S 9 P 170/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 170/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Pflegeversicherung
I. Der Bescheid der Beklagten vom 01.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2011 wird abgeändert. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für August 2011 weiteres anteiliges Pflegegeld von 64,83 Euro zu bezahlen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des anteiligen Pflegegeldes für August 2011, insbesondere geht es um die Berechnungsmethode.

Bei dem 1975 geborenen Kläger sind die Voraussetzungen für Leistungen der Pflegestufe II seit 01.04.1995 festgestellt. Die Beklagte erbringt aktuell gegenüber dem Kläger, der in einem Internat untergebracht ist, Leistungen nach § 43a des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI); der Betrag dieser Aufwendungen beträgt monatlich 256 Euro. Daneben erhält der Kläger anteiliges Pflegegeld nach § 37 Abs. 1 SGB XI.

Zur Beklagten-Akte gelangte das Gemeinsame Rundschreiben (RS 2011/187) des GKV-Spitzenverbandes und der Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene zu den leistungsrechtlichen Vorschriften (Erscheinungsdatum 18.04.2011) das u.a. Ausführungen zu § 43a SGB XI enthielt. Für die "Kombination von ambulanten und stationären Leistungen nach § 43a SGB XI" war Folgendes ausgeführt:

"Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen (Internatsunterbringung), für die zur Abgeltung des Anspruchs auf Leistungen bei vollstationärer Pflege der Pauschbetrag nach § 43a SGB XI gezahlt wird, kann für die Zeit der Pflege im häuslichen Bereich (z.B. an Wochenenden oder in Ferienzeiten) die Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI für die tatsächlichen Pflegetage in der Familie zur Verfügung gestellt werden. In diesen Fällen wird der Betrag nach § 43a SGB XI auf den Sachleistungshöchstanspruch nach § 36 Abs. 3 SGB XI in der jeweiligen Pflegestufe angerechnet. ( ...)
In diesen Fällen kann für die Zeit der Pflege im häuslichen Bereich (z.B. an Wochenenden oder in Ferienzeiten) die Zahlung des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI für die tatsächlichen Pflegetage in der Familie in Betracht kommen. Dabei zählen der An- und Abreisetag (z.B. häusliche Pflege ab Freitagabend) als volle Tage. Für die Berechnung des Pflegegeldes ist der maßgebende Pflegegeldhöchstbetrag für die jeweilige Pflegestufe zu berücksichtigen. Bei der Ermittlung der Höhe der Geldleistung sind die Regelungen der Kombinationsleistung gemäß § 38 Satz 2 SGB XI anzuwenden ( ...). Folglich ist der im Rahmen der Leistung nach § 43a SGB XI in Anspruch genommene Sachleistungsanteil ins Verhältnis zum Sachleistungshöchstbetrag nach § 36 Abs. 3 und 4 SGB XI zu setzen. Die so ermittelte Quote ist für den Anteil der Geldleistung für den gesamten Monat maßgebend. Auf dieser Grundlage ist der für die Pflegestufe maßgebende Leistungsbetrag nach § 37 Abs. 1 SGB XI mit der Zahl der zu Hause verbrachten Pflegetage zu multiplizieren und durch 30 zu dividieren ( ...)."

Die Beklagte teilte gegenüber dem Kläger mit Bescheid vom 01.08.2011 mit, der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die Verbände der Pflegekassen hätten die leistungsrechtlichen Vorschriften aktualisiert. Dabei sei eine Anpassung des fiktiven Sachleistungshöchstanspruchs vorgenommen worden. Ab Juli 2011 werde das anteilige Pflegegeld nach der aktualisierten Fassung berechnet.

Mit Schreiben vom 13.09.2011 begehrte der Vater des Klägers anteiliges Pflegegeld für den 05.08.2011 bis 28.08.2011 (24 Tage Urlaub).

In der Folgezeit wurde dem Vater des Klägers der Bescheid der Beklagten vom 01.08.2011 erneut zugeleitet. Dagegen erhob der Vater des Klägers mit Schreiben vom 17.09.2011, das am 20.09.2011 bei der Beklagten einging, Widerspruch, auf dessen Begründung Bezug genommen wird.
Mit Schreiben vom 19.09.2011 teilte die Beklagte dem Vater des Klägers mit, für "07/2011 (neuer Modus)" errechne sich ein Pflegegeld in Höhe von 259,30 Euro. In der Folgezeit erläuterte die Beklagte der Klägerseite mit Schreiben vom 29.09.2011 ihre Rechtsauffassung; auf dieses Schreiben wird Bezug genommen.

Der Vater des Klägers teilte unter dem 04.10.2011 mit, er nehme seinen Widerspruch vom 17.09.2011 zurück, erhebe aber gleichzeitig Musterwiderspruch gegen die neue Berechnung des Pflegegeldes. Beigefügt war ein weiteres Schreiben vom 04.10.2011, wonach dem Kläger tägliches Pflegegeld von 14,33 Euro zustehe und somit ungekürztes Pflegegeld bis einschließlich des 22. Tages. Der Differenzbetrag zwischen 324,13 Euro (Höchstbetrag für 24 Tage Pflege im Urlaubsmonat) und gezahlten 259,30 Euro, also 64,83 Euro seien noch zu zahlen.

Die Beklagte reagierte mit weiterem Aufklärungsschreiben vom 07.10.2011.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.12.2011 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen; auf die Begründung wird Bezug genommen.

Dagegen hat der Vater des Klägers mit Schreiben vom 28.12.2011, das beim Sozialgericht Nürnberg am 29.12.2011 eingegangen ist, Klage erhoben.
Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten haben mit Schreiben vom 29.02.2012 Stellung genommen.
Der Vater des Klägers hat unter dem 10.05.2012 Stellung genommen und eine Pressemitteilung des Bundesverbandes für körper- und mehrfach behinderte Menschen (bvkm) vom Januar 2012 beigefügt.

In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten eine Vereinbarung geschlossen, dass hinsichtlich der Höhe des täglichen anteiligen Pflegegeldes für Zeiträume ab September 2011 der Ausgang des Rechtsstreits maßgeblich sein solle. Unter dem 13.06.2012 hat sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers angezeigt und einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 15.06.2012 dem Kläger Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt. Mit Telefax vom 15.06.2012 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Änderungsantrag 1 der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG -), BT-Drucksache 17/9369 vorgelegt; mit diesem Antrag soll klar gestellt werden: "Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen (§ 43a) haben Anspruch auf ungekürztes Pflegegeld anteilig für die Tage, an denen sie sich in häuslicher Pflege befinden."

Der Kläger beantragt,
- entsprechend dem Schreiben des Vaters des Klägers vom 04.10.2011- den Bescheid der Beklagten vom 01.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2011 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger anteiliges Pflegegeld für August 2011 in Höhe von weiteren 64,83 Euro zu zahlen,
hilfsweise die Berufung zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Berufung zuzulassen.

Das Sozialgericht hat die Beklagten-Akten beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichts- und Beklagten-Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 01.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2011 hält hinsichtlich des August 2011 einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand.
Dem Kläger steht für August 2011 das gemäß § 38 Satz 2 SGB XI anteilige Pflegegeld, vermindert um den Vom-Hundert-Satz, in dem er Sachleistungen in Anspruch genommen hat (24,62 %, errechnet aus 256,00 Euro von 1.040 Euro), zu (75,38 %); konkret ist dem Kläger für August 2011 ein anteiliges Pflegegeld von 324,13 Euro (75,38 % aus 430 Euro - Pflegegeld der Pflegestufe II in 2011) anstelle von 259,30 Euro zu zahlen.

Nicht streitig ist unter den Beteiligten, dass es sich bei den von der Beklagten erbrachten Leistungen nach § 43 a SGB XI um Sachleistungen handelt, monatlich für den Kläger 256 Euro (an die Einrichtung) bezahlt werden und der Kläger daher die nach § 36 Abs. 3 Nr. 2 b SGB XI vorgesehene Sachleistung von 1.040 Euro nur zu 24,62 % ausschöpft mit der Folge, dass ein maximaler Betrag von anteiligem Pflegegeld von 324,14 Euro gewährt werden kann; auch dies ist unter den Beteiligten nicht streitig.

Streitig ist, ob für die Berechnung des täglichen anteiligen Pflegegeldes zunächst der prozentual verminderte Anspruch auf Pflegegeld (324,14 Euro) von der Beklagten herangezogen werden muss mit der Folge, dass der tägliche Pflegegeldanspruch 10,80 Euro beträgt (324,14 Euro: 30) oder der Pflegegeldbetrag nach § 37 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b SGB XI von 430 Euro für die Berechnung des täglichen anteiligen Pflegegeldes (ungekürzt) zu Grunde zu legen ist und sich damit ein tägliches anteiliges Pflegegeld von 14,66 Euro (430,00 Euro: 30) ergibt, das jedoch auf monatlich 324,14 Euro begrenzt ist.

Die GKV-Spitzenverbände und die Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene vertreten die Auffassung, dass in der vorliegenden Fallgestaltung lediglich ein tägliches anteiliges Pflegegeld von 10,80 Euro zu zahlen ist. Diese Auffassung wird in dem Rundschreiben vom 18.04.2011 (RS 2011/187) als verbindlich vertreten und rechnerisch an Beispielen dargestellt, jedoch nicht näher begründet.

Die Kammer teilt die auf dem Rundschreiben der Spitzenverbände beruhende Auffassung der Beklagten zur Berechnung der Höhe des anteiligen Pflegegeldes nicht. Die Kammer folgt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 13.03.2001 - B 3 P 10/00 R-). Das BSG hat wörtlich ausgeführt (RNr. 29):
"Nach Sinn und Zweck ist bei der Berechnung des anteiligen Pflegegeldes die Regelung des § 38 Satz 2 SGB XI auf den Fall der Kombination von Pflege in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe und häuslicher Pflege entsprechend anzuwenden. Über den reinen Wortlaut hinaus erfasst § 38 Satz 2 SGB XI, wie auch die inhaltsgleiche Bestimmung des § 41 Abs. 3 SGB XI mit ihrer Verweisung auf § 38 Satz 2 SGB XI zeigt, jede Kombination von pflegerischer Sachleistung und Geldleistung, soweit die Sachleistung ( ...) die Möglichkeit häuslicher Pflege und damit den Bezug von Pflegegeld nicht von vornherein ausschließt. Die Anwendung des § 38 Satz 2 SGB XI ist hier auch von der Sache her zulässig und geboten, weil die Leistung nach § 43 a SGB XI eine ´Sachleistung´ der sozialen Pflegeversicherung darstellt."
Ferner hat das BSG (a.a.O.) ausgeführt (RNr. 31):
"Ergibt sich danach in der Pflegestufe III beispielsweise ein Erstattungsbetrag von monatlich 2.520 DM (500 DM Kostenbeteiligung am Heimentgelt, 2.020 DM Erstattung der Kosten des ambulanten Pflegedienstes), also von 90 v.H. von 2.800 DM, so steht für das anteilige Pflegegeld noch ein Betrag von 130 DM zur Verfügung, nämlich 10 v.H. von 1.300 DM (§ 38 SGB XI). Dabei beträgt das tägliche Pflegegeld nach § 37 Abs. 2 SGB XI 34,33 DM (1.300 DM: 30 Kalendertage)."
Das BSG hat darüber hinaus ferner ausgeführt (RNr. 31), es stehe dann Pflegegeld für jeden berücksichtigungsfähigen Tag "in Höhe von jeweils 43,33 DM zu, insgesamt aber begrenzt auf monatlich 130 DM".
Nach dieser Berechnungsmethode hat der Kläger Anspruch auf anteiliges Pflegegeld von täglich 14,33 Euro, begrenzt auf monatlich 324,13 Euro; nachdem ein Anspruch für 24 Tage unter den Beteiligten nicht streitig ist (24 x 14,33 Euro = 343,92), steht dem Kläger ein Betrag von 324,13 Euro für August 2011 zu. Für diese Auffassung spricht ferner, dass der Gesetzgeber - in Kenntnis der vorbezeichneten Rechtsprechung - durch Gesetz vom 14.12.2001 (BGBl. I, Seite 3728) dem § 43 a SGB XI zwar den Satz 3 angefügt hat ( "Wird für die Tage, an denen die pflegebedürftigen Behinderten zu Hause gepflegt und betreut werden, anteiliges Pflegegeld beansprucht, gelten die Tage der An- und Abreise als volle Tage der häuslichen Pflege"), Änderungen an der Berechnungsmethode des BSG aber nicht für angezeigt hielt.

Vor diesem Hintergrund und nach § 2 Abs. 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I), wonach bei der Auslegung von Vorschriften dieses Gesetzbuches und bei der Ausübung von Ermessen sicher zu stellen ist, "dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden" hält die Kammer die Berechnungsmethode des BSG für zutreffend mit der Folge, dass dem Kläger weitere 64,83 Euro für August 2011 zustehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Das Sozialgericht hat gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Berufung zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
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