S 5 AS 213/12 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 213/12 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Aufwendungen für die Therapie einer Lese- und Rechtsschreibschwäche können Leistungen nach § 28 Abs. 5 SGB II sein.

Eine zeitliche Höchstgrenze der Förderung sieht das Gesetz nicht vor.

Eine Kostenübernahme ist aber nur dann möglich, wenn der Erfolg der Therapie durch tatsächliche Fortschritte messbar ist.
Ohne Tenor

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zur Durchführung einer außerschulischen Lernförderung.
Die am xx.xx.2000 geborene Antragstellerin besucht die 5. Klasse der Gesamtschule am in A-Stadt. Zuvor besuchte sie die Grundschule in A-Stadt. Aufgrund einer fachkundig diagnostizierten Lese- und Rechtschreibschwäche erhält sie seit dem 2. Schuljahr einen schulischen Nachteilsausgleich in der Form, dass die Note im Fach Deutsch keine Bewertung der Rechtschreib- und Leseleistung beinhaltet. Die Versetzung der Antragstellerin war aufgrund dieses Nachteilsausgleiches zu keiner Zeit gefährdet. Seit dem Jahr 2011 nimmt sie zusätzlich zu dem schulischen Förderunterricht an einer Legasthenietherapie am Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik (LOS) in A Stadt teil. Bereits in der Vergangenheit war zwischen den Beteiligten und dem Jugendhilfeträger streitig, wer die Kosten einer solchen Therapie zu tragen hat. Ein Verfahren gegen den Jugendhilfeträger nach § 35 a SGB VIII wurde seinerzeit vom VG Gießen abschlägig beschieden, da die Antragstellerin sozial nicht ausgegrenzt sei und auch keine seelische Behinderung drohe. Aufgrund eines richterlichen Eilbeschlusses des SG Marburg kam der Antragsgegner dann im Rahmen der Bildungs- und Teilhabeleistungen zunächst für die Kosten der Therapie auf. Am 03.07.2012 beantragte die Antragstellerin über ihren Bevollmächtigten die Weiterbewilligung der Therapiestunden. Zur Begründung wurde sowohl eine Bescheinigung der Schule, als auch des LOS eingereicht, aus denen sich jeweils ergab, dass die Antragstellerin große Fortschritte gemacht habe, aber immer noch dem Leistungsniveau ihrer Altersgenossen hinterherhinke. Die betreuende Pädagogin am LOS führte darüber hinaus aus, dass es wichtig sei, die bereits erzielten Fortschritte auszubauen und zu festigen. Dies sei nur durch eine Weiterführung der Therapie möglich. Aus den durchgeführten Tests ergab sich für die Antragstellerin ein unterdurchschnittliches Leistungsvermögen bei überdurchschnittlicher Intelligenz. Die orthographischen Kompetenzen entsprachen nicht den Alters- und Schulform spezifischen Anforderungen. Weiterhin wurde ausgeführt, dass die Lese- und Rechtschreibschwäche über das Fach Deutsch hinaus zu Beeinträchtigungen in anderen Schulfächern führe und daher auch den Schulabschluss gefährden könne.

Mit Bescheid vom 09.08.2012 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der Kosten ab, da das wesentliche Lernziel, nämlich die unmittelbare Versetzung in die nächste Jahrgangsstufe, bei der Antragstellerin nicht gefährdet sei.

Mit Schreiben vom 16.08.2012 legte die Antragstellerin über ihren Bevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid ein und machte gleichzeitig einen gerichtlichen Eilantrag anhängig.

Sie beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, die Kosten der Therapiestunden für die Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass danach § 28 Abs. 5 SGB II nur kurzzeitige und vorübergehende Lernschwächen erfasst seien. Bei der Antragstellerin bestünde aber keine negative Versetzungsprognose, so dass das Lernziel Versetzung bzw. ein ausreichendes Leistungsniveau erreicht sei. Im Übrigen könne eine Lese- und Rechtschreibstörung nicht vorübergehend behoben werden. Die Antragstellerin werde seit mehr als einem Jahr gefördert, ohne dass die Lernschwäche behoben worden sei. Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung dafür ist die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts. Der Anordnungsanspruch entspricht dem materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, während der Anordnungsgrund die besondere Dringlichkeit der Anordnung begründet. Es muss also ein Sachverhalt vorliegen, der eine Eilentscheidung notwendig macht und ein weiteres Zuwarten –insbesondere das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache- unzumutbar erscheinen lässt. Zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besteht eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderung an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn sich aus glaubhaft gemachten Tatsachen ergibt, dass es die individuelle Interessenlage eines Antragstellers unzumutbar erscheinen lässt, ihn zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Ob die Anordnung derart dringlich ist, beurteilt sich insbesondere danach, ob sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen, ebenso schwer wiegenden Gründen nötig erscheint [vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Aufl., § 86b Rn. 27a]. Denn das Rechtsmittel des einstweiligen Rechtsschutzes hat vor dem Hintergrund des Art.19 Abs. 4 GG die Aufgabe, in den Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung in dem grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache zu schweren und unzumutbaren, nicht anders abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre [vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02 und vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05].

Ein Anordnungsgrund liegt vor, weil ohne Weiteres nachvollziehbar ist, dass eine durchgehende Förderung der Antragstellerin stattfinden muss, um den Förderungserfolg nicht zu gefährden. Auch ist glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin mit dem ihr zur Verfügung stehenden monatlichen Regelbedarf in Höhe von 251,00 EUR nicht in der Lage ist, die monatlichen Kosten für ihre Therapie in Höhe von mehr als 250,- EUR zu decken.

Darüber hinaus besteht auch ein Anordnungsanspruch.

Nach §§ 19 Abs. 2, 28 Abs. 5 SGB II in der Fassung vom 13. Mai 2011 (gültig ab 1. April 2011) wird bei Schülerinnen und Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Die Antragstellerin ist Schülerin und die beabsichtigte Lerntherapie stellt eine das schulische Angebot ergänzende Lernförderung dar.

Die Legasthenie-Therapie ist auch geeignet und erforderlich.

Die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Lernförderung bezieht sich auf das wesentliche Lernziel, das sich wiederum im Einzelfall je nach Schulform und Klassenstufe aus den schulrechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Landes ergibt. Das wesentliche Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe ist dabei nicht nur die Versetzung in die nächst höhere Klasse, sondern auch das Erreichen eines ausreichenden Leistungsniveaus [vgl. LSG Niedersachsen- Bremen, Beschluss vom 28.02.2012 L 7 AS 43/12 B ER; SG Bremen, Beschluss vom 14.04.2011 – S 23 AS 357/11 ER; SG Halle, Beschluss vom 19.03.2010 – S 7 AS 1072/10 ER].

Gemäß §§ 2 und 6 HSchG i.V.m. mit dem "Rahmenplan Grundschule" ist im Bildungsauftrag der Schule insbesondere die Aufgabe enthalten, Schülern einen ausreichenden Umgang mit den elementaren Kulturtechniken Lesen und Schreiben zu vermitteln. Insoweit wird im Rahmenplan auch ausdrücklich die Wichtigkeit der entsprechenden Befähigung für das gesamte Leben der Kinder hervorgehoben und eine entsprechend verbindliche Zielvorgabe gestellt. Die Antragstellerin ist aufgrund ihrer Lese- und Rechtschreibschwäche noch nicht in der Lage Texte oder Sachverhalte ohne Hilfe fehlerfrei zu erfassen. Sie muss immer wieder neu motiviert werden, sich ihren Schwächen durch aktives Lesen und Schreiben zu stellen, um sie dadurch auszugleichen. Mithilfe der Therapie ist zwar eine deutliche Verbesserung gelungen, jedoch reicht das bislang Erlernte nicht aus, um ihren Klassenkameraden gegenüber aufzuholen, bzw. annähernd das gleiche Leistungsniveau zu erhalten.

Dem steht auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin im letzten Zeugnis im Fach Deutsch die Note 3 bekommen hat, da ihre Lese- und Rechtschreibfähigkeiten wegen des Nachteilsausgleiches nicht in die Zensur einfließen.

Gerade die Fähigkeit zu schreiben und zu lesen wirkt sich auf die Leistung in allen Schulfächern und vor allem auch auf alle wesentlichen Lebensbereiche aus. Dies gilt besonders auch für die Erlangung eines Ausbildungsplatzes, die weitere Entwicklung im Beruf und damit die Fähigkeit, später den Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können.

Damit der Antragstellerin der Zugang zu einem Ausbildungsplatz bzw. späteren Beruf nicht von vornherein verbaut wird, ist die begehrte Förderung daher notwendig.

In der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 17/3404 Seite 105 zu § 28 Abs. 4 wird zwar ausgeführt, dass der Bedarf im Regelfall nur kurzzeitig notwendig sei, um vorübergehende Lernschwächen zu beheben.

Zwar wird die Therapie bereits seit knapp einem Jahr durchgeführt und wird sich auch noch über einen gewissen Zeitraum hinziehen, so dass nicht mehr von einer kurzfristigen Hilfe gesprochen werden kann.

Dies steht dem Anspruch der Antragstellerin jedoch nicht entgegen.

Zum einen ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut selbst keine zeitliche Einschränkung der Lernförderung. Zum anderen handelt es sich bei dem Fall der Antragstellerin auch nicht um "den Regelfall", da sie im Gegensatz zu anderen "schwachen" Schülern ein ganz anderes Defizit hat. Darüber hinaus ist bei der Antragsstellerin eine überdurchschnittliche Intelligenz festgestellt worden. Mithin liegt hier gerade nicht der Fall vor, dass ein Schüler "über" seine natürlichen Fähigkeiten gefördert werden soll, sondern es handelt sich genau um den umgekehrten Fall, nämlich, dass die "technischen" Fähigkeiten an das Intelligenzniveau angepasst werden. Der Antragstellerin muss mithilfe der Förderung also die Möglichkeit eröffnet werden, eine Bildung entsprechend ihres Intellekts erhalten zu können und nicht wegen ihrer Schwäche unterhalb ihrer geistigen Möglichkeiten ausgebildet zu werden.

Ein Vorrang der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ist nach Aktenlage ebenfalls nicht gegeben. Die Mutter der Antragstellerin hat im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage insoweit glaubhaft ausgeführt, dass die Antragstellerin sozial integriert ist und derzeit auch keine psychischen Auffälligkeiten zeige. Dies entspricht auch der rechtlichen Wertung des Jugendhilfeträgers, der ausgeführt hat, dass eine drohende seelische Behinderung nicht vorliege und damit eine Förderung nach § 35a SGB VIII ausscheide, was letztlich auch vom VG Gießen bestätigt wurde.

Anhaltspunkte dafür, dass die von der Antragstellerin begehrte Lernförderung beim LOS nicht angemessen und geeignet ist, liegen nicht vor, zumal andere Alternativen bislang weder vorgetragen wurden, noch sonst wie ersichtlich sind. Insbesondere konnten durch die Therapie bislang gute Fortschritte erzielt werden, so dass die Pädagogen auch davon ausgehen, dass die Antragstellerin ihren Rückstand aufholen können wird.

Auf der Grundlage der Empfehlung der Schule und der vorgelegten Berichte des LOS geht das Gericht davon aus, dass die begehrte Förderung von 4 Unterrichtsstunden pro Woche angemessen ist.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist es darüber hinaus nicht möglich abschließend zu ermitteln, welcher Umfang und welche Dauer der Lernförderung erforderlich sind, um das Lernziel der ausreichenden Fähigkeiten im Bereich der Rechtschreibung zu erreichen. Bei der erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist im Bereich der Leistungen nach dem SGB II die Erfolgsaussicht der Hauptsache zwar grundsätzlich nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (BVerfG, Breithaupt 2005, 803 bis 808). Allerdings ist in den Fällen, in denen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich ist, anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Hierbei sind die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin einzubeziehen. Da außerschulische Lernförderung als Sonderbedarf vom Anspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfasst wird, geht hier die Folgenabwägung hinsichtlich des Umfangs der Leistungen zugunsten der Antragstellerin aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved