S 4 U 8/06

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 U 8/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Hat ein Versicherungsträger auch mehr als drei Monate nach Rechtskraft eines erstinstanzlichen Verpflichtungsurteils noch keinen Ausführungsbescheid hierzu erlassen, so ist der Begünstigte grundsätzlich berechtigt, die Vollstreckung gem. § 201 SGG einzuleiten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn lediglich mathematische (Renten-)Berechnungen durchzuführen sind.
Zur Vorbereitung des Ausführungsbescheides ist auch die Zeit eines Berufungsverfahrens zu nutzen; der Versicherungsträger kann eine verzögerte Erteilung des Ausführungsbescheides nicht damit rechtfertigen, trotz Unterliegens in erster Instanz bis zum Erlass des Berufungsurteils auf eine Klageabweisung vertraut zu haben.

2. Die Vollstreckung gem. § 201 SGG setzt nicht die Erteilung einer Vollstreckungsklausel und die Zustellung einer vollstreckbaren Ausfertigung voraus (im Anschluss an LSG Baden-Württemberg, Breith 1995, S. 806 ff.)

3. Durch die Vertretung eines Rechtsanwalts im Vollstreckungsverfahren gem. § 201 SGG entstehen Betragsrahmengebühren, wenn die Vollstreckungsgläubigerin zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört; einer Gegenstandswertfestsetzung bedarf es daher nicht.
1. Das Vollstreckungsverfahren wird eingestellt.

2. Die Antragsgegnerin hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das mit Schriftsatz vom 5. Juli 2012 beantragte Vollstreckungsverfahren zu erstatten.

3. Der Antrag auf Streitwertfestsetzung wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beteiligten streiten über die Kostentragungspflicht für ein Vollstreckungsverfahren nach § 201 SGG.

Mit Urteil des SG Fulda vom 28. Januar 2008 – S 8 U 8/06 (jetzt S 4 U 6/08) – wurde die Antragsgegnerin und Beklagte des zugrunde liegenden Klageverfahrens (im Folgenden nur: Antragsgegnerin) verurteilt, verschiedene Gesundheitsschäden als Folge einer bei dem Ehemann und Rechtsvorgänger der Antragstellerin sowie früheren Kläger anerkannten Berufskrankheit anzuerkennen sowie ihn "dafür nach einer MdE in Höhe von 50 v.H. seit November 2003 in gesetzlichem Umfang zu entschädigen".

Die hiergegen eingelegte Berufung der Antragsgegnerin wies das Hessische Landessozialgericht mit Urteil vom 21. Februar 2012 rechtskräftig zurück. Dieses Urteil wurde der Antragsgegnerin am 8. März 2012 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 12. April 2012 beantragte der Antragstellerbevollmächtigte die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils vom 28. Januar 2008 mit Rechtskraftzeugnis, die ihm am 18. Juni 2012 übersandt wurde.

Mit Schriftsatz vom 5. Juli 2012, bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen am 9. Juli 2012, beantragte die Antragstellerin, der Antragsgegnerin unter Setzung einer angemessenen Frist zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Urteil vom 28. Januar 2008 ein Zwangsgeld anzudrohen und nach vergeblichem Fristablauf festzusetzen.

Nachdem die Antragsgegnerin sodann unter dem 16. Juli 2012 den begehrten Ausführungsbescheid erlassen hatte, nahm die Antragstellerin den Vollstreckungsantrag zurück und beantragt nunmehr,
1. das Vollstreckungsverfahren durch Beschluss einzustellen,
2. der Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten des Vollstreckungsverfahrens aufzuerlegen sowie
3. den Gegenstandswert des Vollstreckungsverfahrens festzusetzen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Antrag auf Kostenerstattung zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, dass eine verzögerte Bearbeitung des Ausführungsbescheides nicht vorgelegen habe. Da sie bis zur Zustellung des Urteils des Hessischen Landessozialgericht vom 21. Februar 2012 davon ausgegangen sei, dass eine rentenberechtigende MdE nicht vorgelegen habe, sei auch die Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes des Rechtsvorgängers der Antragstellerin bis zu diesem Zeitpunkt unterblieben. Sodann sei hierzu eine Anfrage an die DRV Bund erforderlich gewesen, deren Antwort am 18. Juni 2012 eingegangen sei. Erst danach habe der Ausführungsbescheid erlassen werden können.

Hierzu hat die Antragstellerin erwidert, dass ein aus einem Urteil Verpflichteter stets das Verfahrenskostenrisiko trage, wenn er eine prozessuale Situation falsch einschätze. Daher gehe es zu Lasten der Antragsgegnerin, wenn sie die notwendigen Ermittlungen zur Ausführung des Urteils vom 28. Januar 2008 im Hinblick auf einen vermeintlichen Rechtsmittelerfolg unterlassen habe. Zudem sei noch nach Vorliegen der notwendigen Erkenntnisse ein weiterer Monat verstrichen, bevor sie den Ausführungsbescheid erlassen habe.

II.

1. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Dabei kann hier offen bleiben, ob § 102 Abs. 3 SGG auf Antragsverfahren und insbesondere das Vollstreckungsverfahren gem. § 201 SGG entsprechende Anwendung findet, so dass auf Antrag die Einstellung des Verfahrens auszusprechen und über die Kosten zu entscheiden ist. Da der formellen Einstellung auch insoweit ohnehin nur deklaratorische Bedeutung zukommt (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 102 Rn. 9), besteht für eine Einstellung im Beschlusstenor kein Hinderungsgrund. In jedem Fall aber wäre in entsprechender Anwendung § 193 SGG über die Kosten des Vollstreckungsverfahrens zu entscheiden.

Die Voraussetzungen der Vollstreckung lagen vor, insbesondere bildete das Urteil vom 28. Januar 2008 einen zur Vollstreckung geeigneten Titel gem. § 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Sein Tenor war zumindest durch Auslegung eindeutig dahin gehend zu bestimmen, dass der Antragstellerin ab 1. November 2003 eine Verletztenrente gem. § 56 SGB VII nach einer MdE von 50 % nachzuzahlen war. Die Höhe der Rente ließ sich auf der Basis der Vorschriften des § 56 Abs. 3, 84 SGB VII (bei Kenntnis des Jahresarbeitsverdienstes) ohne Weiteres berechnen.

Die Erteilung der Vollstreckungsklausel – obwohl hier erfolgt – sowie die Zustellung einer vollstreckbaren Ausfertigung war nicht erforderlich. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Auffassung des LSG Baden-Württemberg (Breith 1995, S. 806 [809 f.]) an, dass die entsprechenden Vorschriften der ZPO auf die Vollstreckung gem. § 201 SGG nicht anwendbar sind (i.E. ebenso A. Wettlaufer, Die Vollstreckung aus verwaltungs-, sozial- und finanzgerichtlichen Titeln zugunsten der öffentlichen Hand, 1989, S. 236 f.; a.A. ohne nähere Begründung Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 201 Rn. 3). Der mit der Klauselerteilung verfolgte Schutz insbesondere gegen mehrfache Vollstreckung (vgl. Zöller-Geimer/Stöber, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 724 Rn. 2) ist jedenfalls bei einer nicht qualifizierten Vollstreckungsklausel obsolet, da durch § 201 SGG das Gericht des ersten Rechtszuges als alleiniges Vollstreckungsorgan bestimmt wird, dem die Verfahrensakten vollständig vorliegen und das entsprechende Prüfungs- und Anhörungspflichten zu erfüllen hat.

Die Antragsgegnerin ist zudem der ihr auferlegten Verpflichtung nicht nachgekommen, da sie im Zeitpunkt der Anbringung des Vollstreckungsantrags den Bescheid, zu dessen Erlass die Antragsgegnerin durch das zu vollstreckende Urteil gem. § 131 SGG verpflichtet worden war, noch nicht erlassen hatte. Obwohl § 201 SGG – anders als etwa § 929 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 202 SGG für den Fall der Vollstreckung aus einer einstweiligen Anordnung (vgl. LSG Rhl.-Pf., info also 2011, S. 87 f.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 201 Rn. 2a) oder § 798 ZPO i.V.m. § 202 SGG für die Vollstreckung aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen – keine Frist für die Einleitung der Vollstreckung enthält, wird zutreffend angenommen, dass eine Vollstreckung nur bzw. erst dann zulässig ist, wenn eine Behörde die Verpflichtung aus einem Titel ausdrücklich verweigert, sie nur unzureichend umsetzt oder grundlos säumig bleibt (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, ebd. Rn. 3 m.w.Nw.).

Vorliegend ist die Antragsgegnerin grundlos säumig geblieben, nachdem mehr als vier Monate nach Zustellung des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts und somit mehr als drei Monate nach dessen Rechtskraft der Ausführungsbescheid noch nicht erlassen worden war. Dabei braucht hier nicht bestimmt zu werden, innerhalb welcher Frist ein Urteil umzusetzen ist. Dies hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und kann nicht abstrakt bemessen werden. Sind aber lediglich noch mathematische Berechnungen durchzuführen, ist ein Vollstreckungsgläubiger ohne Weiteres berechtigt, jedenfalls drei Monate nach Rechtskraft eines Urteils dessen Vollstreckung einzuleiten.

Soweit die Antragsgegnerin hierzu vorträgt, sie habe bis zum Erlass des Berufungsurteils keine Rente gezahlt und sei bis dahin auch davon ausgegangen, dass Mangels rentenberechtigender MdE keine Rente zur Auszahlung komme, so kann sie damit nicht durchdringen. Auch wenn infolge des Todes des früheren Klägers während des erstinstanzlichen Verfahrens Rentenansprüche nur für zurückliegende Zeiträume zu erfüllen waren und der Berufung somit gem. § 154 Abs. 2 SGG aufschiebende Wirkung zukam, musste die Antragsgegnerin doch aufgrund des Urteils des SG Fulda und der im Prozess durchgeführten Beweisaufnahme damit rechnen, wenn nicht gar davon ausgehen, Verletztenrente zahlen zu müssen. Daher kann sie sich zur Rechtfertigung einer drei- bis viermonatigen Säumnis nicht darauf berufen, erst nach Erlass des Berufungsurteils tätig geworden zu sein. Dies könnte anders zu beurteilen sein, wenn die Vollstreckung eines erstinstanzlichen Urteils in Rede steht, gegen das kein Rechtsmittel eingelegt worden ist, weil eine Behörde hier grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Entscheidung vertrauen darf. Ist jedoch gerichtlich ein Anspruch entgegen einer Behördenbeurteilung bejaht worden, so bildet die Gerichtsentscheidung den geltenden Sachstand ab und zerstört im Hinblick auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung ein etwaiges Vertrauen hierauf. Unterlässt sodann ein Versicherungsträger zur Umsetzung des Urteils weitere notwendige Ermittlungen während eines Rechtsmittelverfahrens, geht die damit verbundene Verzögerung im Hinblick auf die Vollstreckung zu seinen Lasten. Für den konkreten, hier vorliegenden Sachverhalt sind keine Umstände ersichtlich, die die Antragsgegnerin hätte abhalten können, unmittelbar nach dem 28. Januar 2008 die Auskünfte der DRV Bund über den Jahresarbeitsverdienst des früheren Klägers einzuholen und sich damit auf den Erlass des Ausführungsbescheides im Falle einer erfolglosen Berufung einzustellen.

2. Über die Kosten war im Rahmen des richterlichen Ermessens unter Berücksichtigung aller Umstände zu entscheiden (vgl. SG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 7.11.2008 – S 7 SO 71/09 – juris Rn. 27), was zugunsten der Antragstellerin ausfallen musste. Hierbei war zu berücksichtigen, dass der Antrag Erfolg gehabt hätte, wenn die Antragsgegnerin nicht zuvor durch Erlass des mit der Vollstreckung zu erzwingenden Bescheides die Erledigung des Vollstreckungsverfahrens herbeigeführt hätte.

Eine Streitwertfestsetzung ist nicht veranlasst. Soweit auch in Vollstreckungsverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs von § 197a SGG und bei Beteiligung einer gem. § 183 SGG privilegierten Antragstellerin eine solche vorgenommen wird, schließt sich die Kammer dem nicht an. Zunächst ist dazu festzuhalten, dass auch das Vollstreckungsverfahren gem. § 183 SGG gerichtskostenfrei ist, wenn – wie hier – ein Versicherter oder dessen Sonderrechtsnachfolgerin Beteiligte ist; insoweit werden auch hier keine Kosten nach dem GKG erhoben.

Auch für die Vergütung des Bevollmächtigten bedarf es nicht der Festsetzung eines Streitwerts, denn für die Vertretung in einem Vollstreckungsverfahren, an dem eine privilegierte Person beteiligt ist, entstehen Betragsrahmengebühren.

Dies ergibt sich zunächst aus § 3 RVG, wonach in (allen) Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Betragsrahmengebühren zur Anwendung kommen, in denen das Gerichtskostengesetz – wie hier – nicht anzuwenden ist. Zudem werden gem. dessen Satz 2 Gebühren auch in sonstigen Verfahren nur dann nach dem Gegenstandswert berechnet, wenn der Auftraggeber nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört, was hier aber der Fall ist (vgl. auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 201 Rn. 4).

Soweit in gerichtlichen Entscheidungen gleichwohl ein Streitwert für das Vollstreckungsverfahren bestimmt worden ist, kann dies nicht überzeugen. So verwechselt das LSG Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 27.9.2006 – L 10 B 752/06 AS ER , juris Rn. 4) die Frage, ob das Vollstreckungsverfahren eine "besondere Angelegenheit" gem. § 18 RVG darstellt, mit der Frage, welche Gebührenart dadurch ausgelöst wird. Die von dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zitierten Entscheidungen des LSG Baden-Württemberg (Breith, 1997, S. 732 ff.), des LSG Schleswig-Holstein (Beschl. v. 22.9.2003 L 6 SF 22/03 SG, juris) und des BSGE 101, 130 ff., betreffen hingegen Verfahren im Anwendungsbereich des § 197a SGG bzw. sind vor dessen Inkrafttreten ergangen.

Eine Streitwertfestsetzung wird auch nicht dadurch notwendig, dass Teil 3, Abschnitt 3, Unterabschnitt 3 des VV RVG keine Rahmengebühr für die Tätigkeit im Vollstreckungsverfahren enthält, sondern nur Wertgebührbestimmungen. Denn für diesen Fall bleibt es im Anwendungsbereich des § 3 RVG gem. Vorbemerkung 3.1 Abs. 1 VV RVG bei der Anwendbarkeit des 1. Abschnitts des 3. Teils, so dass die Gebühr durch den Bevollmächtigten aus dem Rahmen von Nr. 3102 VV RVG nach den Kriterien des § 14 RVG zu bestimmen ist.
Rechtskraft
Aus
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