L 7 AS 862/12 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 594/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 862/12 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Eingliederungsverwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II ist sofort vollziehbar nach § 39 Nr. 1 SGB II. Einstweiliger Rechtsschutz gegen Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt ist durch Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG zu suchen.
Der Betroffene begehrt, dass das Gericht die Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt vorläufig "auf Eis legt" und damit Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II von vornherein unterbunden werden. Sanktionen sind im strittigen Bescheid aber nicht enthalten. Der Betroffene begehrt somit vorbeugenden Rechtsschutz gegen möglicherweise eintretende Sanktionen.
Für vorbeugenden Rechtsschutz ist ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhaltet, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Es ist regelmäßig nachträglicher Rechtsschutz gegen die Sanktion möglich und ausreichend. Einstweiliger Rechtsschutz hat grundsätzlich nicht die Aufgabe, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage nichts zu tun haben.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 6. November 2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen einen Verwaltungsakt, durch den eine Eingliederungsvereinbarung ersetzt wurde (Eingliederungsverwaltungsakt).

Die 1979 geborene Antragstellerin bezieht seit 01.01.2005 Arbeitslosengeld II, davor Arbeitslosenhilfe. Mit Bescheid vom 31.05.2012 und Bescheid vom 03.12.2012 wurde der Antragstellerin bis einschließlich Mai 2013 Arbeitslosengeld II in ungekürzter Höhe bewilligt.

Ende August 2012 wurde der Antragstellerin eine Eingliederungsvereinbarung vorgelegt. Sie wollte diese nicht sofort unterschreiben. Mit Schreiben vom 12.09.2012 forderte der Antragsgegner der Antragstellerin unter Fristsetzung zum 26.09.2012 erfolglos auf, die Eingliederungsvereinbarung nunmehr zu unterschreiben.

Mit Bescheid vom 02.10.2012 erließ der Antragsgegner den strittigen Eingliederungsverwaltungsakt mit einer Gültigkeitsdauer vom 02.10.2012 bis 28.02.2013. Darin verpflichtete sich der Antragsgegner, Vermittlungsvorschläge zu unterbreiten, das Bewerberprofil der Antragstellerin unter www.arbeitsagentur.de aufzunehmen und Bewerbungskosten (maximal 72,- Euro je Quartal für 24 Bewerbungen) sowie Fahrkosten nach vorherigem gesondertem Antrag entsprechend den gesetzlichen Regelungen zu übernehmen. Die Antragstellerin wurde verpflichtet, ihre Erreichbarkeit sicherzustellen, Vermittlungsvorschlägen innerhalb von drei Tagen nachzukommen, sich auf zumutbare Arbeitsstellen bis zu einer einfachen Entfernung von 35 km zum Arbeitsort zu bewerben und monatlich mindestens drei Bewerbungen durch eigene Bemühungen nachzuweisen. Beigefügt war eine Rechtsfolgenbelehrung, in der Sanktionen bei Verstößen gegen die in der "Eingliederungsvereinbarung" genannten Pflichten dargestellt wurden. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war nicht enthalten.

Die Antragstellerin legte am 22.10.2012 Widerspruch gegen den Bescheid ein, über den noch nicht entschieden ist.

Am 24.10.2012 stellte die Antragstellerin beim Sozialgericht Regensburg ausdrücklich einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Die Erstattung der Bewerbungs- und Reisekosten sei nicht hinreichend bestimmt geregelt. Eine persönliche Erreichbarkeit sei nicht erforderlich, es genüge die postalische Erreichbarkeit. Der Tagespendelbereich von 35 km sei unzumutbar. Die Ortsabwesenheit dürfe nicht durch Eingliederungsverwaltungsakt geregelt werden. Die Veröffentlichung des Bewerberprofils verletzte die informationelle Selbstbestimmung. Die Rechtsfolgenbelehrung sei fehlerhaft. Es fehle an einer Begründung des Verwaltungsaktes.

Mit Beschluss vom 06.11.2012 lehnte das Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab. Der Widerspruch gegen den Eingliederungsverwaltungsakt habe gemäß § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung. Die gerichtliche Entscheidung erfolge aufgrund einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung und dem privaten Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung. Bei der Interessenabwägung sei neben den Erfolgsaussichten in der Hauptsache von besonderer Bedeutung, ob eine Dringlichkeit für das im Eilverfahren erhobene Begehren vorliege. Nach BayLSG, Beschluss vom 14.11.2011, L 7 AS 693/11 B ER sei es grundsätzlich nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage nichts zu tun haben. Hier fehle es an einer besonderen Eilbedürftigkeit. Die Antragstellerin erhalte laufende Leistungen in ungekürzter Höhe. Die zentralen Inhalte des Eingliederungsverwaltungsaktes seien in Hinblick auf das junge Lebensalter der Antragstellerin und die Verpflichtung zur Selbsthilfe nach § 2 SGB II nicht zu beanstanden.

Die Antragstellerin hat am 04.12.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Eine Überprüfung sei nicht nur in einer Notlagensituation notwendig und angezeigt. Die Regelungen zur Erstattung von Bewerbungs- und Fahrtkosten seien unzureichend. Es bestehe hierfür nach einer Entscheidung des BSG auch kein Ermessensspielraum. Übermäßige Pendelzeiten seien nicht zumutbar. Die Veröffentlichung des Bewerberprofils verletzte die informationelle Selbstbestimmung. Der strittige Bescheid enthalte nur Textbausteine. Auch in Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsse effektiver Rechtsschutz gewährt werden. Sie könne nicht darauf verwiesen werden, eine Sanktion abzuwarten.

Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 06.11.2011 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 14.10.2012 gegen den Eingliederungsverwaltungsakt vom 02.10.2012 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 SGG). Sie ist aber unbegründet, weil das Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Recht abgelehnt hat.

Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Eingliederungsverwaltungsakt nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Dieser Antrag ist statthaft, weil der Widerspruch gegen den Eingliederungsverwaltungsakt gemäß § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung hat. Ein Eingliederungsverwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II enthält regelmäßig Rechte und Pflichten für den Betroffenen, in § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB II mit Bezug auf die Eingliederungsvereinbarung Leistungen und Bemühungen genannt. Die Antragstellerin wendet sich nur gegen die Pflichten, sie begehrt nicht etwa höhere Bewerbungs- oder Fahrtkosten.

Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erfolgt auf Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu.

Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen Interessen (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 39, Rn. 7) dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere private Interessen überwiegen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 12c, Conradis in LPK-SGB II, 4. Auflage 2012, § 39 Rn. 16, Bay LSG v. 16.07.09, L 7AS 368/09 B ER).

Bei der Interessensabwägung ist neben den Erfolgsaussichten in der Hauptsache von besonderer Bedeutung, ob eine Dringlichkeit für das im Eilverfahren geltend gemachte Begehren vorliegt (BayLSG, Beschluss vom 26.04.2010, L 7 AS 301/10 ER). Hier wendet sich die Antragstellerin gegen den Sofortvollzug der Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt. Sie will wissen, ob sie den Pflichten Folge leisten muss oder bei Missachtung der Pflichten Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II riskiert. Weil die Sanktionen in dem strittigen Bescheid nicht festgelegt sind, begehrt die Antragstellerin hier vorbeugenden Rechtsschutz. Für vorbeugenden Rechtsschutz ist ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhaltet, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann (Meyer-Ladewig, SGG, 10. Auflage 2010, Rn. 17 vor § 51 und § 54 Rn. 42a).

Die Antragstellerin müsste in dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung somit geltend machen, dass die im Verwaltungsakt festgelegten Pflichten bereits jetzt "auf Eis gelegt" werden müssten, um eine gegenwärtige Notlage der Antragstellerin zu vermeiden. Eine derartige Situation besteht hier nicht. Die Antragstellerin kann den Pflichten nachkommen oder, sofern sie den Pflichten nicht nachkommen will, Rechtsschutz gegen die dann möglichen Sanktionen suchen. Eine dem Gesetz entsprechende Sanktion muss ohnehin nicht verhindert werden. Einstweiliger Rechtsschutz hat regelmäßig nicht die Aufgabe, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage nichts zu tun haben.

Im Einzelnen:

Die Verpflichtung zu monatlich drei Eigenbewerbungen ist von sehr geringem Umfang - der erkennende Senat hat in anderen Fällen auch zehn Bewerbungen pro Monat für angemessen erachtet.

Die Veröffentlichung des anonymisierten Bewerberprofils im Internet kann das Sozialgeheimnis grundsätzlich nicht tangieren. Außerdem enthält § 35 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), anwendbar über § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB II, für die Aufnahme der erforderlichen Daten in das Selbstinformationssystem ausdrücklich die erforderliche Befugnis zur Datennutzung und -übermittlung (vgl. BayLSG, Beschluss vom 16.08.2012, L 7 AS 576/12 B ER).

Dass die Antragstellerin sich auf Vermittlungsvorschläge zeitnah bewerben muss, ist eine Selbstverständlichkeit und bei Pflichtverletzungen auch ohne Eingliederungsverwaltungsakt gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sanktionierbar.

Weshalb eine Entfernung zum Arbeitsplatz von bis zu 35 Kilometern unzumutbar sein soll, erschließt sich dem Gericht nicht. Weder ergibt sich aus der schlichten Kilometerzahl, dass sich eine Pendelzeit von mehr als zweieinhalb Stunden ergeben wird, noch ist § 140 Abs. 4 SGB III (vormals § 124 Abs. 4 SGB III) Maßstab der Zumutbarkeit nach § 10 SGB II (Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 10 Rn. 125).

Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts kommt nur dann zur Anwendung, wenn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen drohen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Rn. 24). Die Antragstellerin hat diesen Beschluss ausführlich zitiert, diesen Punkt aber scheinbar überlesen. Derartige Beeinträchtigungen drohen hier nicht

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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