S 4 R 284/12 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 284/12 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Liegen medizinische Gründe vor, kann der Träger der Rentenversicherung verpflichtet sein, bei einer bewilligten Kinder-Reha-Maßnahme die Kosten der Unterbringung für eine Begleitperson zu übernehmen.

Eine Begrenzung der Kostenübernahme auf schwerstbehinderte Kinder lässt sich den gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI für Kinderheilbehandlungen nicht entnehmen.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die Unterbringung der Mutter des Antragstellers in der Fachklinik P. L. für die Dauer der dem Antragsteller bewilligten Rehabilitationsmaßnahme vom 12.09.2012 bis 24.10.2012 zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Eilverfahren darüber, ob die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die Kosten für die Unterbringung der Mutter des Antragstellers im Rahmen der Durchführung einer vom 12.09. bis 24.10.2012 vorgesehenen Rehabilitationsmaßnahme in der Fachklinik P. L. übernehmen muss. Der Antragsteller ist 8 Jahre alt. Er leidet an Neurodermitis und psychosomatischen Störungen. Mit Bescheid vom 08.06.2012 bewilligte die Antragsgegnerin ihm eine stationäre Rehabilitation für die Dauer von 6 Wochen in der Fachklinik für Kinder und Jugendliche P. L. in Sch. In einem am 19.06.2012 bei der Antragsgegnerin eingegangenen Schreiben vom 18.06.2012 bat die Mutter des Antragstellers die Antragsgegnerin, den Bescheid vom 08.06.2012 zu erweitern, damit sie den Antragsteller als Begleitperson begleiten könne. Sie begründete dies damit, allein wäre für den Antragsteller die Reha nicht möglich. Es wäre mit weiteren symptomatischen Problemen zu rechnen. Mit Schreiben vom 28.06.2012 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, die Kosten für die Mitnahme eines Elternteiles würden von ihr nur bei Kindern im Vorschulalter übernommen. Bei Rehabilitationsleistungen älterer Kinder übernehme sie die Kosten einer Begleitperson nur, wenn je nach Lage und individuellen Verhältnissen im Einzelfall die Begleitung aus therapeutischen Gründen notwendig sei. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Deutschen Rentenversicherung Bund für die Durchführung von Kinder-Rehabilitationsleistungen qualifizierte Kliniken zur Verfügung stünden, in denen die medizinische Versorgung und Betreuung der Kinder sichergestellt seien. Die dringende Notwendigkeit, das Kind während der Rehabilitationsleistung durch ein Elternteil zu begleiten, könne sich daher nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, z.B. bei schwerstbehinderten Kindern, ergeben. Eine solche Schwerstbehinderung liege bei dem Antragsteller nicht vor. Aus allein psychosozialen Gründen könne eine Begleitperson nicht bewilligt werden.

Mit am 09.07.2012 bei der Antragsgegnerin eingegangenem Schreiben vom 23.07.2012 wies die Mutter des Antragstellers nochmals darauf hin, für ihren Sohn sei es unmöglich, alleine 6 Wochen zu einer Reha-Einrichtung zu fahren. Außerdem sei eine begleitende Elternschulung bei Neurodermitis-Kindern sehr wichtig. Hierzu bezog sie sich auf eine Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin JC.-W. vom 22.06.2012 und eine Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. B.-D. vom 25.06.2012. In ihrer Bescheinigung vertrat Frau JC.-W. die Auffassung, aus heutiger Sicht sei die Mutter als Begleitperson sicherlich erforderlich. Eine Maßnahme ohne die Mutter könne dem 8-Jährigen zurzeit nicht zugemutet werden, weitere psychosomatische Probleme wären zu befürchten. Dr. B.-D. führte aus, die geplante Reha-/Kurmaßnahme sollte aus kinderärztlicher Sicht in der Anwesenheit der Mutter als Begleitperson durchgeführt werden, da eine sehr enge Mutter-Kind-Bindung bestehe und der Kurerfolg ansonsten gefährdet werden könnte.

Die Antragsgegnerin wertete dieses Schreiben als Widerspruch gegen den Bescheid vom 28.06.2012. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.

Der Antragsteller hat durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin mit am 27.07.2012 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom 23.07.2012 eine Entscheidung des Sozialgerichts begehrt. Seine Mutter bezieht sich auf die vorgelegten ärztlichen Atteste und trägt zusätzlich vor, ihr Sohn leide derzeit unter der Situation, dass er womöglich alleine fahren müsse. Er schlafe sehr schlecht und die Trennungsängste seien dadurch verstärkt. Der Aufenthalt in der Klinik könne für ihren Sohn traumatisierend sein. Ihr Sohn schaffe es nicht, alleine in die Schule zu gehen, obwohl er bereits in der 3. Klasse sei, weil er starke Ängste habe, weswegen auch eine ambulante Psychotherapie begonnen worden sei. Die behandelnde Therapeutin habe empfohlen, im schlimmsten Fall die Reha-Maßnahme nicht anzutreten.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die Unterbringung seiner Mutter als Begleitperson in der Fachklinik P. L. für die Zeit der bewilligen Reha-Maßnahme vom 12.09. bis 24.10.2012 zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, der Antrag sei unbegründet und bezieht sich auf § 5 der gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI für Kinderheilbehandlung (KiHB-Richtlinien) vom 05.09.1991. Die dringende Notwendigkeit der Begleitung des Antragstellers durch seine Mutter könne sich nur in medizinisch besonders gelagerten Ausnahmefällen ergeben. Dies treffe nach erneuter ärztlicher Überprüfung nicht zu. Der Antragsteller sei rehabilitationsfähig. Sollte allerdings die psychische Erkrankung so gravierend sein, dass eine Rehabilitation ohne Dauerbegleitung nicht möglich sei, müsse die Rehabilitationsfähigkeit angezweifelt und die Aufhebung des Bewilligungsbescheides geprüft werden. Wegen der guten Betreuung der ausgewählten Klinik sei die Begleitung durch ein Elternteil nicht erforderlich. Für die An- und Abreise zum Rehabilitationsort würden die Kosten für eine Begleitperson von ihr übernommen. Dies ergebe sich aus den Hinweisen zum Bewilligungsbescheid. Im Übrigen sei es in einem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes ein allgemein anerkannter Grundsatz, dass die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweg genommen werden dürfe. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache liege vor, wenn das mit der einstweiligen Anordnung verfolgte Ziel identisch mit dem in der Hauptsache angestrebten sei und damit faktisch durch die Entscheidung im Verfahren auf die Gewährung von Rechtschutz zugleich auch die Entscheidung in der Hauptsache erfolge. Dies wäre vorliegend der Fall. Eine in diesem Verfahren positive Entscheidung würde ein Hauptsacheverfahren überflüssig machen.

Dem Gericht lag die Rehabilitationsakte der Antragsgegnerin vor.

II.

Das Gericht hat das Schreiben der Mutter des Antragstellers vom 23.07.2012 als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gewertet. Der Antragsteller begehrt eine Entscheidung des Gerichts, die deshalb eilbedürftig ist, weil die bewilligte Reha-Maßnahme unmittelbar bevorsteht.

Der Antrag ist zulässig.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h., die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (d.h., die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweg genommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gutzumachenden Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 mit weiteren Nachweisen).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Zusammenhang erfordert die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen, müssen also überwiegend wahrscheinlich sein. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung sind um so niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen, insbesondere auch mit Blick auf ihre Bedeutung für die Grundrechte des Antragstellers wiegen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, 1 BvR 1586/02). Dabei stellt Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz besondere Anforderungen an die Ausgestaltung eines Eilverfahrens. Die Gerichte müssen sich im Fall drohender schwerer oder unzumutbarer Nachteile schützend und fordernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Das gilt insbesondere dann, wenn es auch um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint und nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen es andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache beachten.

Bei der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Güter- und Folgenabwägung kommt das Gericht hier zu der Überzeugung, dass der Antragsteller einen Anspruch auf die Übernahme der Unterbringungskosten seiner Mutter während der Durchführung der bewilligten Rehabilitationsmaßnahme hat. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargetan. Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Reha-Maßnahme am 12.09.2012 beginnen soll und damit unmittelbar bevorsteht. Die Entscheidung ist daher eilbedürftig. Der Anordnungsanspruch folgt aus § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, Abs. 2 S. 2 SGB VI i.V.m. § 5 Abs. 2 der KiHB-Richtlinien. Nach § 5 Abs.2 der Zu § 31 SGB VI ergangenen KiBH-Richtlinien kann die Unterbringung der Begleitperson im Rahmen der Durchführung von Kinderheilbehandlungen zu Lasten der Rentenversicherung aus medizinischen Gründen erfolgen. Solche medizinischen Gründe liegen hier vor. Das Gericht bezieht sich insoweit auf die vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen der Fachärztin für Allgemeinmedizin JC.-W. und des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. B.-D. Aus beiden Bescheinigungen geht hervor, dass dem Antragsteller eine Maßnahme ohne die Mutter nicht zugemutet werden könne, da ansonsten der Kurerfolg gefährdet werden könnte. Das Gericht hat hier insbesondere der Stellungnahme des Dr. B.-D. ein besonderes Gewicht beigemessen, da dieser als Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin über besondere Sachkunde verfügt. In dem ablehnenden Bescheid vom 20.06.2012 hat die Antragsgegnerin sich mit diesen ärztlichen Stellungnahmen nicht auseinandergesetzt, sondern darauf verwiesen, eine Mitaufnahme eines Elternteils komme nur bei schwerstbehinderten Kindern in Betracht. Eine derartige Begrenzung nur auf schwerstbehinderte Kinder sehen die Richtlinien aber nicht vor, es reichen vielmehr medizinische Gründe aus. Entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin in dem Faxschreiben vom 22.08.2012 ist auch noch kein Widerspruchsbescheid ergangen, der hierzu Aussagen trifft, es liegt in der Reha-Akte nur der Entwurf eines Widerspruchsbescheides vor. Zwar räumt § 5 Abs. 2 der Richtlinien der Antragsteller insoweit ein Ermessen ein, eine Ermessensausübung, die die Unterbringung einer Begleitperson nur für schwerstbehinderte Kinder vorsieht, ist nach der Auffassung der Kammer aber fehlerhaft. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob eine Begleitperson notwendig ist, um den Erfolg einer Reha-Maßnahme sicherzustellen. Da der Erfolg der Reha-Maßnahme ohne Begleitung durch die Mutter des Antragstellers hier aber in Frage steht, wie sich aus den ärztlichen Bescheinigungen ergibt, ist eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben. Nur die Übernahme der Unterbringungskosten für eine Begleitperson steht nach Auffassung des Gerichts mit dem in § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI genannten gesetzlichen Ziel, durch eine stationäre Heilbehandlung eine Beeinträchtigung der Gesundheit wesentlich zu bessern oder wiederherzustellen, im Einklang. Auch der Einwand der Antragsgegnerin, die für stationäre Rehabilitationsleistungen von Kindern zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel seien begrenzt, ist nicht geeignet, die ablehnende Entscheidung zu begründen. Es ist von der Antragsgegnerin nicht dargetan, dass die für stationäre Leistungen aufzuwendenden Mittel 7,5 v.H. der Haushaltsansätze für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die ergänzenden Leistungen übersteigen. Nur für diesen Fall enthält § 31 Abs. 3 SGB VI aber eine Einschränkung.

Schließlich steht der begehrten Anordnung nicht das sogenannte Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Zwar ist es richtig, dass regelmäßig durch eine einstweilige Anordnung unter Ausnutzung der erleichterten Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht das Ergebnis eines eventuellen Hauptsacheverfahrens vorweg genommen werden darf. Denn sonst würden die Antragsteller das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Umgehung eines Hauptsacheverfahrens nutzen können, zumal häufig eine Rückabwicklung der Leistungen sich später wirtschaftlich als wenig erfolgversprechend darstellt. Andererseits ist ausnahmsweise dann eine Ausnahme von diesem Verbot geboten, wenn ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit für den Erfolg des Begehrens in der Hauptsache besteht und sonst durch den Zeitablauf für den Antragsteller schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die später nicht oder nur schwerlich wieder gut gemacht werden könnten.

Hiervon ausgehend ist das Gericht im vorliegenden Fall der Ansicht, dass eine derartige Ausnahmesituation gegeben ist. Eine Entscheidung in der Hauptsache wäre vor Antritt der Reha-Maßnahme am 12.09.2012 nicht mehr möglich, zumal noch kein Widerspruchsbescheid ergangen ist. Die Gesundheit des Antragstellers ist nachhaltig gefährdet, wenn er die Reha-Maßnahme nicht antreten würde. Es bestünde sogar die Gefahr einer weiteren Schädigung der Gesundheit. Ein Abwarten bis zu einer Hauptsacheentscheidung ist damit für den Antragsteller nicht zumutbar. Dass die Antragsgegnerin mittlerweile die Rehabilitationsfähigkeit des Antragstellers anzweifelt, steht in Widerspruch zu ihren eigenen Feststellungen. Das Gericht misst dieser Argumentation daher keine Bedeutung zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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