 68/06 = juris; Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 21.05.2007 - B 1 KR 4/07 S = SozR 4-1500 § 160 a Nr 17; Beschluss vom 06.02.2008 - B 6 KA 61/07 B = juris). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger insbesondere die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist. Deshalb geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) davon aus, dass eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Urteil vom 08.06.2006 - 75529/01 - = NJW 2006, 2389). Im Hinblick auf diese Entscheidungen verbleibt kein Raum dafür, zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ohne gesetzliche Grundlage durch Richterrecht eine Untätigkeitsbeschwerde zu schaffen, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken. Der erkennende Senat schließt sich insoweit nach eigener Prüfung der Rechtsprechung des BSG an (vgl BSG, Beschluss vom 21.05.2007 - B 1 KR 4/07 S - = SozR 4-1500 § 160 a Nr 17).

Die zum Teil in der Rechtsprechung vertretene gegenteilig Auffassung (vgl nur OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.03.2009 - I-23 W 99/08 = NJW 2009, 2388 mwN; LSG Hessen aaO), überzeugt insbesondere vor dem Hintergrund der Entscheidung des EGMR nicht. Demensprechend haben auch der Bundesfinanzhof (Beschluss vom 04.10.2005 - II S 10/05 = juris) und das BVerwG (Beschluss vom 05.12.2006 - 10 B 68/06 = juris) entschieden, dass es ein Rechtsinstitut der "verfassungsrechtlich gebotenen Untätigkeitsbeschwerde" nicht gibt. Gegeben ist unter den gesetzlichen Voraussetzungen ggfs die Verfassungsbeschwerde (§ 93 a Abs 2 Buchst b Bundesverfassungsgerichtsgesetz [BVerfGG]).

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich durch das am 03.12.2011 in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (BGBl I 2011, S 2302) nichts geändert hat. Dieses Gesetz sieht vor, dass Nachteile infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens angemessen entschädigt werden (vgl §§ 198 ff Gerichtsverfassungsgesetz [GVG]). Eine Voraussetzung für die Entschädigung ist die Erhebung einer Verzögerungsrüge während des Gerichtsverfahrens (§ 198 Abs 3 GVG). Einen (präventiven) Rechtsbehelf, mit dem in ein laufendes Gerichtsverfahren unmittelbar eingegriffen werden kann, wie es seit Jahren unter dem Stichwort "Untätigkeitsbeschwerde" diskutiert worden war, hat der Gesetzgeber nicht geschaffen. Denn die Verzögerungsrüge soll bei dem "mit der Sache befassten Gericht" und nicht bei dem Beschwerdegericht erhoben werden. Sie ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers geeignet, auf das Prozessgericht präventiv einzuwirken. Die mit einer Vorlage der Akten an das Rechtsmittelgericht zwangsläufig verbundene Verzögerung soll dagegen vermieden werden. Eine (von Teilen der Rechtsprechung angenommene) planwidrige Regelungslücke, die durch einen von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelf geschlossen werden könnte, besteht daher nicht mehr.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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