S 12 AS 6845/10

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 12 AS 6845/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Interesse, daß nach allgemeiner Anschauung als so gering (im Streitfall: 1,07 Euro) anzusehen ist, daß es die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen nicht rechtfertigt, ist nicht schutzwürdig.

2. Ein Rechtsschutzbedürfnis kann zudem in Ansehung der Kosten zu verneinen sein, wenn die geltend gemachten Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.057,95 Euro die erzielten 1,07 Euro annähernd um das Tausendfache übersteigen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung von Rechts-anwalt M. wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf An-trag Prozeßkostenhilfe, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Verknüpfung der Gewährung von Prozeßkostenhilfe mit dem Erfordernis einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist verfassungs-rechtlich unbedenklich. Denn Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz verlangt keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittel-ten, sondern nur eine weitgehende Angleichung. Der Unbemittelte braucht nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozeßaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 1990, Az. 2 BvR 94/88, m.w.N.).

II.

Hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung sind zu bejahen, wenn die allgemei-nen Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen und ein etwaiger Erfolg in der Hauptsache als nicht nur entfernt möglich erscheint (KÜNZL/KOLLER, Prozeßkostenhilfe, 2. Aufl., S. 105). Zu den hiernach zu fordernden Sachurteilsvoraussetzungen oder sog. Rechtsschutzvoraussetzungen (vgl. die Nachweise bei SCHÖNKE, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1950, S. 18) zählt u.a. das Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn die mit der betreffenden Rechtsschutzhandlung verfolgten Interessen nach objektiven prozeßrechtlichen Werturteil des begehrten Rechtsschutzes fähig, bedürftig und würdig erscheinen (vgl. Reichsgericht, Urteil vom 21. April 1939, Az. VII 231/37; STEPHAN, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1967, S. 62, m.w.N.). Nicht schutzwürdig ist ein Interesse, dass nach allgemeiner Anschauung als so ge-ring anzusehen ist, daß es nicht die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtun-gen rechtfertigt (SCHÖNKE, S. 35; so bereits auch DEGENKOLB, Einlassungszwang und Urteils-norm, 1877, S. 175: "erhebliches" respektive "dringendes" Interesse).

1. Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann im vorliegenden Streitfall ein Rechtsschutzbedürf-nis nicht aufgezeigt werden. Denn für den streitgegenständlichen Zeitraum April 2010 bezo-gen die Kläger, die von der Beklagten als Bedarfsgemeinschaft angesprochen werden, Grund-sicherungsleistungen nach näherer Maßgabe des Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von ca. 421 Euro (Änderungsbescheid vom 11. März 2010). Im Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 1. September 2010) gewährte die Beklagte den Klägern weitere 1,07 Euro. Hiergegen erhoben die Kläger unter dem 30. September 2010 Klage zum Sozialge-richt Nordhausen und beantragten u.a. ’den Änderungsbescheid vom 11. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2010 insoweit abzuändern, daß den Klägern Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe bewilligt werden, die Kostenentscheidung des Widerspruchsverfahrens dahingehend abzuändern, daß der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Widerspruchsverfahrens auferlegt werden und auszusprechen, daß die Hinzuziehung des Prozeßbevollmächtigten notwendig war’. In der mündlichen Ver-handlung vom 11. Mai 2011 erklärten die Kläger in Ansehung der im Widerspruchsverfahren [sic!] nachgezahlten 1,07 Euro den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und ersuchten um gerichtliche Kostengrundentscheidung. Mit Beschluss vom 29. Juni 2011 hat das Gericht darauf erkannt, daß die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten haben. Mit Kostenrech-nung vom 3. August 2011 beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger, die im Rahmen der Prozeßkostenhilfe aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren und Auslagen für das Streitverfahren auf 1.057,95 Euro festzusetzen.

(a) Bei objektiver Sicht auf diese Verfahrenschronologie ist ein berechtigtes Interesse für die Klage nicht gegeben. Denn den, bereits im Widerspruchsverfahren erzielten, weiteren Sozial-leistungen in Höhe von 1,07 Euro ist kein erhebliches Gewicht eingeschrieben. Der Streitfall gibt dem Gericht keine Veranlassung, eine Bagatell-Obergrenze zu bestimmen; als taugliches Anknüpfungskriterium könnte aber beispielsweise § 1 Abs. 1 Satz 1 der Kleinbetragsverord-nung (KBV) vom 19. Dezember 2000, BGBl. I S. 1790 ff., herangezogen werden: Hiernach werden u.a. Festsetzungen der Einkommensteuer nur geändert oder berichtigt, wenn die Ab-weichung von der bisherigen Festsetzung mindestens zehn Euro beträgt. Das Gericht be-schränkt sich vorliegend auf die Feststellung, daß jedenfalls ein Betrag von lediglich 1,07 Euro als eine Bagatellstreitsache anzusprechen ist, für die gerichtlicher Rechtsschutz nicht zu erzielen ist.

(b) Darüber hinaus nimmt das Gericht auch die Kosten der Rechtsverfolgung in den Blick: Bereits mit Urteil vom 4. August 1955, Az. V 539/54, hat das Sozialgericht Düsseldorf ausge-sprochen, daß in Fallgestaltungen, in denen die Rechtsanwaltsgebühren ein Vielfaches des eingeklagten Anspruches betragen, die Frage der Verfolgung prozeßfremder Zwecke Raum greift. Dem folgend hat das Sozialgericht Düsseldorf darauf erkannt, daß bei einem Klagean-spruch in Höhe von 3,90 DM und Rechtsanwaltskosten in Höhe von 100 DM die Klage man-gels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist, weil in Ansehung der vielfachen Kosten gegen-über dem geltend gemachten Anspruch -hier eine ca. 25-fache Übersetzung-die allgemeine Auffassung die Inanspruchnahme der Sozialgerichte nicht billigt. Bei Zugrundelegung dieses Ansatzes ist im vorliegenden Streitfall zu konstatieren, daß die geltend gemachten Rechtsan-waltsgebühren in Höhe von 1.057,95 Euro die erzielten 1,07 Euro annähernd um das Tausendfache übersteigen.

(c) Des weiteren hält das Gericht im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2011, Az. 1 BvR 2493/10, dafür, daß in den besonderen persönlichen Verhält-nissen der Kläger kein strukturelles Ungleichgewicht hinsichtlich Kenntnisstand und Fähig-keiten gegenüber dem Träger der Grundsicherung begründet ist. Hierzu verweist das Gericht zum einen auf den, das Sozialverwaltungsverfahren prägenden, Amtsermittlungsgrundsatz in § 20 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und auf die Möglichkeit der Durchbre-chung der materiellen Bestandskraft und der Bindungswirkung auch bereits unanfechtbarer Bescheide nach näherer Maßgabe der §§ 44 bis 48 SGB X sowie auf die besondere Kläger-zentriertheit des sozialgerichtlichen Verfahrens (vgl. VON WULFFEN/BECKER, Die Sozialge-richtsbarkeit (SGb) 2004, S. 507 ff., 511, m.w.N.; Bundestagsdrucksache 16/7716, S. 12). Zum anderen nimmt das Gericht in den Blick, daß rechtlichen Kenntnissen und Fähigkeiten im Streitfall ersichtlich keine Relevanz beizumessen war, weil die angegriffene Verwaltungs-entscheidung evident rechtmäßig und die Klage mithin ohne Erfolg war (dazu sogleich unter Pkt. II. 2.).

All dem folgend war der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe in Ermangelung eines Rechtsschutzbedürfnisses abzuweisen.

2. Aber auch bei Hintanstellung der vorstehend aufgezeigten Einwände wäre der Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt Möbius abzulehnen, weil ein etwaiger Erfolg in der Hauptsache zu keinem Zeitpunkt aufgezeigt werden konnte:

(a) Denn in der mündlichen Verhandlung haben die Kläger erklärt, daß die Beklagte bereits mit den im Widerspruchsverfahren nachgezahlten 1,07 Euro ihrem Begehren entsprochen habe. Eines weitergehenden materiell-rechtlichen Anspruches haben die Kläger sich nicht berühmt; - auch wurde der Klageantrag in der Klageschrift vom 30. September 2010 nicht beziffert (vgl. zum Erfordernis eines bezifferten Klageantrages: Sozialgericht Berlin, Urteile vom 21. Januar 2009 und 6. Mai 2009, Az. S 55 AS 10608/07 und S 55 AS 9347/08; Sozial-gericht Nordhausen, Beschlüsse vom 13. Juni 2012 und 30. April 2012, Az. S 12 AS 8114/11 und S 12 AS 7819/11).

b) Auch der Klageantrag auf Revision des Kostentenors des Widerspruchsbescheides greift nicht durch, weil die Widerspruchsentscheidung die Kläger nicht in ihren geschützten Rech-ten verletzt. Denn in den Gründen des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2010 hat die Beklagte ausgeführt, daß die (weiteren) 1,07 Euro den Klägern nach näherer Maßgabe der Rundungsregelung in § 41 Abs. 2 SGB II zugewandt wurden. Indessen begründet § 41 Abs. 2 SGB II keinen eigenständigen Anspruch des Leistungsempfängers auf Auskehrung eines sich nach Aufrundung auf volle Euro-Beträge ergebenden Differenzbetrages. Denn der Sinn und Zweck der Regelung des § 41 Abs. 2 SGB II erschöpft sich in einer bloßen Verfahrensverein-fachung. Ein Eingriff aber in sog. Reflexrechte, das heißt in Rechtspositionen, die auf Nor-men beruhen, welche ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienen sollen und nur als Ne-benwirkung dem Individualinteresse zu Gute kommen, ohne daß die Norm dies beabsichtigt, kann der Klage nicht zum Erfolg verhelfen (Sozialgericht Nordhausen, Urteil vom 18. Mai 2011, Az. S 12 AS 2110/10 und Beschluss vom 29. Juni 2011, Az. S 12 AS 2675/10, m.w.N.; vgl. auch die Medieninformation des Bundessozialgerichts Nr. 18/12 zum Urteil vom 12. Juli 2012, Az. B 14 AS 35/12 R: Für einen Leistungsberechtigten, der mit seiner Klage aus-schließlich die Verletzung der Rundungsregelung in § 41 Abs. 2 SGB II geltend macht, besteht kein (allgemeines) Rechtsschutzbedürfnis. Eine Verletzung dieser aus der Rundungs-regelung resultierenden Beschwer ist auch für einen Bezieher von Grundsicherungsleistungen wirtschaftlich so geringfügig, daß sie die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtschutzes nicht rechtfertigt.).

c) Und auch dem Klageantrag, auszusprechen, daß die Hinzuziehung des Prozeßbevollmäch-tigten notwendig war, kann kein Erfolg beigelegt werden. Denn dieser Antrag hätte das Ge-richt bei einer streitigen Entscheidung veranlassen müssen, die Frage einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigung des Prozeßbevollmächtigten eingehender zu prüfen. Dies hätte, weil die ordnungsgemäße Bevollmächtigung eine tatbestandliche Voraussetzung der Notwendigkeit der Zuziehung des Bevollmächtigten darstellt, auch ohne Rüge der Beklagten erfolgen müs-sen. Ausgehend von der Bestimmung des § 63 Abs. 2 SGB X wäre zu prüfen gewesen, ob es die Kläger für erforderlich halten durften, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unter-stützt zu werden und dann einen Rechtsanwalt hinzugezogen haben (vgl. Bundesverwaltungs-gericht, Urteile vom 26. November 1985, Az. 8 C 115/83 und vom 14. Januar 1983, Az. 8 C 73/80; Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21. Juli 1977, Az. IV B 3/73; Bundessozialgericht, Urteil vom 15. Dezember 1987, Az. 6 RKa 21/87). Abzustellen wäre auf die Sicht eines ver-ständigen Beteiligten der bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Würde sich die Vertretung durch einen Bevollmächtigten als rechtswidrig oder rechtsmißbräuchlich -etwa bei Gebührenschinderei- erweisen, so wäre sie nicht notwendig (ROOS in VON WULF-FEN, Sozialgesetzbuch X, 7. Aufl., § 63 Rn. 27). Hieran gemessen müssen sich Zweifel an einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigung bereits nach Lage der Akten unmittelbar aus dem Widerspruchsschreiben der Kläger vom 29. März 2010 gegen den Änderungsbescheid vom 11. März 2010 aufdrängen. Denn eingangs des Widerspruches hat der Prozeßbevollmächtigte wie folgt ausgeführt: " wie Sie wissen und durch Vollmacht bereits nachgewiesen wurde, vertrete ich die Interessen von M., V., A. und I. K. anwaltlich. Diesbezüglich wird rein vor-sorglich darauf hingewiesen, dass sich die Bevollmächtigung weder auf einen bestimmten Leistungsabschnitt noch auf bestimmte Verfahren beschränkt, also auch zukünftige Bescheide betrifft. ". Eine derart unspezifizierte Vollmacht aber beanstandet das Gericht bereits aus Rechtsgründen. Denn das Gericht hält dafür, daß die Anforderungen an eine Vollmachtsertei-lung im Verwaltungsverfahren, § 13 SGB X, nicht wesensverschieden von den Anforderun-gen an eine Prozeßvollmacht, § 73 SGG, im gerichtlichen Verfahren sind. Eine Vollmacht des Inhalts " gilt für sämtliche Angelegenheiten gegenüber der Behörde bzw. den Gerichten in allen Verfahrensschritten/Instanzen. Die Vollmacht erstreckt sich auch auf zukünftige Bescheide und Verfahren " aber kann nicht mit der notwendigen Klarheit (vgl. Bundessozi-algericht, Urteil vom 15. August 1991, Az. 12 RK 39/90) einem konkreten Streitverfahren gegen die Beklagte zugeordnet werden. Eine solche individuelle Zuordnung aber ist geboten, weil den Bestimmungen der §§ 202 SGG in Verbindung mit § 81 Abs. 1 ZPO und § 73 Abs. 6 Satz 1 SGG respektive § 13 SGB X die eindeutige gesetzgeberische Wertung zu Grunde liegt, daß eine jedwede (Prozeß-)Vollmacht grundsätzlich nur ein (prozessuales) Streitverhältnis umfaßt. Daher gilt eine erteilte (Prozeß-)Vollmacht grundsätzlich nicht für formell neue Ver-fahren (VON METTENHEIM in Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 3. Aufl., § 81 Rn. 4). Auch können auf Grund einer (Einzel-)Vollmacht gegen den Gegner nicht beliebig viele Prozesse anhängig gemacht werden, sondern nur ein Verfahren (WIECZOREK, Zivilpro-zeßordnung, 2. Aufl., § 81 Rn. A II b). Ein Klageerfolg wäre daher auch in Ermangelung ei-ner ordnungsgemäßen Bevollmächtigung nicht zu erzielen gewesen.

All dem folgend wäre der Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe auch in Ermangelung hinreichender Erfolgsaussichten der Klage abzuweisen gewesen.
Rechtskraft
Aus
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