L 9 AS 1380/11

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 29 AS 1523/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 1380/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 20. Juni 2011 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren Kostenerstattung für einen "Widerspruch" gegen eine Mitteilung des Beklagten über die vorläufige Einstellung der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialge-setzbuch (SGB II) wegen der Aufnahme einer Beschäftigung und hieraus erzielten Einkom-mens.

Der Beklagte bewilligte den in Bedarfsgemeinschaft lebenden Klägern mit Bescheid vom 9. November 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Dezem-ber 2009 bis 31. Mai 2010. Nachdem dem Beklagten von der Bundesagentur für Arbeit Gotha mitgeteilt worden war, dass der Kläger zu 2) ab 2. Dezember 2009 eine unbefristete Tätigkeit als Produktionshelfer aufgenommen habe, wandte sich der Beklagte mit folgendem Schreiben vom 3. Dezember 2009 an die Klägerin zu 1):

"Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hier: Berücksichtigung von Einkommen

Sehr geehrte Frau A.,

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts können Sie nur erhalten, wenn Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen hilfebedürftig sind. Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit sind als Einkommen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu überprüfen und nach den Bestimmungen des § 11 SGB II zu berücksichtigen.

Nach meinen Feststellungen steht Ihr Ehegatte G. A. ab 02.12.2009 in einem Beschäftigungs-verhältnis bei der Firma B ...

Da das hieraus erzielte Einkommen Einfluss auf die Höhe der Leistungsgewährung hat und diese sogar wegfallen kann, habe ich bis zur endgültigen Klärung Ihre Leistung vorläufig ein-gestellt.

Bitte lassen Sie die beigefügte Einkommensbescheinigung durch den Arbeitgeber ausfüllen und reichen Sie diese umgehend wieder ein.

Sollten Ihnen durch das Arbeitsverhältnis Kosten oder Aufwendungen entstehen, bitte ich Sie die Anlagen EK entsprechend auszufüllen und zusammen mit der Einkommensbescheinigung einzureichen. Erst dann kann geprüft werden, ob die Voraussetzungen zum Bezug der Leis-tungen noch vorliegen bzw. vorgelegen haben.

Ich bitte die Bescheinigung bis zum 25.01.2010 vorzulegen."

Obwohl dem Schreiben keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, erhoben die Kläger am 16. Dezember 2009 "Widerspruch" gegen den "Einstellungsbescheid" unter Hinweis auf die fehlende Anhörung und die mangelnde Begründung. Am selben Tag meldete sich der Kläger beim Beklagten und teilte mit, dass er zum 11. Dezember 2009 gekündigt worden war. Mit Änderungsbescheid vom 13. Januar 2010 wurden den Klägern vorläufige Leistungen für den Zeitraum 1. Januar bis 31. Mai 2010 bewilligt (für Januar 2010 in Höhe von 820,88 EUR); gleichzeitig wurde der Klägerin zu 1) ein entsprechender Betrag ausgezahlt. Nach Einrei-chung der Lohnabrechnung wurde den Klägern mit Änderungsbescheid vom 10. Februar 2010 endgültige Leistungen bewilligt (für Januar 2010 in Höhe von 861,62 EUR unter Berücksich-tigung einer Sanktion gegenüber dem Kläger zu 2).

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2010 verwarf der Beklagte den Widerspruch ge-gen das Schreiben vom 3. Dezember 2009 als unzulässig und verneinte eine Kostenerstattung. Es handle sich um eine vorläufige Zahlungseinstellung nach § 331 Abs. 2 Drittes Buch Sozi-algesetzbuch (SGB III), die nicht mit dem Widerspruch angefochten werden könne, weil kei-ne Regelung über den Leistungsanspruch getroffen worden sei. Zwischenzeitlich sei der Ein-kommensnachweis erbracht und eingerechnet worden. Die Kostenentscheidung beruhe auf § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Der anschließenden Klage gegen die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid und auf Feststellung der Notwendigkeit der Hinzuziehung des Bevollmächtigten hat das Sozialgericht stattgegeben und den Beklagten zur Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsverfolgung im Widerspruchsverfahren verurteilt. Dies ergebe sich aus § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X, weil vor Erlass des Einstellungsbescheids vom 3. Dezember 2009 keine Anhörung durchgeführt wurde. Das Sozialgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Mit der Berufung vertritt der Beklagte die Ansicht, dass die Kosten des Widerspruchsverfah-rens nicht zu übernehmen seien, weil das Schreiben vom 3. Dezember 2009 keinen Verwal-tungsakt darstelle. Der Widerspruch sei unzulässig gewesen; einer Anhörung vor dem Schrei-ben vom 3. Dezember 2009 habe es nicht bedurft.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 20. Juni 2011 aufzuhe-ben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten die angegriffene Entscheidung für rechtmäßig.

Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten ge-wechselten Schriftsätze verwiesen. Die Verwaltungsakte des Beklagten lag vor und war Ge-genstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung ist begründet. Die Kläger haben keinen An-spruch auf Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Widerspruchsver-fahren. Daher war das Urteil aufzuheben und die Klage war abzuweisen.

Ein derartiger Anspruch ergibt sich nicht aus § 63 SGB X. Entgegen der Ansicht des Sozial-gerichts handelt es sich bei dem Schreiben des Beklagten vom 3. Dezember 2009 nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X, was § 63 SGB X voraussetzt, sondern um eine Mitteilung nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung in Verbin-dung mit § 331 SGB III, die lediglich als "Realakt" zu qualifizieren ist.

Mit dem Schreiben vom 3. Dezember 2009 wurde den Klägern mitgeteilt, dass die Leistung bis zur endgültigen Klärung vorläufig eingestellt werde, weil der Kläger zu 2) ab 2. Dezember 2009 in einem Beschäftigungsverhältnis stehe und das hieraus erzielte Einkommen Einfluss auf die Höhe der Leistungsgewährung habe. Die Kläger wurden aufgefordert, die beigefügte Einkommensbescheinigung durch den Arbeitgeber ausfüllen zu lassen und ggf. mit der Ein-kommenserklärung wieder einzureichen. Diese Mitteilung stellt - wie auch im Widerspruchs-bescheid vom 15. Februar 2010 angegeben - eine Benachrichtigung nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 SGB III dar. Nach der letztgenannten Vorschrift kann die Zahlung einer laufenden Leistung unter den dort genannten Voraussetzungen "ohne Erteilung eines Bescheides" vorläufig eingestellt werden. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vor-schrift bedarf es dafür keines Bescheides, so dass schon im Hinblick darauf davon auszugehen ist, dass es sich bei der entsprechenden Mitteilung nicht um einen mit dem Widerspruch an-greifbaren Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X handelt (vgl. Coseriu/Jakob in Mutsch-ler u.a., SGB III, 3.A., § 331 Rdnr. 6). Dafür spricht auch, dass in § 331 Abs. 1 Satz 2 SGB III ausdrücklich gefordert wird, dass dem Betroffenen im dort geregelten Fall Gelegenheit zu geben ist, sich zu äußern. Dieser Regelung hätte es im Hinblick auf das Anhörungserfordernis nach § 24 SGB X nicht bedurft, wenn der Gesetzgeber die vorläufige Zahlungseinstellung ohnehin als Verwaltungsakt ansähe. Dasselbe Resultat ergibt sich unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung zu § 331 SGB III. Danach ist Hintergrund der Vorschrift, dass der An-spruch auf eine laufende Leistung kraft Gesetzes entfällt, wenn z. B. ein Bezieher von Ar-beitslosengeld eine nicht nur geringfügige Arbeit aufnimmt. Obwohl in diesen Fällen der An-spruch kraft Gesetzes entfallen ist, musste nach der vor § 331 SGB III bestehenden Rechtsla-ge die laufende Leistung weiter gezahlt werden, bis der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergab, ggf. nach Anhörung des Betroffenen aufgehoben worden war. Insoweit traten zwangs-läufig von den Leistungsempfängern zu erstattende Überzahlungen ein. Um den damit ver-bundenen Aufwand für Leistungsempfänger und Verwaltung zu vermeiden, sollte dem Ar-beitsamt die Möglichkeit gegeben werden, die Zahlung von laufenden Leistungen bereits vor dem Wirksamwerden des Aufhebungsbescheids vorläufig einzustellen, wenn ihm Tatsachen bekannt werden, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruchs führen, und wenn deshalb der Bewilligungsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist. Stichhaltige Gründe dafür, warum dies im Rahmen des SGB II trotz der ausdrücklichen Ver-weisung auf die Vorschrift des SGB III anders zu beurteilen sein sollte, sind nicht ersichtlich.

Um eine derartige zur Schaffung des § 331 SGB III führende Fallgestaltung handelt es sich auch hier. Ein Widerspruch gegen die hier ergangene Mitteilung der vorläufigen Zahlungsein-stellung war dementsprechend nicht zulässig, wie der Beklagte zutreffend festgestellt hat. Soweit das Sozialgericht zu dem gegenteiligen Ergebnis kommt und dies mit einer andernfalls unvertretbaren Schmälerung des Rechtsschutzes des Leistungsbeziehers begründet, greift dies nicht durch. Denn dem Leistungsberechtigten verbleibt die Möglichkeit einstweiligen Rechts-schutzes, wenn er die Voraussetzungen der vorläufigen Leistungseinstellung nicht für gege-ben hält; im Übrigen sieht § 331 Abs. 2 SGB III selbst eine zeitliche Höchstgrenze von zwei Monaten nach der vorläufigen Zahlungseinstellung vor, die ebenfalls gerichtlich geltend ge-macht werden kann.

Ein Anspruch aus § 63 SGB X ergibt sich auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt eines "Formalverwaltungsakts". Denn der Beklagte benutzt nirgendwo Leitwörter wie "Bescheid", "Verfügung" oder "Verwaltungsakt" und hat dem Schreiben auch keine Rechtsbehelfsbeleh-rung angefügt, so dass nirgendwo der Eindruck erweckt wird, der Brief sei auf die Regelung, d. h. auf die Begründung, Aufhebung, inhaltliche Änderung oder Feststellung (vgl. § 31 SGB Erstes Buch Sozialgesetzbuch) eines Rechts gerichtet. Vielmehr wird aus der Aufforderung zur Vorlage der Unterlagen deutlich, dass erst auf der Grundlage der eingereichten Unterlagen eine Entscheidung darüber getroffen werden sollte, ob der ergangene Bewilligungsbescheid abzuändern war. Im Übrigen fehlt es auch an der verwaltungsakttypischen Unterteilung in Verfügungssatz und Begründung.

Unter Zugrundelegung dessen, dass das Schreiben vom 3. Dezember 2009 kein Verwaltungs-akt ist, ergibt sich ein Anspruch im Rahmen der Prüfungskompetenz des Senats auch nicht unter sonstigen Gesichtspunkten der Kostenerstattung (was allerdings keinen Niederschlag im Widerspruchsbescheid findet). Eine ausdehnende Anwendung des § 63 SGB X auf vorläufige Leistungseinstellungen im Sinne von § 331 SGB III ist nicht zulässig, weil in § 63 SGB X kein allgemeiner Rechtsgrundsatz zum Ausdruck kommt. Auch sonstige im Rahmen des vor-liegenden Verfahrens zum Erfolg der Klage führende Anspruchsgrundlagen bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zu zulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vor-liegen.
Rechtskraft
Aus
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