L 5 KR 182/12 B

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 6 KR 575/12 WE
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 182/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ist im einstweiligen Rechtsschutz der für den Krankengeldanspruch erforderliche Anordnungsanspruch überzeugend glaubhaft gemacht, so steht dem Anordnungsgrund der Erhalt geringerer Leistungen nach dem SGB II nicht entgegen.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 12. September 2012 aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 1. November 2012 Krankengeld nach den gesetzlichen Bestimmungen und höchstens für die Dauer des Hauptsacheverfahrens zu gewähren. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die außergerichtlichen Kosten zu erstatten. &8195;

Gründe:

I.

Der 1958 geborene Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin Krankengeld im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Er ist türkischer Herkunft, hält sich seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland auf und ist nach dem Akteninhalt als Elektriker beschäftigt gewesen. Am 13. Sep¬tember 2011 bescheinigte die Praxis Dres. B und K -R eine Arbeitsunfähigkeit des Antragstellers wegen einer Niereninsuffizienz, die durch den Nephrologen Dr. J am 23. September 2011 bestätigt wurde. In den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin befindet sich auf Bl. 5 ein Gesprächsvermerk über eine Beratung des Antragstellers dahingehend, dass bei einer Beschäftigung seinerseits erst ab 3. August 2011 und Kündigung zum 30. September 2011 nach § 44 SGB V ein Anspruch auf Krankengeld erst entstehen könne, wenn eine Beschäftigung mindestens 10 Wochen bestehe und ihm deshalb der Rat gegeben worden sei, die Arbeitsunfähigkeit mit dem 30. September 2011 zu beenden und sich bei der Arbeitsagentur zu melden sowie dort Arbeitslosengeld I zu beantragen. Wenn er über den 30. September 2011 weiter arbeitsunfähig sei, gebe es kein Krankengeld und es würde nur Hartz IV bleiben. Ab 1. November 2011 erhielt der Antragsteller Arbeitslosengeld I. Ab 8. Dezember 2011 wurde bei ihm erneut Arbeitsunfähigkeit wegen chronischer Niereninsuffizienz und schwerer Depression bescheinigt. Der MDK (Dipl.-Med. Ba ) kam gleichwohl ohne Untersuchung des Antragstellers zu dem Ergebnis, dass Arbeitsfähigkeit für leichte Tätigkeiten vorliege. Daraufhin beendete die Antragsgegnerin die Krankengeldzahlung zum 17. Januar 2012. Nach Bestätigung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch Dr. B und der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Psychiaterin Dr. G kam der MDK (Dr. W ) nunmehr zu der Einschätzung, dass bei dem Antragsteller eine Arbeitsunfähigkeit auf Zeit vorliege. In der nachfolgenden Zeit bescheinigte Dr. B die weiterhin bestehende Arbeitsunfähigkeit des Antragstellers. Seit 14. März 2012 wird bei ihm eine Dialyse durchgeführt. Am 2. Juli 2012 kam der Chirurg Dr. S vom MDK ohne Untersuchung des Antragstellers zu dem Ergebnis, dass dieser vollschichtig leistungsfähig sein dürfte. Mit Bescheid vom gleichen Tag beendete die Antragsgegnerin die Krankengeldzahlung zum 4. Juli 2012. Auf den Widerspruch des Antragstellers hin führte Dr. S eine Untersuchung bei ihm durch und kam zu dem Ergebnis, dass an den Dialysetagen (Montag, Mittwoch – dieser Dialysetag wurde in der Beurteilung offensichtlich übersehen – und Freitag) das Leistungsbild einer leichten Tätigkeit sicher nicht beschreibbar sei. Mindestens an den dialysefreien Tagen sei jedoch eine leichte vollzeitige Tätigkeit möglich. Wie dies leistungsrechtlich umzusetzen sei, sei Aufgabe der Antragsgegnerin.

Der Antragsteller hat am 27. August 2012 beim Sozialgericht Lübeck die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Krankengeld im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt und dies damit begründet, dass sein Leistungsvermögen nicht nur durch die Niereninsuffizienz eingeschränkt sei, wie der ihn behandelnde Nephrologe unter dem 14. Juli 2012 bescheinige, sondern eine Einschränkung auch auf psychiatrischem Gebiet vorliege, wie die Ärztin Dr. G unter dem 16. Au-gust 2012 bestätige. Sein Antrag auf Arbeitslosengeld I sei wegen Arbeitsunfähigkeit abgelehnt worden. Vom Jobcenter L seien ihm mit Bescheid vom 3. September 2012 Leistungen von zuletzt monatlich 865,72 EUR bewilligt worden. Durch diese Leistungen erfolge jedoch nur eine Grundabsicherung, der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft liege erheblich höher.

Die Antragsgegnerin hat sich auf das Begutachtungsergebnis des MDK berufen. Als Arbeitsloser orientiere sich die Entscheidung der Arbeitsunfähigkeit an leichten Tätigkeiten, für die er sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt habe. Von einer entsprechenden Leistungsfähigkeit sei im Hinblick auf das Gutachten des MDK auszugehen. Zwar liege an den Dialysetagen Arbeitsunfähigkeit vor, jedoch keine dauerhafte, weil er an den dialysefreien Tagen arbeiten könne. Außerdem bestehe seit 5. Juli 2012 kein Versicherungsschutz mehr. Daher greife die Versicherungspflicht der Nichtversicherten nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ohne Anspruch auf Krankengeld. Die Möglichkeit, Arbeitslosengeld II zu beziehen, stehe dem für die einstweilige Anordnung notwendigen Anordnungsgrund entgegen. Sollte sich zudem die Auffassung der Antragsgegnerin als richtig erweisen, hätte der Antragsteller die dann zu Unrecht bezogenen Leistungen zurückzuzahlen.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 12. September 2012 den Antrag abgelehnt, weil es wegen der Gewährung von Arbeitslosengeld II an einem Anordnungsgrund fehle. Damit liege die für die Anordnung erforderliche Notlage nicht vor.

Gegen den ihm am 13. September 2012 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, eingegangen beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht am 4. Oktober 2012. Zur Begründung ergänzt er, zwar erhalte er Leistungen nach dem SGB II, gleichwohl werde seine bisherige finanzielle Lebensgrundlage durch die rechtswidrige Krankengeldverweigerung akut gefährdet. Die Antragsgegnerin sieht sich durch die sozialgerichtliche Entscheidung bestätigt. Es fehle an einer akuten unbilligen Härte. Eine monatliche finanzielle Einbuße von 200,00 EUR sei nicht geeignet, eine die Lebenserhaltung gefährdende Situation zu begründen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 12. Septem-ber 2012 ist daher aufzuheben und die Antragsgegnerin zur vorläufigen Zahlung von Krankengeld im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten.

Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ein Anordnungsgrund im Sinne der besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung und ein Anordnungsanspruch im Sinne einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs. Beide Voraussetzungen müssen glaubhaft gemacht werden. Dabei erfolgt die Überprüfung grundsätzlich durch eine summarische Prüfung. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen in einer Wechselbeziehung dergestalt zueinander, dass, liegen entweder Anordnungsgrund oder der Anordnungsanspruch deutlich vor, an die andere Voraussetzung keine so hohen Anforderungen zu stellen sind (ständige Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit und des beschließenden Senats, s. etwa Beschluss vom 5. April 2011 – L 5 KR 63/11 B ER –). Vor diesem Hintergrund liegen nach Auffassung des Senats die Voraussetzungen der ausgesprochenen einstweiligen Anordnung vor.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Arbeitsunfähigkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit vor, wenn der Versicherte seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalls konkret ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur auf die Gefahr hin, seinen Zustand zu verschlimmern, verrichten kann. Letzte Tätigkeit des Antragstellers war nach dem Gutachten von Dr. S die eines Elektrikers im Schiffbau. Zwar ist das Beschäftigungsverhältnis, wie sich den Akten entnehmen lässt, nach der Erkrankung des Antragstellers vom Arbeitgeber zum 30. September 2011 gekündigt worden. Gleichwohl gilt in einem solchen Fall als Bezugstätigkeit für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zwar nicht mehr die konkrete Ausübung bei der letzten Arbeitsstelle; es ist aber immer noch abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen. Der Versicherte darf dann auf gleich oder ähnlich geartete Tätigkeiten verwiesen werden, wobei aber der Kreis möglicher Verweisungstätigkeiten entsprechend der Funktion des Krankengeldes eng zu ziehen ist (vgl. etwa Meyerhoff in juris PK-SGB V, § 44 Rz. 39). Allerdings trifft es zu, dass der Antragsteller sich nach Beendigung der Tätigkeit arbeitslos gemeldet hat und aufgrund dessen ab November 2011 Arbeitslosengeld I bekam. Die Meldung bei der Arbeitsagentur erfolgte jedoch offensichtlich aufgrund einer Beratung der Antragsgegnerin, die auf Bl. 5 ihrer Verwaltungsakten wiedergegeben wird. Die dort enthaltenen Hinweise, ein Anspruch auf Krankengeld entstehe erst nach mindestens zehnwöchiger Beschäftigung und eine Zahlung von Krankengeld sei nicht möglich, wenn der Antragsteller über den 30. September 2011 weiterhin arbeitsunfähig sei, ist für den Senat jedoch aufgrund des bisherigen Akteninhalts nicht nachvollziehbar.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin geht der Senat zudem davon aus, dass beim Antragsteller vom 13. September 2011 an durchgehend Arbeitsunfähigkeit bestand, und zwar selbst für den Fall, dass als Bezugstätigkeit die einer leichten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuziehen wäre. Eine entsprechende Arbeitsunfähigkeit bestätigte die MDK-Ärztin Dr. W im Januar, die damals nach Rücksprache mit dem Nephrologen Dr. J zu dem Ergebnis gekommen war, dass zurzeit kein positives Leistungsbild bestehe und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit konkret nicht abgrenzbar sei. Für den Senat ist es nicht ersichtlich und insbesondere den weiteren MDK-Gutachten nicht zu entnehmen, warum sich an dieser Einschätzung in der Folgezeit etwas geändert haben soll. Der den Antragsteller behandelnde Nephrologe sowie der Hausarzt kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis einer weiterhin bestehenden Leistungsunfähigkeit des Antragstellers auch für leichte Tätigkeiten. Dies bestätigt die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. G , die aufgrund der depressiven Episode am 16. Januar 2012 und auch später am 16. August 2012 eine Leistungsfähigkeit des Antragstellers ausschließt.

Die veränderte Einschätzung des MDK, auf die sich die Antragsgegnerin beruft, ist nicht nachvollziehbar. Zunächst erfolgt eine Einschätzung durch Dr. S am 2. Juli 2012 ohne eigene Untersuchung des Antragstellers, zudem mit der eher vorsichtigen Formulierung "dürfte jetzt für leichte vollzeitige Tätigkeiten für sechs Stunden und mehr leistungsfähig sein". Zwar hat Dr. S nach Widerspruch eine Untersuchung des Antragstellers durchgeführt. Seine Einschätzung berücksichtigt jedoch nicht die psychischen Einschränkungen des Antragstellers, die nicht einmal in den weiteren Diagnosen aufgenommen werden. Insbesondere aber der Umstand, dass Dr. S Chirurg ist und er damit fachfremd eine Leistungsbeurteilung nephrologischer und psychiatrischer Erkrankungen vorgenommen hat, steht seiner Einschätzung entgegen. Zudem kommt auch Dr. S zu dem Ergebnis, dass an den Dialysetagen (also an 3 Werktagen) ein Leistungsbild nicht beschreibbar sei. Der Senat vermag das Ergebnis der Antragsgegnerin nicht nachzuvollziehen, dass gleichwohl, weil – theoretisch – der Antragsteller am Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag arbeiten könne, Arbeitsfähigkeit bestehe.

Besteht damit ein durchgehender Krankengeldanspruch, greift der Hinweis der Antragsgegnerin auf eine Versicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ohne Krankengeldanspruch nicht. Vielmehr gilt gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V die bisherige Mitgliedschaft als fortbestehend.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des Sozialgerichts liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass der Antragsteller Leistungen nach dem SGB II erhält.

Mit der Einführung des umfassenden einstweiligen Rechtsschutzes durch die §§ 86a und 86b SGG ab 2. Januar 2002 bestimmt das Gesetz ausdrücklich, wann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen kann. Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ist, ebenso wie bei der Sozialhilfe nach dem SGB XII, zu berücksichtigen, dass diese regelmäßig keinen gleichwertigen Ersatz gegenüber den Leistungen der Sozialversicherungen beinhalten. Das verdeutlicht auch der Umstand, dass das Krankengeld regelmäßig und auch im vorliegenden Fall höher ist als die Leistungen nach dem SGB II. Ob der Krankengeldanspruch des Antragstellers über 200,00 EUR (so die Beschwerdebegründung) oder 100,00 EUR (so die Glaubhaftmachung des Antragstellers) über dem Arbeitslosengeld II liegt, ist für den Senat ohne wesentlichen Belang, da auch letzterer Betrag insbesondere im Hinblick auf die geringen Leistungen der Grundsicherung von nicht unerheblicher Bedeutung auch unter Berücksichtigung des Umstandes ist, dass der Antragsteller offensichtlich eine vierköpfige Familie zu unterhalten hat. Im Übrigen regelt § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB II, dass auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen Anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen, durch dieses Buch nicht berührt werden. Es handelt sich bei dem Bezug von Sozialhilfe und Grundsicherung um ein ganz anderes System sozialer Absicherung, das nicht nur, wie hier, geringere Leistungen erbringt, sondern auch besondere Pflichten auferlegt (zum Vorrang des Krankengeldanspruchs vgl. auch Beschluss der Senats vom 29. Februar 2012 – L 5 KR 23/12 B ER; LSG Niedersachsen vom 27. Juli 2010 – L 1 KR 281/10 B ER; LSG Berlin-Brandenburg vom 19. September 2006 – L 9 B 343/06 KR ER –).

Dass der Antragsteller damit das Risiko eingeht, im Falle eines Unterliegens im Hauptsacheverfahren einem Rückforderungsanspruch ausgesetzt zu sein, ohne dass seinerseits ein, rückwirkender, Anspruch auf Leistungen nach den SGB II, SGB III oder SGB XII besteht, ändert an der Rechtslage und dem Anspruch auf einstweiligen Rechtsschutz nichts. Einem solchen möglichen Rückforderungsanspruch ist ein Leistungsempfänger im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig ausgesetzt.

Der Senat hat den Beginn der Verpflichtung zur Krankengeldzahlung auf den 1. November 2012 gelegt, da mit der einstweiligen Anordnung gegenwärtige und zukünftige, grundsätzlich jedoch nicht zeitlich zurückliegende Notlagen beseitigt werden sollen.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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