L 11 U 416/12 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 38 SF 123/12 AB
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 U 416/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 25.05.2012 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Mit Schriftsatz vom 11.11.2010 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage mit dem Ziel erhoben, Hinterbliebenenleistungen infolge einer Berufskrankheit ihres verstorbenen Ehemannes zu erhalten. Unter dem 21.01.2011 wies der Kammervorsitzende u.a. daraufhin, dass der Sachverhalt ausreichend geklärt erscheine und es nicht beabsichtigt sei, von Amts wegen ein Gutachten nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einzuholen. Auf den hierauf gestellten Antrag, Prof. Dr. X zum Sachverständigen zu ernennen, erging nach § 109 SGG die Beweisanordnung vom 28.03.2011. Das Gutachten ging dem SG am 13.12.2011 zu. Der Sachverständige kam zum Ergebnis, dass bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin keine Berufskrankheit im Sinne der Nr. 4104 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) vorlag. Die Klägerin erklärte auf Befragen, die Klage aufrecht zu erhalten und regte an, ein pathologisches Gutachten nach § 106 SGG einzuholen. Hierauf teilte der abgelehnte Richter mit, dass dies nicht beabsichtigt sei (Verfügung vom 12.01.2012). Unter dem 13.02.2012 verfügte er ferner:

"In pp. wird rein vorsorglich darauf hingewiesen, dass mit der Auferlegung vom Kosten gemäß § 192 SGG gerechnet werden muss. Die Sache hat keine Aussicht auf Erfolg, nachdem das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten nicht im Sinne der Klägerin ausgefallen ist."

Die Klägerin merkte an, die Suche nach einem Primärtumor in der Lunge können nicht mit Kosten bestraft werden; sie beantrage ein Gutachten nach § 106 SGG von Prof. Dr. N einzuholen (Schreiben vom 14.03.2012). Ebenfalls unter 14.03.2012 wies der abgelehnte Richter die Beteiligten darauf hin, dass beabsichtigt sei, gemäß § 105 SGG zu entscheiden. Hierauf entgegnete die Klägerin (Schriftsatz vom 05.04.2012):

"In dem Rechtsstreit wird der Hinweis auf § 192 SGG bei diesem unklaren Fall als nicht gehörig angesehen. Es kann nicht sein, dass es Richterpraxis wird quasi aufgrund eines Kartells, dass bei negativem Ausgang eines 109-er Gutachtens Mutwillenskosten angedroht werden, obwohl noch eine zweite Tatsacheninstanz hier offen steht. Für den Fall, dass der Hinweis nach § 192 SGG aufrecht erhalten bleibt, wird der Richter L wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Grund ist die Befürchtung, dass hier eine wertfreie Entscheidung nicht mehr zu erwarten steht. Dem richterlichen Kartell wie bezeichnet wird entschieden widersprochen. Es kommt auf den Einzelfall an und nicht auf eine Verfahrenskonstellation, wie dies gleichwohl praktiziert wird von der Sozialgerichtsbarkeit. Die zweite Instanz, die angestrebt ist, darf auch nicht negativ vom Vorderrichter der ersten Instanz vorweggenommen werden. Überdies ist der Beweisantrag zur Abklärung der Situierung des Primärtumor durch pathologisches Sachverständigengutachten vom Prof. N nach § 106 SGG noch offen."

Unter Berücksichtigung einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters lehnte das SG Köln den Antrag mit Beschluss vom 25.05.2012 ab. Objektive Gründe, die bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass zu Zweifeln an seiner Unvoreingenommenheit geben könnten, lägen nicht vor. Die Androhung von Missbrauchskosten sei nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Die Aussichtslosigkeit des fortgeführten Klageverfahrens sei für die Klägerin durch den mit Verfügung vom 13.02.2012 erteilten richterlichen Hinweis klar ersichtlich. Der abgelehnte Richter habe beabsichtigt, Missbrauchskosten aufzuerlegen. Er sei der ihm auferlegten Verpflichtung, dies zuvor anzudrohen und die Missbräuchlichkeit einschließlich Kostenfolge darzulegen, nachgekommen. Hierin einen Befangenheitsgrund zu erkennen, würde die Hinweispflicht sowie die Kostenauferlegungsmöglichkeit nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ad absurdum führen und den beabsichtigten Gesetzeszweck - Schutz und der überlasteten Gerichte vor unnötigen Entscheidungen bzw. Entlastung der Gerichte - konterkarieren. In dem Hinweis einen Befangenheitsgrund zu sehen, erscheine allenfalls dann denkbar, wenn der Richter damit den Anschein erwecke, ungeachtet jeglichen weiteren Vorbringens der Beteiligten die Entscheidung herbeiführen zu wollen. Solches sei jedenfalls für einen anwaltlich vertretenen Beteiligten aus dem Hinweis nicht zu entnehmen.

Diese Entscheidung greift die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten mit der Beschwerde an. Es sei skandalös, die Auferlegung von Mutwillenskosten anzudrohen, obwohl der Fall pathologisch noch nicht ausermittelt sei. Auf den Beweisantrag werde hingewiesen.

II.

Die Beschwerde ist statthaft und im Übrigen zulässig (nachfolgend 1.), sie ist indes unbegründet (nachfolgend 2.).

1. Die Beschwerde ist entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung des SG statthaft.

a) Durch Art. 8 Ziffer 4b) i. V. m. Art. 23 des Vierten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches des Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011 (4. Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze) ist § 60 Abs. 1 Satz 2 SGG ("Über die Ablehnung entscheidet außer im Falle des § 171 das Landessozialgericht durch Beschluss.") mit Wirkung zum 01.01.2012 aufgehoben worden (BGBI I 3057). Seither ist das SG funktionell zuständig, über Befangenheitsanträge gegen Richter/innen erster Instanz zu entscheiden. Ob und inwieweit diese Entscheidung mit der Beschwerde angegriffen werden kann, ist dem Gesetz nicht mit der gebotenen Deutlichkeit zu entnehmen.

b) Die Statthaftigkeit der Beschwerde ergibt sich im Einzelnen wie folgt:

aa) Nach § 46 Abs. 2 ZPO findet gegen einen Beschluss, durch den das Befangenheitsgesuch für begründet erklärt wird, kein Rechtsmittel und gegen den Beschluss, durch den das Gesuch für unbegründet erklärt wird, die sofortige Beschwerde statt (hierzu § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Infolge von Art. 8 Nr. 4 Ziff. a) des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze wurden in § 60 Abs. 1 SGG die Wörter "§§ 41 bis 44, 45 Abs. 2 Satz, §§ 47 bis 49" durch die Angabe "§§ 41 bis 49" ersetzt. Nunmehr lautet § 60 Abs. 1 SGG: "Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 49 der Zivilprozessordnung entsprechend." Demzufolge ist § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO nach dem eindeutigen Wortlaut in Bezug genommen und die Beschwerde unter den genannten Voraussetzungen statthaft.

Gegenläufig bestimmt allerdings § 172 Abs. 2 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.03.2008 (BGBl. I 444), dass u. a. Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können. In diesem Zusammenhang heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 4. Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze (BR-Drs. 315/11, S. 40; BT-Drs. 17/6764, S. 27): Da § 46 Zivilprozessordnung (ZPO) für entsprechend anwendbar erklärt wird, ist die bisher in Satz 2 enthaltene Regelung entbehrlich. § 172 Absatz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geht als speziellere Norm dem § 46 Absatz 2 ZPO vor, so dass weiterhin Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können.

Dies zugrunde gelegt hat der Gesetzgeber einerseits eine eindeutige Regelung getroffen, nämlich Statthaftigkeit der Beschwerde (§ 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO), andererseits steht dem § 172 Abs. 2 SGG mit dem darin formulierten Beschwerdeausschluss entgegen. Die Gesetzesbegründung (s. soeben) favorisiert § 172 Abs. 2 SGG auf der Grundlage insoweit unterstellter Gesetzesspezialität. Ob und inwieweit dies zutrifft, ist zu prüfen.

Der Senat verkennt nicht, dass die Verfasser des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze (wohl) die Beschwerdemöglichkeit gegen Beschlüsse, mit denen ein Befangenheitsantrag gegen Richter abgelehnt wird, abschaffen wollten. Indes vermag er sich nicht die Überzeugung davon zu verschaffen, dass diese Absicht in hinreichender Weise in der Neuregelung zum Ausdruck gekommen ist. Hierzu lässt sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten:

Die Meinungsäußerung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane bzw. von Mitgliedern dieser Organe ist zur Kenntnis zu nehmen, sie ist indes für die Auslegung der maßgebenden Vorschriften von nachrangiger Bedeutung. Motive, die in Gesetzentwürfen zum Ausdruck kommen und die in der Regel in Ministerien formuliert werden, können nicht kurzerhand jenen Personen untergeschoben werden, die den Gesetzbeschluss gefasst haben (Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, 2006, S. 24). Es kommt ferner nicht darauf an, was der Gesetzgeber regeln wollte oder meint, geregelt zu haben, sondern auf den durch das Gericht im Wege der Auslegung zu ermittelnden Inhalt des Gesetzes selbst, den "objektivierten Willen des Gesetzgebers", in dessen Bestimmung die Motive des Gesetzgebers allenfalls sekundär einfließen können (hierzu Zippelius, a.a.O., S. 21 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Auflage, 2005, S. 113 ff., 152 f.; vgl. auch Bundesfinanzhof (BFH), Urteil vom 23.09.1999 - IV R 56/98 - ; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 20.02.1964 - 8 RV 649/62 -; Senat, Beschlüsse vom 04.05.2011 - L 11 KA 120/10 B ER - und 17.06.2009 - L 11 B 6/09 KA ER -).

Enthält sich der Gesetzgeber - wie hier - einer eindeutigen Entscheidung, ist die Normenkonkurrenz durch die Gerichte aufzulösen (vgl. auch Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 03.04.1990 - 1 BvR 1186/89 -). Hat der Gesetzgeber allerdings eine eindeutige Entscheidung (etwa pro oder contra Statthaftigkeit der Beschwerde) getroffen, darf ein Gericht dies nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch judikative Lösungen ersetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05, 2 BvR 136/05 -). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers (auch) unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.11.1997 - 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 - und 26.06.1991 - 1 BvR 779/85 -). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 16.02.2012 - 1 BvR 127/10 - und 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05, 2 BvR 136/05 -).

bb) Die Normenkonkurrenz ist nach Maßgabe vorgenannter Kriterien im Wege der Auslegung aufzulösen.

(1) Eine Auslegung nach Maßgabe des jeweiligen Wortlauts führt nicht weiter. Zwar erklärt § 60 Abs. 1 SGG die §§ 41 bis 49 ZPO nur für entsprechend anwendbar. Die Sinngehalt der "entsprechenden Anwendbarkeit" erschließt sich daraus, dass die §§ 41 bis 49 ZPO auf das zivilprozessuale Verfahren zugeschnitten sind (z.B. Parteien statt Beteiligte, sofortige Beschwerde statt Beschwerde), folglich ohnehin nicht unmittelbar angewandt werden können. Die bezogenen Vorschriften sind daher nur maßgebend, soweit nicht grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten dem entgegenstehen (zu § 202 SGG: vgl. Straßfeld in Jansen, SGG, 3. Auflage, 2009, § 202 Rdnr. 1; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, 2012, § 202 Rdnr. 3). Ausgeschlossen ist damit das in § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO vorgesehene Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde (hierzu § 567 Abs. 1 ZPO). Hieraus lässt sich indes nicht herleiten, dass § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO nicht anzuwenden ist. Der Gesetzgeber hat das Gegenteil bestimmt. Er hat auch diese Norm in Bezug genommen und sie damit in das SGG-Verfahren einbezogen. Sie kann damit nicht gesetzwidrig hinweg interpretiert werden. Dies gilt umso mehr, als das im Gesetzgebungsverfahren federführende Bundesministerium mehrfach auf die ungelöste Normenkonkurrenz hingewiesen worden ist (s. unten) und dennoch keinen Anlass gesehen hat, die schon im Referentenentwurf (März 2011) vorgesehene Bezugnahme des § 60 Abs. 1 SGG auf §§ 41 bis §§ 49 ZPO in eine solche auf §§ 41 bis 45, 46 Abs. 1 und Abs. 2 Halbs. 1, 47 bis 49 ZPO zu ändern. Die vom Gesetzgeber angeordnete "entsprechende Anwendung" bedeutet sonach nur, dass statt der sofortigen Beschwerde (§ 567 Abs. 1 ZPO) der im SGG vorgesehene, vergleichbare Rechtsbehelf zum Zuge kommt; das ist die "einfache" Beschwerde nach § 172 Abs. 1 SGG.

(2) Die Gesetzesbegründung meint, infolge Spezialität verdränge § 172 Abs. 2 SGG die gegenläufige Regelung des § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO. Das trifft nicht zu. Die sich inhaltlich widersprechenden Regelungen des § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO einerseits und § 172 Abs. 2 SGG andererseits begründen einen der systematischen Interpretation zuzuordnenden Normenkonflikt, denn auf ein und denselben Sachverhalt erscheinen - isoliert betrachtet - mehrere gesetzliche Tatbestände anwendbar. In derartigen Fällen der Gesetzeskonkurrenz kann eine der Normen einen weiteren (generellen) Anwendungsbereich haben als die konkurrierende speziellere Norm. Gemeinhin wird dann das Prinzip "lex specialis derogat legi generali" vertreten. Dies könnte auf einen Vorrang des § 172 Abs. 2 SGG hindeuten (so die Gesetzesbegründung a. a. O.). Das ist indessen nicht der Fall. Die Anwendung vorgenannter Regel setzt ein Spezialitätsverhältnis voraus. Spezialität läge vor, wenn alle Sachverhalte, die unter § 172 Abs. 2 SGG subsumiert werden können, gleichzeitig auch § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO zurechenbar sind, nicht aber umgekehrt (vgl. auch Senat, Beschluss vom 14.06.2010 - L 11 KR 199/10 KL - m. w. N.). Tatsächlich sind die Normen im Tatbestand deckungsgleich (negativer Beschluss des SG über ein Befangenheitsgesuch), weichen indes (nur) in der angeordneten Rechtsfolge diametral voneinander ab. Damit geht es entgegen der Gesetzesbegründung nicht um die Frage der Spezialität im Sinne vom "lex specialis derogat legi generali" mit der Folge, dass die Gesetzesbegründung nicht trägt.

Grundsätzlich gilt im Bereich der systematischen Auslegung, dass eine Norm im Zweifel so zu interpretieren ist, dass die konkurrierende Norm nicht obsolet wird (Kramer, a. a. O., S. 94). Ausgehend hiervon hat der Gesetzgeber mit der Bezugnahme des § 60 Abs. 1 SGG auf § 42 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO bewusst und zielgerichtet die Beschwerdemöglichkeit eröffnet. Dem die Grundlage dadurch zu entziehen, dass mittels der Gesetzesbegründung der fragwürdigen Regelung (s. unten unter (c) (aa)) des § 172 Abs. 2 SGG verdrängende Wirkung beigemessen wird, verbietet sich hiernach. Mit Blick auf die zeitliche Gesetzeskonkurrenz (hierzu Kramer, a.a.O., S. 101) ist zudem maßgebend, dass jüngeres Recht widersprechendes älteres Recht aufhebt (lex posterior derogat legi priori) und nicht umgekehrt (vgl. Zippelius, a.a.O., S. 40; Kramer, a.a.O., S. 101 f.; hierzu auch Senat, Beschlüsse vom 13.04.2011 - L 11 KA 133/10 B ER, L 11 KA 17/11 B ER - und 14.06.2010 - L 11 KR 199/10 KL -). Sonach verdrängt § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 42 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO die ältere Regelung des § 172 Abs. 2 SGG. Allerdings bedarf es jeweils einer genauen Analyse, ob vorgenannter Grundsatz gilt, denn möglicherweise ergibt die Auslegung, dass eine Norm einer anderen Vorschrift vorgehen oder sie aufheben soll (Zippelius, a. a. O., S. 41). Gleichermaßen denkbar ist, dass der Gesetzgeber einer fragwürdigen Regelung (hier § 172 Abs. 2 SGG) nunmehr einen realen Sinngehalt gibt und deswegen der Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" nicht greift. Das führt indes nicht weiter, was sich nachfolgend ergibt.

(3) Zu fragen ist nach dem Regelungsgehalt des § 172 Abs. 2 SGG.

(a) Der Wortlaut ist eindeutig. Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen können nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Mit dem Begriff "Gerichtspersonen" werden die in § 60 Abs. 1 SGG und in §§ 41 bis 49 ZPO benannten Richter, ehrenamtlichen Richter und Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erfasst (vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg, Beschluss vom 27.04.2011 - 1 So 15/11 - m. w. N. zu § 146 Abs. 2 VwGO). Die Beschwerde ist hiernach nicht statthaft. Gleichwohl ist die Vorschrift zutreffend als unnötig (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Auflage, 2008, § 172 Rdnr. 6f) bzw. fehlsam (Zeihe, SGG, Stand 11/2010, § 172 Rdnr. 13) bezeichnet worden. § 172 Abs. 2 SGG "regelte" im hier interessierenden Zusammenhang allein, dass Befangenheitsbeschlüsse des LSG (§ 60 Abs. 1 Satz 2 SGG a. F.) nicht mit der Beschwerde angefochten werden konnten. Das folgt indes schon aus § 177 SGG. Damit bleibt zu klären, ob der Gesetzgeber mittels des 4. Gesetzes zur Änderungen des SGB IV und anderer Gesetze § 172 Abs. 2 SGG einen neuen und weiteren Regelungsgehalt beigemessen hat, der dazu führt, dass diese Norm die jüngere Regelung des § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO entgegen dem Grundsatz des "lex posterior derogat legi priori" verdrängt. Da ein Spezialitätsverhältnis entgegen der in der Gesetzesbegründung vertretenen Auffassung nicht vorliegt (s. oben), bedarf es einer weitergehenden Analyse.

(b) Der Satzteil "und über die Ablehnung von Gerichtspersonen" ist durch Art. 29 des SGGArbGGÄndG m. W. v. 01.04.2008 in § 172 Abs. 2 SGG eingefügt worden (BGBl I 444). Mittels des SGGArbGGÄndG sollte die Sozialgerichtsbarkeit insgesamt entlastet werden, und zwar durch eine Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens, die es den Gerichten erlaubt, ihrer Amtsermittlungspflicht zum Einen besser nachzukommen, zum Anderen aber auch Verzögerungen des Verfahrens, die durch die Verfahrensbeteiligten selbst verursacht werden, zu sanktionieren (vgl. BT-Drs. 16/7716 S. 1). Diesem Ziel diente auch die Ausweitung der Regelungen über den Beschwerdeausschluss in § 172 SGG. Dabei sollte mit der Änderung in § 172 Abs. 2 SGG im Interesse der Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen eine Anpassung an § 146 VwGO bewirkt werden (vgl. BT-Drs. 16/7716 S. 22 zu Nr. 29 Buchst. a)). Dort war bereits mit dem 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 01.12.1996 (BGBl I 1626) in § 146 Abs. 2 VwGO eine der jetzigen Fassung des § 172 Abs. 2 SGG entsprechende Bestimmung über den Ausschluss der Beschwerde bei Beschlüssen über die Ablehnung von Gerichtspersonen aufgenommen worden, die wie alle Rechtsänderungen in der genannten Gesetzesnovelle der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung der seinerzeit überlasteten Verwaltungsgerichte diente (vgl. BT-Drs. 13/5098 S. 1 f.). Der Gesetzgeber hielt es nicht für sinnvoll, den Beteiligten einen Instanzenzug gegen den Beschluss, mit dem ein Ablehnungsgesuch abgelehnt wird, auch dann zu gewähren, wenn die Hauptsacheentscheidung nicht oder nur nach besonderer Zulassung anfechtbar ist; zugleich sollte den Beteiligten der Anreiz genommen werden, Ablehnungsgesuche allein zur Hinauszögerung der Hauptsacheentscheidung anzubringen (BT-Drs. 13/3993, S. 22 f.; BT-Drs. 13/5098, S. 24 f.).

(c) Die den Beschwerdeausschluss nach § 146 Abs. 2 VwGO (n.F.) tragenden Erwägungen greifen für das SGG nur schwerlich. Das SGG kennt im Gegensatz zu § 124 VwGO keine Zulassungsberufung. Somit verbleibt nur das wenig überzeugende "Anreizargument" (vgl. oben), um die § 142 Abs. 2 VwGO (n.F.) zugrundeliegenden gesetzgeberischen Erwägungen auf die Neuregelung des § 172 Abs. 2 SGG i. d. F. des SGGArbGGÄndG zu übertragen. Hinzu kommt, dass mittels § 146 Abs. 2 VwGO (n.F.) zielgerichtet das zuvor bestehende Beschwerderecht (vgl. OVG Sachsen, Beschluss vom 01.08.2000 - 1 B 58/99 -) ausgeschlossen werden sollte, mithin der Regelungsgehalt dieser Norm insoweit klar war. Für § 172 Abs. 2 SGG gilt indes Anderes. Über das Befangenheitsgesuch entschied bislang das LSG (§ 60 Abs. 1 Satz 2 SGG a. F.). Die Beschwerde konnte schon deswegen nicht ausgeschlossen werden, weil sie losgelöst von § 172 Abs. 2 nicht statthaft war (§ 177 SGG). Insoweit war die Neufassung des § 172 Abs. 2 unnötig bzw. fehlsam (s. oben). Dementsprechend war die mit der Einfügung der Worte "und über die Ablehnung von Gerichtspersonen" verfolgte Zielrichtung des SGGArbGGÄndG äußerst bescheiden; es ging nur um eine Anpassung an § 146 VwGO im Interesse der Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen (BT-Drs. 16/7716, S. 27). Angesichts dieser gesetzgeberischen Konzeption des § 172 Abs. 2 SGG ist es wenig überzeugend, wenn der auslegungstechnisch nicht tragfähigen Meinung des "Gesetzgebers" beigetreten wird, § 172 Abs. 2 SGG verdränge die an sich gegebene Beschwerdemöglichkeit nach § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 ZPO.

(4) Hinzu kommt: Anliegen des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze ist es zwar, die Verfahren zu beschleunigen und die Effizienz in der Sozialgerichtsbarkeit zu steigern (BT-Drs. 315/11 S. 2, 22). Dieses Ziel hat der Gesetzgeber allerdings selbst konterkariert, indem er mittels Streichung des § 60 Abs. 1 Satz 2 SGG die Zuständigkeit der hoch belasteten Sozialgerichte für Entscheidungen in Befangenheitssachen geschaffen hat. Diese Zuständigkeitsverlagerung ist überdies ineffektiv. Waren bei den Landessozialgerichten die Zuständigkeiten für Befangenheitssachen betreffend Richter vielfach einem Senat zugewiesen und damit der Sachverstand gebündelt, kann hiervon nunmehr keine Rede mehr sein, wenn ausweislich des Gesetzesbegründung jeweils der geschäftsplanmäßige Vertreter zuständig sein soll, mithin statt einer Zuständigkeitsbündelung nunmehr zu diversifizieren ist. Schon deswegen verbietet es sich, die Neuregelung allein mit Blick auf die Gesichtspunkte der Effizienzsteigerung bzw. Verfahrensbeschleunigung zu interpretieren, um einer Beschwerde die Statthaftigkeit abzusprechen.

(5) Wird zudem zutreffend angenommen, dass Entscheidungen der Sozialgerichte über die Ablehnung von Sachverständigen mit der Beschwerde angegriffen werden können (ganz h. M.; vgl. nur LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.01.2011 - L 4 KR 324/10 B - mit zustimmender Anmerkung von Hellweg in ZMGR 2011, 184, jeweils m. w. N.; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.04.2011 - 1 So 15/11 - zu § 146 Abs. 2 VwGO; Leitherer, a.a.O., § 172 Rdnr. 6f.; a. A. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.01.2010 - L 7 R 3206/09 B -), kommt es zu nicht nachvollziehbaren Wertungswidersprüchen, wenn die in der Gesetzesbegründung und damit nur beiläufig geäußerte Auffassung des "Gesetzgebers" als maßgebend angesehen wird.

(6) Schließlich gilt unter systematischen Gesichtspunkten, dass § 172 Abs. 2 SGG eine Ausnahmevorschrift darstellt (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.01.2011 - L 4 KR 324/10 B -; Hellweg in ZMGR 2011, 184) und als solche schwerlich geeignet ist, § 60 Abs. 1 i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO zu verdrängen. Als Grundregel bestimmt § 172 Abs. 1 SGG, dass gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte die Beschwerde an das LSG stattfindet, soweit im SGG nichts anderes bestimmt ist. Letzteres ist mit § 172 Abs. 2 SGG der Fall. Diese Norm steht in einem Spezialitätsverhältnis zu § 172 Abs. 1 SGG. Nichts anderes gilt für § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO, denn diese Normenkette bekräftigt für ihren Anwendungsbereich (Befangenheitssachen) spezialgesetzlich nochmals die Grundregel des § 172 Abs. 1 SGG. Stehen sonach zwei spezialgesetzliche Normen im Widerstreit, kann das Spannungsverhältnis jedenfalls nicht dadurch beseitigt werden, dass der einen Norm (§ 172 Abs. 2 SGG) mit dem schlichten Hinweis auf die Gesetzesbegründung eine verdrängende Wirkung gegenüber der anderen Norm (§ 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO) beigemessen wird. Vielmehr gilt dann, dass der Ausnahmetatbestand (§ 172 Abs. 2 SGG) durch die neu geschaffene Spezialregelung des § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO neutralisiert wird.

(7) Von einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers kann zudem nicht ausgegangen werden, denn im Gesetzgebungsverfahren ist das federführende Bundesministerium mehrfach auf diese Unstimmigkeiten hingewiesen worden. So heißt es in der Stellungnahme 26/11 des Deutschen Richterbundes aus Oktober 2011 (www.drb.de):

Das Ziel einer Verfahrensbeschleunigung kann im Übrigen nur erreicht werden, wenn die Entscheidungen über die Ausschließung oder Ablehnung des Richters nicht mit der Beschwerde angefochten werden kann, da ansonsten das Verfahren im Vergleich zum derzeit geltenden Recht sogar verlängert würde. Davon geht auch der Gesetzentwurf aus, wenn er in der Begründung auf S. 48 ausgeführt, dass Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden könnten, da § 172 Abs. 2 SGG dem § 46 Abs. 2 ZPO als speziellere Norm vorgehe. Dies ergibt sich allerdings aus dem Wortlaut des § 60 SGG-E nicht eindeutig. Zur Klarstellung regen wird daher an, die im Entwurf enthaltene Verweisung auf § 46 Abs. 2 ZPO (der eine Beschwerde vorsieht) zu streichen.

(8) Soweit in der Rechtsprechung eine abweichende Auffassung vertreten wird, vermag dies den Senat (derzeit) nicht zu überzeugen. Das LSG Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 28.06.2012 - L 5 AS 136/12 B -) meint, die "Sozialgerichtsordnung" (zitiert nach juris) enthalte gegenüber der allgemeinen Verweisung des § 60 SGG eine spezielle und damit durchgreifende Norm; § 172 SGG sei in dem klar zum Ausdruck kommenden Regel- Ausnahme-Verhältnis eindeutig (juris Rdnr. 8). Das indes ist - wie dargelegt - nicht der Fall. Soweit das LSG Sachsen-Anhalt auf den Willen des Gesetzgebers zurückgreift (juris Rdnr. 9), greift das zu kurz. Dieser ist nicht ausschlaggebend, wenn er kein hinreichendes Korrelat im Gesetz gefunden hat. Der Entscheidung des LSG Bayern vom 02.07.2012 - L 9 SF 147/12 AB - fehlt eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Rechtslage. Die Erwägungen des LSG Baden-Württemberg im Beschluss vom 02.07.2012 - L 13 AS 2584/12 B - sind hingegen bedenkenswert. Letztlich vermögen sie den Senat jedoch nicht zu überzeugen. Soweit das LSG darauf verweist, dass der Gesetzgeber "keinesfalls eine zusätzliche Entscheidung eines weiteren Gerichts vorsehen wollte", führt das nicht weiter. Der Senat hat sich hiermit auseinandergesetzt (s. oben). Ob und inwieweit sich durch die Beschwerdemöglichkeit eine Verfahrensverzögerung ergibt, bleibt überdies fraglich, denn auch über eine nicht statthafte Beschwerde ist zu entscheiden. Im Übrigen hat der Senat auch diesen Aspekt erwogen (s. oben). Soweit das LSG Baden-Württemberg meint, der vermeintliche Fehler des Gesetzgebers müsse durch das Gericht dahin korrigiert werden, dass die eindeutige Regelung des § 172 Abs. 2 SGG anzuwenden ist, bleibt unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber gleichermaßen eindeutig die Anwendung des § 46 Abs. 2 Halbsatz 2 ZPO angeordnet hat. Der Ansatz des LSG Baden-Württemberg läuft darauf hinaus, diese gesetzgeberische Entscheidung hinweg zu interpretieren, was der Senat nicht als zulässig ansieht (s oben). Soweit das LSG Baden-Württemberg der Lösung des Senats entgegenhält, die Verweisung in § 60 Abs. 1 SGG auf § 46 Abs. 2 ZPO führe zur im sozialgerichtlichen Verfahrensrecht "völlig unbekannten sofortigen Beschwerde", trägt das Kritik nicht. Gerade in diesem Zusammenhang hat sich der Senat mit der Bedeutung des Adjektivs "entsprechend" auseinandergesetzt (s. oben).

Die bislang in der Literatur veröffentlichten Beiträge greifen gleichermaßen zu kurz. Zutreffend erkennt Söhngen (jurisPR-SozR 18/2012 Anm. 6), dass die Gesetzgebungsmaterialien nur im Sinne eines gewollten Beschwerdeausschlusses verstanden werden können. Soweit er meint, der Senat argumentiere mittels eines Zirkelschlusses, trifft das indes nicht zu. Zur Überzeugung des Senats kann nicht hinweg interpretiert werden, dass mittels der Neuregelung die entsprechende Anwendbarkeit des § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO angeordnet worden ist. Dies zu ignorieren, weil der "Gesetzgeber" meint, § 172 Abs. 2 SGG gehe vor, erachtet der Senat als fehlerhaft (s. oben). Das Verhältnis von § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 42 Abs. 2 Halbs 2 ZPO zu § 172 Abs. 2 SGG ist vielmehr eingehend zu untersuchen. Der schlichte Hinweis auf das, was der "Gesetzgeber" wollte (so aber Söhngen a. a. O.) durchdringt die rechtliche Problematik nicht hinreichend.

Der Beitrag von Wedel (NZS 2012, 716) ist nun gänzlich ungeeignet, zu einer anderen Auffassung zu kommen. Im Ansatz noch zutreffend verweist der Autor darauf, dass der Wortlaut des § 172 Abs. 2 SGG eindeutig ist, verschweigt an dieser Stelle aber, dass dies auch für § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 42 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO gilt. Dass der Wille des Gesetzgebers zum Verhältnis dieser Vorschriften "an Klarheit kaum zu übertreffen" ist, mag der Autor so empfinden, diese Wertung muss indes nicht geteilt werden. Allerdings gehen die Materialien davon aus, dass § 172 Abs. 2 SGG als speziellere Norm vorgeht (s. oben). Damit hat sich der Senat eingehend auseinandergesetzt. Der Gesetzgeber hat dies gerade nicht angeordnet. Deswegen ist zu überprüfen, was Wedel verkennt, ob der in den Materialien postulierte Spezialitätsvorrang des § 172 Abs. 2 SGG rechtlich zutrifft, nach Auffassung des Senats eben nicht. Soweit Wedel sodann von einer "contra-legem-Entscheidung" spricht und hierzu auf Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehere, S. 255 verweist, indiziert dies eine nicht hinreichende Durchdringung der Entscheidung des Senats und ist vollends abwegig. Ausweislich des von Wedel herangezogenen Zitats (a. a. O. Fußnote 3) handelt es sich um Rechtsfortbildung contra legem, wenn sowohl gegen das vom Gesetzgeber Gesagte als auch gegen das vom Gesetzgeber Gewollte entschieden wird. Dass der Senat u. U. gegen das vom Gesetzgeber möglicherweise Gewollte entschieden hat, ist unschwer zu erkennen. Dessen ist sich der Senat nicht nur bewusst, vielmehr hat er gerade deswegen seine Rechtsauffassung ausführlich begründet. Gegen das "Gesagte" kann indes nicht entschieden worden sein, weil der Gesetzgeber das, was Wedel ihm unterstellt, gerade nicht gesagt hat (so auch Söhngen, a. a. O.: "nur im Sinne eines gewollten Beschwerdeausschlusses"). Die weiteren Ausführungen Wedels führen nicht weiter. Seine Behauptung, der Senat habe der Entscheidung des BVerfG vom 16.02.2012 - 1 BvR 127/10 - nicht hinreichend gewürdigt, geht fehl. Dem Senat ist nicht unbekannt geblieben, dass das BVerfG den Regelungsabsichten des Gesetzgebers im Gegensatz zu früheren Entscheidungen nunmehr stärkere Bedeutung beimisst (s oben). Dies ändert aber nichts daran, was Wedel verkennt, dass nicht die Gesetzesmaterialien bestimmen können, ob eine Norm zu einer anderen Norm in einem Spezialitätsverhältnis steht oder nicht. Dies ist vom Gericht durch Auslegung zu ermitteln. Das Wollen des Gesetzgebers ist nicht das Gesetz, was das BVerfG nun - ersichtlich - nicht anders sieht.

c) Sonach: Wortlaut, Gesetzessystematik, Entstehungsgeschichte und teleologische Gesichtspunkte sprechen entgegen der Gesetzesbegründung für eine Beschwerdemöglichkeit nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 46 Abs. 2 ZPO.

2. In der Sache ist die Beschwerde unbegründet.

a) Ein Richter kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO). Für die Feststellung eines solchen Grundes kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder aber sich selbst für befangen hält. Andererseits begründet die subjektive Überzeugung eines AS oder seine Besorgnis, der Richter sei befangen, allein nicht die Berechtigung der Ablehnung. Entscheidend ist vielmehr, ob ein Grund vorliegt, der den Antragsteller von seinem Standpunkt aus nach objektiven Maßstäben befürchten lassen könnte, der von ihm abgelehnte Richter werde nicht unparteilich entscheiden (std. Rechtsprechung, vgl. u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 12.07.1986 - 1 BvR 713/83, 1 BvR 921/84, 1 BvR 1190/84, 1 BvR 333/85, 1 BvR 248/85, 1 BvR 306/85, 1 BvR 497/85 -, vom 05.04.1990 - 2 BvR 413/88 - und vom 02.12.1992 - 2 BvF 2/90, 2 BvF 5/92 -; BSG, Beschluss vom 10.12.2010 - B 4 AS 97/10 B -; Senat, Beschlüsse vom 19.10.2011 - L 11 SF 274/11 AB - und 22.02.2010 - L 11 AR 140/09 AB -).

b) Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die als zutreffend erachteten Ausführungen des SG Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG analog) und angemerkt:

Unrichtige oder für unrichtig gehaltene Rechtsauffassungen oder Tatsachenausführungen eines Richters sind grundsätzlich nicht geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen (Senat, Beschluss vom 5. Oktober 2011 - L 4 SF 1488/11 -). Es müssen vielmehr objektive Gründe dafür dargetan werden, die dafür sprechen, dass eine mögliche Fehlerhaftigkeit einer Entscheidung auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegen den ablehnenden Beteiligten beruht oder willkürlich im Sinne einer greifbaren Gesetzeswidrigkeit ist (BSG, Beschluss vom 10.12.2010 - B 4 AS 97/10 B -). Unterschiedliche Auffassungen zwischen Richtern und Verfahrensbeteiligten in materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Fragen bieten ohne besondere weitere Anhaltspunkte gleichermaßen keinen Anlass zu einer begründeten Besorgnis der Befangenheit. Eine Befangenheit ist vielmehr nur dann zu besorgen, wenn die Fehlerhaftigkeit der richterlichen Meinungsäußerung bzw. in Betracht gezogenen verfahrensrechtlichen Maßnahme auf einer unsachlichen, nicht mehr neutralen Einstellung des Richters gegen den betroffenen Beteiligten oder auf Willkür im konkreten Fall beruht. Von einer auf Willkür beruhenden Rechtsauffassung bzw. Verfahrenshandlung kann jedoch nur dann gesprochen werden, wenn sie bei verständiger Würdigung schlechterdings nicht mehr verständlich erscheint oder offensichtlich unhaltbar ist (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 09.01.2012 - 3 W 28/11 -; hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 29.05.1991 - 4 B 71/91 -; VGH Bayern, Beschluss vom 03.08.2011 - 8 A 09.40079).

Hierfür besteht kein Anhalt.

Einem Richter obliegt zwar im sozialgerichtlichen Verfahren eine umfassende Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG). Gelangt der Richter im Rahmen seiner Tätigkeit zu der Auffassung, dass ein Verfahrensstand erreicht ist, der Rückschluss auf das jeweilige Begehren zulässt, ist er nicht nur berechtigt, sondern in der Regel auch gehalten, dies den Beteiligten mitzuteilen. Das folgt insbesondere aus den in § 106 Abs. 1 und 2 SGG im Einzelnen aufgeführten Aufklärungs- bzw. Hinweispflichten. Mit seinem Hinweis gibt der Richter Gelegenheit, auf die richterliche Meinungsbildung einzuwirken und rechtzeitig ggf. für erforderlich gehaltene prozess- bzw. erkenntnisfördernde Erklärungen abzugeben bzw. entsprechende Anträge zu stellen (std. Rspr., vgl. u. a. Senat, Beschluss vom 02.05.2011 - L 11 SF 43/11 AB -). So liegt es hier. Der abgelehnte Richter hat mit seinen Hinweisen vom 15.11.2011, 13.02.2012 und 14.03.2011 für den rechtskundigen Bevollmächtigten der Klägerin nachvollziehbar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er den Sachverhalt als ausermittelt ansieht. Dem ist die Klägerin über ihren Bevollmächtigten mit einem weiteren Beweisantrag entgegengetreten. Ob und inwieweit dieser Antrag auf eine entscheidungserhebliche Tatsache abzielt, unterliegt der Einschätzung des Richters. Kommt dieser - wie hier - zur Auffassung, dass dem Antrag nicht nachgegangen werden muss, ist Besorgnis der Befangenheit, abgesehen von Ausnahmen, schon im Ansatz nicht denkbar. Die Entscheidung des Richters kann stattdessen im Rechtsmittelzug überprüft werden.

Der Hinweis auf § 192 SGG kann nach Maßgabe dieser vorgenannter Grundsätze nur in Ausnahmefällen eine Besorgnis der Befangenheit begründen (Senat, Beschluss vom 13.07.2011 - L 11 SF 196/11 AB -). Diese Voraussetzungen sind ersichtlich nicht erfüllt.

Nach alledem konnte die Beschwerde keinen Erfolg haben.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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