S 4 KR 52/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 4 KR 52/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 20.01.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, auf den Antrag vom 22.12.2008 hin unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens einen neuen Bescheid zu erteilen. 3. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außer- gerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist der Erlass einer Beitragsschuld für den Zeitraum vom 01.04.2007 bis 13.07.2008.

Der am 00.00.1980 geborene Kläger war bis 03.05.2006 bei der Beklagten aufgrund seines Beschäftigungsverhältnisses pflichtversichert.

Im Mai 2008 zeigte er bei der Beklagten an, seit dem 03.05.2006 weder privat noch gesetzlich krankenversichert gewesen zu sein. Sein Lebensunterhalt werde im Wesentlichen durch seine Eltern sichergestellt. Er beziehe freie Verpflegung und Unterkunft. Außerdem hätte er in einem Minijob noch monatliche Einkünfte i.H.v. 200,00 bis 250,00 EUR.

Mit Bescheid vom 02.06.2008 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger seit dem 01.04.2007 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V pflichtversichert wäre. Der Beitrag betrage monatlich ab 01.04.2007 zur Krankenversicherung 113,51 EUR und zur Pflegeversicherung 15,92 EUR, insgesamt 129,43 EUR und ab 01.01.2008 insgesamt 131,29 EUR. Für die Zeit vom 01.04.2007 bis 30.04.2008 sei ein Beitrag i.H.v. insgesamt 1.690,03 EUR bereits fällig geworden.

Am 19.06.2008 wurde eine Ratenzahlungsvereinbarung mit monatlichen Raten von je 150,00 EUR vereinbart.

Ab dem 14.07.2008 bezieht der Kläger Arbeitslosengeld II.

Am 22.12.2008 beantragte der Kläger die Stundung bzw. den Erlass der o.g. Beiträge. Er verfüge außer über Arbeitslosengeld II seit dem 14.07.2008 über keinerlei Einkünfte und kein Vermögen. Er sei daher nicht in der Lage, die von der Beklagten geforderten Beiträge zu zahlen. Vermögen sei nicht vorhanden.

Er beantragte daher, die für den Zeitraum vom 01.04.2007 bis 13.07.2008 aufgelaufenen Beiträge zu erlassen sowie den gezahlten Betrag von 600,00 EUR zu erstatten. Die Erhebung der Beiträge stelle für ihn eine unbillige Härte dar. Er hätte erst im Jahr 2008 Kenntnis von der eingetretenen Versicherungspflicht erhalten. Einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II hätte er nicht gestellt, da er ohne staatliche Hilfen alsbald eine neue Arbeitsstelle finden wollte und sich in der Zwischenzeit mit Hilfe seiner Eltern über Wasser halten wollte. Hätte er Kenntnis von der Versicherungspflicht gehabt, hätte er Alg II beantragt. Der Umstand, dass er den Steuerzahler und die Solidargemeinschaft nicht in Anspruch nehmen wollte, führe nunmehr zu einer für ihn nicht tragbaren Beitragsschuld. Das Geld für die bisher gezahlten Beiträge stamme von den wirtschaftlich schlecht gestellten Eltern.

Mit Bescheid vom 20.01.2009 lehnte die Beklagte eine Stundung oder Niederschlagung der Beiträge ab. Die verspätete Anzeige sei von dem Kläger selbst zu vertreten. Der Eintritt der Versicherungspflicht kraft Gesetzes ziehe zwingend die Beitragspflicht nach sich. Der Gesetzgeber habe eine soziale Komponente im Gesetz nicht vorgesehen, sondern nur die Verschuldensfrage hinsichtlich der verspäteten Versicherungsanzeige als Entscheidungskriterium gestellt. Sofern keine erheblichen persönlichen Gründe einer Kenntnisnahme von der allgemeinen Versicherungspflicht entgegengestanden hätten, bestehe also keine Möglichkeit zum Erlass der Beitragsforderung.

Am 24.02.2009 hat der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 20.01.2009 erhoben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.05.2009 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch als unbegründet zurück. Nach § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V hätte die Krankenkasse in ihrer Satzung vorzusehen, dass der für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nachzuzahlende Betrag angemessen ermäßigt, gestundet oder von seiner Erhebung abgesehen wird, wenn der Versicherte aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, das Vorliegen der Versicherungspflicht nach dem 01.04.2007 anzeigt. Die Satzung der Beklagten regele in § 20 a die Stundung, Ermäßigung, Niederschlagung und den Erlass der von Versicherungspflichtigen zu zahlenden Beiträge. Demnach könnten Beiträge nur unter den Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB IV niedergeschlagen oder erlassen werden, wenn das Mitglied aus Gründen, die es nicht zu vertreten hat, das Vorliegen der Versicherungspflicht nach dem 01.04.2007 angezeigt habe. Der Kläger habe angegeben, erst im Jahre 2008 Kenntnis von der Versicherungspflicht erhalten zu haben. Allein der Hinweis auf Unkenntnis der neuen Regelung könne jedoch wegen des Grundsatzes der formellen Publizität von Gesetzen nicht als unverschuldet gewertet werden. Ein Nachweis über das "unverschuldet sein" könne mit dieser Begründung nicht geführt werden. Andere Gründe würden nicht angegeben. Somit ergäbe sich aus der Satzung der Beklagten keine Möglichkeit für den Erlass und auch die Erstattung der Beiträge.

Dagegen richtet sich die am 08.05.2009 erhobene Klage. Zur Begründung wiederholt der Kläger sein Vorbringen aus dem Antrags- und Widerspruchsverfahren.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entsprechend seinem schriftsätzlichen Vorbringen beantragt der Kläger,

1. die Bekalgte unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verpflichten, die Beitragsschuld des Klägers für die Zeit vom 01.04.2007 bis zum 13.07.2008 entsprechend dem Antrag vom 22.12.2008 zu erlassen,

2. die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verpflichten, den auf die Beitragsschuld gezahlten Betrag zurückzuerstatten,

3. hilfsweise, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verpflichten, die Beitragsschuld des Klägers für die Zeit vom 01.04.2007 bis zum 13.07.2008 niederzuschlagen,

4. hilfsweise, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verpflichten, die Beitragsschuld des Klägers für die Zeit vom 01.04.2007 bis zum 13.07.2008 zu stunden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da beide Beteiligte sich hiermit schriftlich einverstanden erklärt hatten.

Die Klage ist zulässig und insoweit begründet, als der angefochtene Bescheid aufzuheben war und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides zu verurteilen war.

Als Anspruchsgrundlage in den vom Kläger beantragten Erlass der Beitragsforderung, deren Niederschlagung oder Stundung kommt hier einerseits § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V i.V.m. § 20 a der Satzung der Beklagten und andererseits § 76 Abs. 1 SGB IV in Betracht. Nach § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V hat die Krankenkasse in ihrer Satzung vorzusehen, dass der für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 nachzuzahlende Beitrag angemessen ermäßigt, gestundet oder von seiner Erhebung abgesehen werden kann, wenn der Versicherte aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach den in Satz 1 und 2 genannten Zeitpunkten anzeigt. § 20 a der Satzung der Beklagten hat folgenden Wortlaut::

"Zeigt das Mitglied aus Gründen, die es nicht zu vertreten hat, das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nach den in § 186 Abs. 11 Satz 1, 2 oder 3 SGB V genannten Zeitpunkten an, sind die nachzuzahlenden Beiträge auf Antrag

1. unter den Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB IV zu stunden,

2. unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen für die Zeit bis zum Ende des Monats, der dem Monat der Anzeige über das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht vorausgeht, auf den Betrag zu ermäßigen, der sich kalendertäglich aus einem 3/100 der monatlichen Bezugsgröße ergibt,

3. unter den Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB IV nieder- zuschlagen oder zu erlassen. Eine Ermäßigung der Beiträge setzt voraus, dass der Nacherhebungszeitraum mehr als 3 Monate umfasst und das Mitglied erklärt, während dieses Zeitraumes Leistungen für sich und seine nach § 10 SGB V mitversicherten Familienange- hörigen nicht in Anspruch genommen zu haben bzw. auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung von bereits in Anspruch genommenen Leistungen ver- zichtet. "

§ 76 Abs. 2 SGB IV hat folgenden Wortlaut: "Der Versicherungsträger darf Ansprüche nur

1. stunden, wenn die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für die Anspruchsgegner verbunden wäre und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet wird,

2. niederschlagen, wenn feststeht, dass die Einziehung keinen Erfolg haben wird oder wenn die Kosten der Einziehung verhältnismäßig zur Höhe des Anspruches stehen,

3. erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beiträge erstattet oder angerechnet werden."

Der Gesetzgeber wollte mit der Schaffung der Regelung in § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V eine zusätzliche Härteklausel schaffen: In der Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26.03.2007 (GKV – WSG, BT Drucksache 16/3100 S. 159 heißt es hierzu: "Durch Satz 4 der Neuregelung soll vermieden werden, dass diese Nachzahlungspflicht bei unverschuldet verspäteter Anzeige zu unbilligen Härten für die Betroffenen führt. Eine Ermäßigung oder Nichterhebung der nachzuentrichtenden Beiträge wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Betroffenen in der Zwischenzeit keine Leistungen oder nur Leistungen in geringem Umfang in Anspruch genommen haben."

Die von der Beklagten geschaffene Satzungsregelung läuft dieser gesetzlichen Intension jedoch voll entgegen: Sie führt zu einer rechtswidrigen Verkürzung der Rechtsposition des Versicherten: Durch die Regelung in § 20 a der Satzung der Beklagten wird die unmittelbare Anwendung des § 76 Abs. 2 SGB IV ausgeschlossen. Die Beklagte hat in ihrer Satzungsregelung eine Anwendung der in § 76 Abs. 2 enthaltenen Stundungs-, Niederschlagungs- und Erlassmöglichkeiten nur unter der zusätzlichen Voraussetzung vorgesehen, dass das Mitglied die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 unverschuldet zu spät angezeigt hat. § 76 Abs. 2 SGB IV enthält eine derartige - den Anwendungsbereich einschränkende - weitere Tatbestandsvoraussetzung nicht. Legt man bei der Prüfung des Verschuldens auch noch den Grundsatz der formellen Publizität von Gesetzen (vgl. BSG 08.02.2007 – B 7 a AL 22/06 R -) zugrunde, wonach die bloße Unkenntnis der Meldepflicht ein Verschulden des Versicherungspflichtigen begründet, so läuft der Anwendungsbereich der im Gesetz und in der Satzung enthaltenen Möglichkeiten einer Stundung, Niederschlagung oder eines Erlasses von Beitragsforderungen gegen Null. Stattdessen wollte aber der Gesetzgeber zusätzlich zu den Stundungs- Niederschlagungs- und Erlassmöglichkeiten in § 76 SGB IV eine zusätzliche Härteklausel in § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V schaffen. Die in § 20 a der Satzung der Beklagten enthaltene Regelung, dass die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 SGB IV nur unter der zusätzlichen Voraussetzung geprüft werden, ob das Mitglied die Meldepflicht unverschuldet nicht kannte, ist daher wegen Verstoßes gegen die höherrangige gesetzliche Regelung rechtswidrig. Die Beklagte ist daher nicht berechtigt, die Ablehnung des vom Kläger beantragten Erlasses der Beitragsforderung bzw. deren Niederschlagung oder Stundung, gestützt auf § 20 a der Satzung, abzulehnen.

Die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, die vom Kläger gestellten Anträge auch nach § 76 Abs. 2 SGB IV unmittelbar zu prüfen. Sie hätte prüfen müssen, ob die Einziehung der Beitragsnachforderung im Hinblick auf die Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Hierbei sind die vom Kläger vorgetragenen Umstände mit zu berücksichtigen: Der Verzicht auf die Beantragung von Arbeitslosengeld II und die Nichtinanspruchnahme von Leistungen der Beklagten sowie die wirtschaftliche Situation des Klägers, der kein nennenswertes Einkommen hat. Unter Berücksichtigung der o.g. Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26.03.2007 spricht vieles dafür, die Beitragsnachforderung hier als unbillig im Sinne von § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV anzusehen. Ob die Beklagte jedoch bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen die Beitragsnachforderung erlässt, steht in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Da die Beklagte die Vorschrift des § 76 Abs. 2 SGB IV unmittelbar nicht angewandt hat, ist das Gericht auch nicht berechtigt, Ermessen anstelle der Beklagten auszuüben. Der angefochtene Bescheid war daher wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig und deswegen aufzuheben. Bei erneuter Bescheiderteilung muss die Beklagte die Interessen des Betroffenen mit denen der Öffentlichkeit abwägen. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass das Interesse der Öffentlichkeit an einer Beitragserhebung für Zeiträume, in denen der Versicherte keine Leistungen mehr in Anspruch nehmen kann wesentlich geringer ist, als die Nacherhebung für solche Zeiten, in denen der Versicherte Leistungen bezogen hat. Andererseits ist zu berücksichtigen, ob unabhängig davon die Beitragsnachforderung zu existenzbedrohenden Zuständen führt. Auch dafür sprechen hier die Umstände des Einzelfalles.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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