L 15 U 270/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 309/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 270/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 4/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Auf Revision wird Urteil des LSG aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Neues AZ = L 15 U 547/14 ZVW
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 10.04.2012 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt neu gefasst wird: Der Bescheid vom 13.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2011 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Unfall vom 10.01.2010 ein Arbeitsunfall ist. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.

Die 1949 geborene und in W. wohnhafte Klägerin war als Altenpflegerin bei der K-Unfall-Hilfe e. V. in E. beschäftigt. Am Vormittag des 10.01.2010 unternahm sie in W. während ihrer Rufbereitschaft einen Spaziergang mit ihrem Hund. Während der Rufbereitschaft durfte die Klägerin sich innerhalb des Bezirks E./X. frei bewegen, sie musste aber auf ihrem Diensthandy telefonisch erreichbar sein. Als die Klägerin gegen 11 Uhr eine Straße, an deren Rändern sich Schnee häufte, überquerte, klingelte ihr Diensthandy und die Klägerin nahm den Anruf an. Während die Anruferin, eine Kollegin der Klägerin, ihren Namen nannte, übersah die Klägerin die schneebedeckte Bordsteinkante und stürzte. Dabei zog sie sich eine Knöchelfraktur zu.

Mit Bescheid vom 13.04.2010 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom 10.01.2010 ab, weil die unfallbringende Tätigkeit keine versicherte Tätigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechts darstelle.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie machte geltend, dass während der Rufbereitschaft jeder eingehende Anruf auf dem Diensthandy angenommen und beantwortet werden müsse. Es habe eindeutig eine Rufbereitschaft im dienstlichen Bereich bestanden. Außerdem sei bei jedem Schellen des Diensttelefons besondere Eile geboten. Demnach habe Unfallversicherungsschutz bestanden, weil die betrieblichen Interessen vorrangig gewesen seien und ihr Verhalten beherrscht hätten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.06.2011 wies die Beklagte den Rechtsbehelf der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus: Es liege im Wesen der Rufbereitschaft, dass ein dienstlicher Anruf stets während einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit erfolge. Weil sodann ab Anruf auch eine dienstliche Tätigkeit hinzukomme, entstehe so eine gemischte Tätigkeit. Die Klägerin habe zum Unfallzeitpunkt eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit in Form des Spazierengehens mit dem Hund und eine fremdwirtschaftliche Tätigkeit in Form des dienstlichen Telefonats ausgeübt. Bei einer solchen gemischten Tätigkeit sei entscheidendes Abgrenzungskriterium zur Bejahung des Versicherungsschutzes, ob die Tätigkeit auch dann vorgenommen wäre, wenn der private Zweck entfallen wäre. Wäre die Klägerin mit ihrem Hund nicht dort spazieren gegangen, hätte der Anruf selbst nicht zu der unfallbringenden Tätigkeit geführt. Sie hätte nicht sprechend die Straße überquert und hätte auch nicht den Bordstein verfehlt. Es wäre nicht zu der Verletzung gekommen. Die geltend gemachte "gebotene Eile" könne auch nicht erkannt werden. Die unfallbringende Tätigkeit sei demnach unversichert.

Die Klägerin hat am 15.07.2011 Klage erhoben.

Sie hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2011 zu verpflichten, das Unfallereignis vom 10.01.2010 als versicherte Tätigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechts anzuerkennen und dementsprechend Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu bewilligen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist auf ihrem Standpunkt verblieben.

Mit Urteil vom 10.04.2012 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Leistungen aufgrund des Arbeitsunfalls vom 10.01.2010 zu zahlen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen die ihr am 26.04.2012 zugestellte Entscheidung hat die Beklagte am 04.05.2012 Berufung eingelegt. Sie trägt vor: Das Sozialgericht stelle ausschließlich darauf ab, dass mit Annahme des Telefonats der "Dienst" aufgenommen worden sei, und nehme rechtsirrtümlich an, dass sämtliche Verrichtungen während der Dienstzeit versichert seien. Mit der zur gemischten Tätigkeit oder gemischten Motivationslage ergangenen Rechtsprechung habe sich das Sozialgericht nicht auseinandergesetzt. Die Klägerin habe auch erstmals in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass sie aufgrund der Eile, mit der sie das Telefonat habe annehmen wollen, gestürzt sei. Dies stehe jedoch im Widerspruch zu den Erstangaben und dem tatsächlichen Ablauf. Die Klägerin sei nicht etwa bei der Suche nach dem Telefon gestürzt, sondern während des Telefonats, so dass eine relevante Ablenkung von der Fortsetzung des Gangs durch das bereits angenommene Telefonat nicht plausibel zu machen sei. Der Sturz sei also nicht infolge des Telefonats, sondern infolge des Spaziergangs erfolgt, zumal der Sturz sich sicher nicht ereignet hätte, wenn der Spaziergang hinweg gedacht würde. Nach den Grundsätzen der gemischten Tätigkeit bestehe somit kein innerer Zusammenhang zwischen dem Sturz und der versicherten Tätigkeit.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 10.04.2012 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen mit der Maßgabe, dass die Klage auf die Feststellung des Ereignisses vom 10.01.2010 als Arbeitsunfall beschränkt wird.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen; ihr wesentlicher Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Die Klägerin durfte noch im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat ihren in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht gestellten Antrag einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage auf eine Anfechtungs- und Feststellungsklage umstellen. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist in Fällen der vorliegenden Art zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2010 - B 2 U 14/10 R = SozR 4 - 2700 § 8 Nr. 39 m. w. N.). Sie ist auch begründet, denn das Ereignis vom 10.01.2010 ist ein Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. 1 S. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).

Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis (dem Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196, 198 = SozR 4 - 2700 § 8 Nr. 17 m. w. N.; BSG, Urteil vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R = SozR 4 - 2700 § 8 Nr. 30 m. w. N.).

Die Klägerin war zur Zeit des Unfallereignisses Beschäftigte im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Sie hat am 10.01.2006 auch einen Unfall erlitten, als sie stürzte und sich dabei einen Knöchelbruch zuzog. Im Zeitpunkt des Unfallereignisses übte sie eine gemischte Tätigkeit aus, die im inneren bzw. sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand und den Sturz der Klägerin verursacht hat.

Eine gemischte Tätigkeit setzt zumindest zwei gleichzeitig ausgeübte untrennbare Verrichtungen voraus, von denen (wenigstens) eine im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Eine Verrichtung ist nur ein konkretes, also auch räumlich und zeitlich bestimmtes Verhalten, das seiner Art nach von Dritten beobachtbar ist (BSG, Urteil vom 09.11.2010 a. a. O.). Danach verrichtete die Klägerin im Zeitpunkt des Unfallereignisses eine gemischte Tätigkeit. Sie übte gleichzeitig zwei (beobachtbare, objektive) Verrichtungen - Gehen und Telefonieren - aus (vgl. zum Anruf auf einem Diensthandy während einer Fahrt Spellbrink, WzS 2011, 351, 352 Fußnote 10), von denen die eine, nämlich das Telefonieren, im sachlichen Zusammenhang mit ihrer versicherten Tätigkeit stand. Denn die Klägerin war während der bei ihrem Spaziergang bestehenden Rufbereitschaft verpflichtet, die auf ihrem Diensthandy eingehenden Anrufe anzunehmen. Dieser Verpflichtung ist die Klägerin nachgekommen, als sie den Anruf einer Kollegin, die sie über die Absage eines Pflegetermins informieren wollte, angenommen hat.

Das BSG hat in seinen Urteilen vom 12.05.2009 (B 2 U 12/08 R = SozR 4 - 2700 § 8 Nr. 33) und 09.10.2010 (a. a. O.) ein Abrenzungskriterium für den Fall einer Verrichtung mit gemischter Motivationslage bzw. gespaltener Haltungstendenz entwickelt. Danach steht eine Verrichtung mit gemischter Motivationslage bzw. gespaltener Handlungstendenz dann im inneren bzw. sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn die konkrete Verrichtung hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre, wenn also die Verrichtung nach den objektiven Umständen in ihrer konkreten, tatsächlichen Ausgestaltung ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz findet. Wie der vorliegende Fall gemischter Tätigkeit zu bewerten ist, bleibt nach der neuen Rechtsprechung des BSG offen.

Der Senat geht davon aus, dass hier nach dem obigen Kriterium für die gemischte Motivationslage zu prüfen ist, ob die konkrete Handlung mit betrieblicher Tendenz hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die Handlung mit privater Tendenz entfiele, und es nicht darauf ankommt, ob der Erfolg/Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn die private Handlung hinweg gedacht wird (zum Versicherungsschutz bei gemischter Tätigkeit nach der neuen Rechtsprechung des BSG vgl. auch Spellbrink, a. a. O.). Wie die Beklagte im Widerspruchsbescheid zu Recht feststellt, liegt es im Wesen der Rufbereitschaft, dass ein dienstlicher Anruf stets während einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit erfolgt. Dies bedeutet im konkreten Fall der Klägerin aber auch, dass sie während ihrer Rufbereitschaft einen auf ihrem Diensthandy eingehenden Anruf bei jedweder Tätigkeit, die sie zu dieser Zeit gerade ausübt, und an jedem Ort, an dem sie sich bei Eingang des Anrufs gerade aufhält, annehmen muss. Angesichts dessen erscheint es nicht sachgerecht, für die Frage des Versicherungsschutzes darauf abzustellen, ob der Schaden auch dann noch eingetreten wäre, wenn die zur Zeit des Anrufs ausgeübte private Tätigkeit hinweggedacht wird.

Im vorliegenden Fall ist demnach zu fragen, ob das Telefonieren hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn das Gehen entfiele. Da die Klägerin in jedem Fall telefoniert hätte, steht die gemischte Handlung (Gehen und Telefonieren) insgesamt unter Versicherungsschutz.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache hat der Senat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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