S 19 SO 66/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 66/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 16.11.2010 in der Fassung des weiteren Bescheides vom 03.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2011 in der Fassung des weiteren Bescheides vom 29.06.2011 verurteilt, der Klägerin Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form der Übernahme der Kosten für ihre Unterbringung im Haus "B.O." in I.-L. unbefristet zu bewilligen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die unbefristete Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege.

Die am 00.00.0000 geborene, unter Betreuung stehende Klägerin leidet seit vielen Jahren an einer chronischen Alkoholabhängigkeit mit zahlreichen Folgeerkrankungen (u.a. beginnendes Korsakow-Syndrom, Polyneuropathie und cerebrale Ataxie). Sie bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Nachdem sie zunächst stationär in den H. Einrichtungen N. I. untergebracht war, wurde sie am 15.04.2010 im Pflegeheim "B.O.", I.-L., aufgenommen und beantragte die Übernahme der ungedeckten Heimkosten aus Sozialhilfemitteln. Der Beklagte, der seit dem 01.09.2009 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gewährt, wertete ein Gutachten den medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 09.04.2010 sowie einen Bericht der X.-Klinik ? Neurologie und Psychosomatik ? vom 08.03.2001 aus und zog ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten der H. Einrichtungen N. I. 25.07.2002 bei. Weiter wertete er einen Bericht der H. Einrichtungen vom 06.04.2010 aus. Am 23.08.2010 nahm der medizinisch-psychologische Fachdienst des Beigeladenen die Klägerin in der Pflegeeinrichtung B. N. in Augenschein und teilte dem Beklagten unter dem 02.09.2010 mit, die Klägerin bedürfe nicht Eingliederungshilfe, sondern Hilfe zur Pflege, weil der Hilfebedarf einen den Abbau und Verlust von Fähigkeiten verhindernden Charakter habe. Hierzu verwies er auf eine Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie T. vom 20.08.2010. Unter dem 23.08.2010 kam der medizinische Dienst des Beigeladenen zu dem Ergebnis, die Klägerin leide auch an einer psychischen Verhaltensstörung durch Alkohol, unter einem anamnestischen Syndrom sowie unter einem prolongierten Delir. Aufgrund der durch die Alkoholerkrankung und die hieraus resultierenden Folgen gegebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei eine Eingliederung nicht zu erwarten. Angesichts des komplexen Hilfebedarfs benötige sie vielmehr Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung. Nachdem das Gesundheitsamt des Beklagten unter dem 25.10.2010 zu dem Ergeb-nis gelangt war, eine dauerhafte Unterbringung der Klägerin in einer Pflegeeinrich-tung sei "weder sinnvoll, noch moralisch vertretbar", bewilligte der Beklagte ihr mit Bescheid vom 16.11.2010 befristet bis zum 31.12.2010 Hilfe zur Pflege. Zur Begrün-dung führte er aus, zunächst sei eine Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung erforderlich, um den körperlichen Zustand der Klägerin zu stabilisieren. Langfristig indessen entspreche eine Unterbringung im Pflegeheim nicht den Erfordernissen. Die Klägerin legte am 10.12.2010 Widerspruch ein. Anlässlich des zwischenzeitlich erhobenen Eilantrags der Klägerin (Az.: S 20 SO 154/10 ER) bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 03.01.2011 Hilfe zur Pflege "bis zur Entscheidung im Wider-spruchsverfahren". Mit Widerspruchsbescheid vom 13.04.2011 wies der Beigeladene den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich mittlerweile stabilisiert, so dass sie nunmehr Leistungen benötige, bei denen die soziale Integration im Vordergrund stehe.

Hiergegen richtet sich die am 17.05.2011 erhobene Klage.

Mit Bescheid vom 22.06.2011 gewährte die zuständige Pflegekasse der Klägerin Leistungen entsprechend der Pflegestufe I. Daraufhin hob der Beklagte mit Bescheid vom 29.06.2011 den Bescheid vom 03.01.2011 ab dem 28.06.2011 auf und gewährte der Klägerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren Hilfe zur Pflege. Zur Begründung führte er aus, die Befristung solle die gesetzlichen Voraussetzungen für die Weitergewährung der Leistungen sicherstellen.

Die Klägerin führt aus, ihre gesundheitliche Situation habe sich mittlerweile weiter verschlechtert, wie die Zuerkennung der Pflegestufe I zeige.

Die Klägerin beantragt zuletzt noch, den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 16.11.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbe-scheides vom 13.04.2011 in der Fassung des weiteren Bescheides vom 29.06.2011 zu verurteilen, ihr Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form der Übernahme der Kosten für ihre Unterbringung im Haus "B. O." in Herzogenrath-Kohlscheid unbefristet zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er hält an seine Auffassung fest und führt aus, die Klägerin leide auch an einer prämorbiden Intelligenzminderung, weshalb ihr Eingliederungshilfe für geistig Behinderte zu bewilligen sei. Im Übrigen stehe die Zuerkennung der Pflegestufe I Leistungen der Eingliederungshilfe nicht von vornherein entgegen.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Das Gericht hat ein weiteres Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 17.06.2011 beigezogen und Befundberichte der Fachärztin für Neurologie T. vom 11.04.2012 sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin J. vom 19.04.2012 eingeholt. Frau T. hat darin ausgeführt, aufgrund des Korsakow-Syndroms brauche die Klägerin weiterhin täglich Anleitung zum verrichten von Alltagsdingen wie Körperpflege und Anziehen von sauberer Kleidung. Es stünden somit pflegerische Aspekte deutlich im Vordergrund. Frau Dr. J. hat mitgeteilt, es sei eine vollstationäre Therapie indiziert. Der Beklagte ist den Befundberichten entgegen getreten und hat ausgeführt, offen-sichtlich nehme das Personal in der Pflegeeinrichtung therapeutische Aufgaben wahr, weil es anleitend und betreuend tätig werde. Anders sei es nicht zu erklären, dass die Klägerin Anleitung in Alltagsdingen erhalte.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die ge-wechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte trotz Abwesenheit eines Vertreters des Beklagten nach mündli-cher Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil der Beklagte im Rahmen der am 18.06.2012 zugestellten Terminsladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gegenstand des Klageverfahrens ist der Bescheid vom 16.11.2010 in der Fassung des weiteren Bescheides vom 03.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2011 in der Fassung des Bescheides vom 29.06.2011. Denn der Bescheid vom 29.06.2011 ist nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, weil er nach Erlass des Widerspruchs-bescheides ergangen ist und den angefochtenen Bescheid vom 16.11.2010 abgeändert hat.

Richtige Klageart ist eine reine Anfechtungsklage. Denn die Klägerin begehrt die Aufhebung der durch den Beklagten ausgesprochenen Befristung der Leistungen, mithin die Aufhebung einer (unselbständigen) Nebenbestimmung nach § 32 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ? Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdaten-schutz (SGB X). Mittlerweile entspricht es indessen gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass eine unselbständige Nebenbestimmung zu einem Verwal-tungsakt isoliert im Wege der Anfechtungsklage angreifbar ist (BSG, Urteil vom 30.01.2002 ? B 6 KA 20/01 R = BSGE 89, 134 ff; BSG, Urteil vom 05.02.2003 ? B 6 KA 22/02 R = juris; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, Anhang § 54 Rdnr. 18a m.w.N.).

Die Klage ist auch begründet. Bei der isolierten Anfechtung einer unselbständigen Nebenbestimmung ist zunächst zu prüfen, ob Haupt- und Nebenbestimmung teilbar sind. Für diesen Fall muss der begünstigende Verwaltungsakt, um die belastende Nebenbestimmung isoliert aufheben zu können, rechtmäßigerweise bestehen bleiben können. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die vom Beklagten ausgesprochene Befristung (in der zuletzt ausgesprochenen Form bis zum Abschluss des Hauptsacheverfah-rens) ist von der Hauptbestimmung der Bescheide vom 16.11.2010, 03.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2011 in der Fassung des wei-teren Bescheides vom 29.06.2011 trennbar. Auch kann die Hauptbestimmung ? Bewilligung von Leistungen zur Pflege in Form der Übernahme der ungedeckten Kosten der Unterbringung der Klägerin im Pflegeheim "B. O." ? rechtmäßigerweise bestehen bleiben.

Die vom Beklagten getroffene Befristung der angefochtenen Bescheide erweist sich als rechtswidrig, weil die Voraussetzungen von § 32 Abs. 1 SGB X nicht vorliegen. Die materiellen Anforderungen für die Zulässigkeit der von dem Beklagten ausge-sprochenen Befristung sind § 32 Abs. 1 SGB X zu entnehmen, weil es sich bei Hilfe zur Pflege gemäß §§ 61 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch ? Sozialhilfe (SGB XII) um Leistungen handelt, auf die bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ein Anspruch besteht (§ 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XIII " ist Hilfe zur Pflege leisten").

Die materiellen Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 SGB X liegen jedoch nicht vor. Denn die vom Beklagten ausgesprochene Befristung ist nicht durch Rechtsvorschrift zugelassen (§ 32 Abs. 1, 1. Alt. SGB X). Die ausgesprochene Befristung soll auch nicht sicherstellen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden (§ 32 Abs. 1, 2. Alt. SGB X). Nach dieser Variante wird zum Erlass des Verwaltungsaktes ermächtigt, obwohl noch nicht alle Tatbe-standsvoraussetzungen gegeben sind oder noch Unsicherheit über ihr Vorliegen besteht (näher Waschull, in: Diering/Timme/Waschull, SGB , 3. Aufl. 2011, § 32 Rdnr. 25). Im vorliegenden Fall indessen bestand keine Unsicherheit über das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Insbesondere das Merkmal der "Dauer" war im vorliegenden Fall gegeben. Denn wie der Zusatz "voraussichtlich für mindestens sechs Monate" zeigt, ist dieses Merkmal bereits dann erfüllt, wenn aufgrund einer Prognose eine Pflegebedürftigkeit von mindestens 6 Monaten zu erwarten ist. Hierüber aber können in der Person der Klägerin keine ernsthaften Zweifel bestehen. Denn sie war bereits seit dem 15.04.2010 im Pflegeheim untergebracht und der Beklagte hat Hilfe zur Pflege ab diesem Zeitpunkt bewilligt. Damit lag bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids die Voraussetzung "auf Dauer" im Sinne von § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII vor. Nach Auffassung der Kammer ist dem Wortlaut des § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII so-gar gerade zu entnehmen, dass eine Befristung von Hilfe zur Pflege ausscheiden muss. Denn handelt es sich per definitionem um Leistungen, die nur bei dauerhaftem Pflegebedarf zu gewähren sind, so würde Befugnis zu Befristung dieses Tatbestandsmerkmal konterkarieren. Es handelt sich bei Leistungen zur Pflege vielmehr ? umgekehrt ? um solche Leistungen, deren Eigenart gerade darin besteht, dass die materiellen Voraussetzungen sich in der Regel gerade nicht ständig verändern. Die Kammer sieht sich in ihrer Auslegung von § 61 Abs. 1 SGB XII darin bestätigt, dass in der Rechtsprechung bereits entschieden worden ist, dass Leistungen wie Pflegegeld nicht befristet werden dürfen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 03.11.2008 ? L 5 B 321/08 P = juris; Waschull, a.a.O., Rdnr. 11 a.E.). Es ist kein Grund ersichtlich, dass für Hilfe zur Pflege anderes gelten sollte, zumal sich der Inhalt der nach § 61 SGB XII zu gewährenden Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch ? Hilfe zur Pflege (SGB XI) bestimmt. Die Kammer weist abschließend darauf hin, dass es dem Beklagten unbenommen bleibt, bei einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in Gestalt eines Wegfalls der die Tatbestandsmerkmale des § 61 SGB XII ausfüllenden Umstände, eine Auf-hebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu verfügen. Indessen ist von einer solchen Änderung derzeit ? wie die Befundberichte der Fachärztin für Neurologie T. und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. J. zeigen ? nicht auszugehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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