L 18 AS 1867/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 124 AS 15462/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1867/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juli 2012 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 13. Juni 2012 bis längstens 13. Dezember 2012 in einer Höhe von monatlich 195,- EUR verpflichtet hat. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Eingang der Beschwerdeerwiderung durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Soweit das Sozialgericht (SG) den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung verpflichtet hat, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund iS eines zur Vermeidung nicht mehr rückgängig zu machender Nachteile unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Der Antragsteller bewohnt trotz der von ihm vorgetragenen fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses weiterhin die im Rubrum bezeichnete Unterkunft, ohne dass derzeit eine Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit konkret zu besorgen wäre. Selbst im Falle einer Räumungsklage enthält § 22 Abs. 8 und 9 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) eine Regelung zur Sicherung der Unterkunft (vgl BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 -). Für eine "vorsorgliche" Regelungsanordnung besteht diesbezüglich keine gesetzliche Grundlage.

Im Übrigen ist die Beschwerde jedoch nicht begründet. Für die Zeit ab Antragseingang (13. Juni 2012) bis 13. Dezember 2012 bestand nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG eine vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung monatlicher Leistungen iH der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), dh in jedem Fall in der vom SG ausgeworfenen Höhe von 229,20 EUR monatlich (für Juni 2012 und Dezember 2012 jeweils anteilig), und zwar nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 verlautbarten Übergangsregelung (- 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11 -). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund einer verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris) im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht – wie bei dem die ungarische Staatsangehörigkeit besitzenden Antragsteller – (bislang jedenfalls nur) auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – (Urteil vom 04. Juni 2009 – C – 22/08 – juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl EuGH aaO). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung.

Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt.

Angesichts des Existenz sichernden Charakters der beanspruchten Regelleistungen wiegen die dem Antragsteller drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggfs nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge. Daher besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Senats eine Verpflichtung des Antragsgegners, – nur – das absolute Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Die insoweit entsprechend heranzuziehenden Grundleistungen nach dem AsylbLG belaufen sich nach der oben genannten Übergangsregelung des BVerfG auf 336,- EUR monatlich. Da das SG den Antragsgegner – entsprechend dem gestellten Rechtsschutzantrag - zur vorläufigen Zahlung von Leistungen iHv 299,20 EUR monatlich verpflichtet hat, konnte das Beschwerdegericht insoweit nur die Beschwerde zurückweisen, den Antragsgegner aber nicht zu höheren Leistungen verpflichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem – bedürftigen - Antragsteller war für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten zu bewilligen, weil der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses (vgl § 199 Abs. 2 SGG) hat sich durch die Entscheidung über die Beschwerde erledigt.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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