L 9 KR 392/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 84 KR 1777/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 392/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. November 2010 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Therapiedreirad.

Die 1978 geborene Klägerin leidet an Multipler Sklerose mit Gangunsicherheit und Koordinationsstörungen in den Armen und Beinen sowie einer Blasenschwäche. Hierdurch kam es in der Vergangenheit zu rezidivierenden Stürzen sowie Lähmungserscheinungen im linken Bein. Ihr wurde ein Grad der Behinderung von 70 sowie das Merkzeichen "G" zuerkannt. Sie bezieht Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I sowie seit Februar 2006 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie lebt allein im dritten Obergeschoss eines Hauses, das über keinen Fahrstuhl verfügt, und besitzt keinen PKW.

Unter dem 4. Februar 2008 bescheinigte ihr die Physiotherapiepraxis K, dass sie wegen rezidivierender Inkontinenz und starker Gangstörung wichtige Termine kaum noch ohne Begleitung wahrnehmen könne. Wegen einer veränderten Belastung der Gelenke stelle ein Therapiedreirad eine Entlastung gegenüber dem bisher genutzten Rollator dar. Nachdem die Klägerin eine ärztliche Verordnung der Fachärztin für Nervenheilkunde I für ein Dreirad bei der H Krankenkasse, eine Rechtsvorgängerin der Beklagten, eingereicht hatte, lehnte diese Rechtsvorgängerin mit Bescheid vom 3. März 2008 die Kostenübernahme für ein Spezial-Dreirad ab, da die Klägerin älter als 15 Jahre sei. Den Widerspruch der Klägerin, dem diese eine ärztliche Verordnung von Frau I für ein "Spezial Dreirad (T-Bike)" aufgrund der Diagnose Encephalomyelitis disseminata mit Progression beigefügt hatte, wies die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2008 zurück.

Mit Urteil vom 24. November 2010 hat das Sozialgericht unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einem Therapiedreirad zu versorgen, und dies wie folgt begründet: Die Klägerin könne ihren Anspruch darauf stützen, dass sie erst mit dem beantragten Therapiedreirad in die Lage versetzt werde, den Bewegungsradius mit eigener Kraft zu erreichen, den ein gesunder Versicherter zu Fuß zurücklege. Die Klägerin sei zurzeit mit Unterarmgehstützen und einem Rollator versorgt. Der Umstand, dass sie mit dem Rollator lediglich eine Strecke von maximal 100 Metern ohne Begleitung zurücklegen könne, begründe den Anspruch auf das Therapiedreirad. In dem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 4. September 2009 habe der Gutachter Dr. M ausgeführt, dass in Anbetracht der bestehenden und deutlich progredienten Multiplen Sklerose und unter Berücksichtigung des Pflegegutachtens aus dem Jahre 2006 von einer erheblich eingeschränkten Mobilität der Klägerin auszugehen sei, so dass aus sozialmedizinischer Sicht die Indikation für eine Versorgung meinem Aktivrollstuhl bestehe. Eine Versorgung mit einem Therapiedreirad sei – so das das Gutachten – aus sozialmedizinischer Sicht dann zu empfehlen, wenn es ersatzweise für einen medizinisch sinnvollen Rollstuhl beansprucht werde. Zudem habe die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft begründet, dass sie das Haus kaum noch ohne Begleitung verlasse und insoweit ständig auf die Hilfe ihrer Familie und Freunde angewiesen sei.

Gegen dieses ihr am 8. Dezember 2010 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 22. Dezember 2010, zu deren Begründung sie vorbringt: Der Basisausgleich im Sinne des Grundbedürfnisses an Mobilität werde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) regelmäßig durch einen handbetriebenen oder Elektrorollstuhl erschlossen. Mit einem handbetriebenen Rollstuhl sei die Klägerin nur deshalb nicht versorgt, weil sie nach dem ärztlichen Attest von Frau I körperlich nicht so eingeschränkt sei, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen wäre. Hinsichtlich der von der Klägerin angesprochenen Sicherung des Behandlungserfolges sei darauf zu verweisen, dass für den insoweit beabsichtigten therapeutischen Effekt Heilmittel, insbesondere Krankengymnastik und ggf. der Rollator sowie Unterarm-Gehstützen, bereits zur Verfügung stünden und ausreichend und wirtschaftlich seien. Das Dreirad sei ausschließlich zur sozialen Integration der Klägerin notwendig. Die Nutzung eines Dreirades habe in der Vergangenheit Heilmittel in keiner Weise eingespart oder ersetzt. Besonderheiten des Wohnortes könnten keinen Versorgungsanspruch mit Hilfsmitteln begründen. Die eigenständige Erschließung des Nahbereichs sei der Klägerin auch mittels des streitigen Therapiedreirades nicht möglich. Selbst unter Zuhilfenahme des vorhandenen Rollators bewege sie sich nicht ohne Begleitung fort. Sie könne zwar mit dem Therapiedreirad in die Nähe von Ärzten oder Geschäften gelangen, dies aber ebenfalls nur in Begleitung. Vor Ort angekommen sei sie dann nicht in der Lage, Arztpraxen oder Geschäfte aufzusuchen. Der hierzu erforderliche Rollator könne mit dem Therapiedreirad nicht transportiert werden. Bei plötzlichem Harndrang stellten Inkontinenzartikel das Mittel der Wahl dar und seien im Übrigen auch die wirtschaftlichere Versorgungsform. Zur Sicherung der Krankenbehandlung seien andere Hilfsmittel, wie z.B. ein Arm-/Beintrainer, der unabhängig von Witterungseinflüssen ganzjährig nutzbar sei, die zweckmäßigere und auch wirtschaftlichere Versorgung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. November 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Sie erledige alle Alltagsgeschäfte, also Einkaufen, Behördengänge, Arztbesuche, nur in Begleitung. In der Regel begleite sie ihre Mutter, die im gleichen Haus im ersten Obergeschoss wohne, manchmal auch andere Personen, z.B. Freunde. Inkontinenzhilfen benutze sie derzeit nur im Ausnahmefall. Wenn der Harndrang komme, bleibe ihr in der Regel nur sehr wenig Zeit. Habe sie eine Blasenentzündung, was ca. 5 bis 10 Mal pro Jahr vorkomme, blieben ihr schätzungsweise 10 Sekunden, ohne Blasenentzündung vielleicht eine halbe bis eine Minute. Wenn sie begleitet werde, könne sie sich dann, wenn der Harndrang einsetze, auf den Rollator setzen und zur nächsten Toilette schieben lassen. Durch das Sitzen habe sie die Möglichkeit, auf die Blase von unten her Gegendruck zu entwickeln; zum anderen entspanne sich ihre Muskulatur durch das Sitzen insgesamt erheblich. Im Sitzen sei der Harndrang wesentlich besser zu kontrollieren. Wenn sie auf dem Rollator sitze, könne sie sich ganz auf das Zurückhalten des Harns konzentrieren und müsse sich kaum mehr um die Fortbewegung kümmern und verkrampfe daher auch nicht. Welche Strecken sie mit dem Rollator, aber ohne Begleitung noch zurücklegen könne, könne sie nicht sagen, da so was quasi nicht vorkomme. Es könne schon beim Verlassen des Hauses geschehen, dass beim Erreichen der Straße der Harndrang einsetze, weil sie sich beim Treppensteigen sehr habe konzentrieren müssen. Sei dann keine Toilette vorhanden (z.B. im Hauseingang), müsse sie den Harn eben laufen lassen. Die von ihr nach wie vor laufend in Anspruch genommene Krankengymnastik müsse zu Hause durchgeführt werden, wo die therapeutischen Möglichkeiten naturgemäß eingeschränkt seien. Könnte sie mit dem Therapiedreirad die Physiotherapiepraxis aufsuchen, wären die therapeutischen Möglichkeiten erheblich größer. Durch das Sitzen auf dem Therapiedreirad könnte sie ähnlich wie beim Sitzen auf dem Rollator den Harndrang wesentlich besser kontrollieren. Die letzten Meter zur Toilette nach dem Absteigen vom Therapiedreirad könne sie dann ohne Hilfe bewältigen. Ein von ihr bereits einmal getestetes Therapiedreirad habe sie gut benutzen können, auch beim Auf- und Absteigen. Erforderlich seien aber Schnallen, um die Füße an den Pedalen zu fixieren und ein Abrutschen der Füße zu verhindern. Das Therapiedreirad diene auch dem Muskelaufbau sowie beim oft auftretenden Harndrang als psychologische Hilfe. Denn es sei eine Sicherheit dafür, schneller die Toilette erreichen zu können. Auch das Selbstwertgefühl würde weiter gestärkt. Das Gehen mit dem Rollator stelle bereits eine größere Anstrengung für sie dar, so dass sie mehr Kraft und Ausdauer aufwenden müsse als bei der Fortbewegung mit einem Therapiedreirad.

Der vom Senat beigeladene Sozialhilfeträger stellt keinen Antrag und trägt vor: Die Ausstattung mit einem Therapiedreirad gehöre keinesfalls zu den obligatorischen Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe. Soweit es nach Einschätzung der die Klägerin behandelnden Physiotherapeutinnen zur Erhaltung und Verbesserung der Mobilität und Selbständigkeit erforderlich sei und der Erhaltung und dem Training der Muskeln diene, begründe dies einen eigenständigen Leistungsanspruch nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V). Im Übrigen dürften im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 53ff Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht über die entsprechenden Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen und entsprächen diesen. Die Einkommens- und Vermögenssituation der Klägerin stehe einem Anspruch nach dem SGB XII nicht entgegen.

Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 30. März 2012 erörtert. Die Klägerin hat umfangreiche Angaben zu ihrer Einkommens- und Vermögenssituation gemacht; wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 180 bis 200 der Gerichtsakte verwiesen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Die Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig, da der Klägerin ihr gegenüber ein Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad zusteht. Hierbei kann der Senat allerdings offen lassen, ob sich dieser Anspruch aus dem SGB V oder dem SGB XII ergibt.

I) Dass der Antrag der Klägerin nicht auf ein bestimmtes, durch Angabe von Hersteller und Modell konkretisiertes Hilfsmittel gerichtet ist, ist prozessual unschädlich (vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, Az.: B 3 KR 13/09 R, veröffentlicht in Juris), weil die Beteiligten nur um den Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V dem Grunde nach, nicht aber um ein ganz bestimmtes Fabrikat streiten und zu erwarten ist, dass bei einer rechtskräftigen Verurteilung der Beklagten zur Versorgung der Klägerin mit einem Therapiedreirad kein zusätzlicher Streit über das Fabrikat entstehen wird.

Ohne Bedeutung ist auch, dass die Neurologin der Klägerin in ihrer ärztlichen Verordnung vom 10. April 2008 mit dem Klammerzusatz "T-Bike" möglicherweise auf ein Therapiedreirad einer bestimmten Marke abzielte. Dagegen spricht schon, dass der Begriff "T-Bike" für eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Fahrzeuge verwendet wird, so z.B. auch für ein dreirädriges Motorrad ohne irgendwelche therapeutischen Zwecke (vgl. http://t-bike.com, recherchiert am 10. Oktober 2012). Unabhängig hiervon ist die ärztliche Verordnung von Hilfsmitteln bei sach- und interessengerechter Auslegung im Allgemeinen nicht so zu verstehen, dass andere Fabrikate ausgeschlossen sein sollen; vielmehr soll die verordnete Versorgung ein Hilfsmittel (hier: ein Therapiedreirad) in geeigneter Ausführung betreffen (BSG, a.a.O.). Dies steht auch nicht im Widerspruch zu den auch für die Klägerin und ihre Neurologin verbindlichen Vorgabe der Hilfsmittel-Richtlinien (HM-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses, wonach in der ärztlichen Verordnung das Hilfsmittel so eindeutig wie möglich zu bezeichnen ist (§ 7 Abs. 2 Satz 1 HM-RL). Denn das Einzelprodukt (bezeichnet durch die 10-stellige Positionsnummer, soweit vom Hilfsmittelverzeichnis erfasst) wird grundsätzlich vom Leistungserbringer nach Maßgabe der mit den Krankenkassen abgeschlossenen Verträge zur wirtschaftlichen Versorgung mit der oder dem Versicherten ausgewählt, wobei die Verordnung eines speziellen Hilfsmittels bei entsprechender Begründung dem Vertragsarzt möglich bleibt (§ 7 Abs. 3 Sätze 2 bis 5 HM-RL).

II) Die Klägerin hat einen gegen die Beklagte gerichteten Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

1) Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 33 Abs. 1 SGB V. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen.

Ein gegen die Beklagte gerichteter Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad als Hilfsmittel der GKV (dazu unter a) besteht unter dem Gesichtspunkt des Behinderungsausgleichs (dazu unter b), so dass über die Frage, ob es auch zur Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung erforderlich ist, nicht entschieden werden muss.

a) Dem Therapiedreirad kann in Bezug auf erwachsene Versicherte nicht die Eigenschaft als Hilfsmittel abgesprochen werden. Hilfsmittel i.S.v. § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V sind alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, einer drohenden Behinderung vorbeugen oder eine bestehende Behinderung ausgleichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicherzustellen ist (BSG, Urteil vom 18. Mai 2011, Az.: B 3 KR 7/10 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.). Diese Voraussetzungen erfüllt das Therapiedreirad, denn die Hilfsmitteleigenschaft wird allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale – wie z.B. das Alter des Versicherten – sind hierfür nicht maßgeblich (BSG a.a.O.).

b) Der von der Klägerin geltend gemachte Versorgungsanspruch ist unter dem Gesichtspunkt des Behinderungsausgleichs (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 3 SGB V) begründet. Zwar ist ein Therapiedreirad grundsätzlich nicht zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich, weil es dem Versicherten eine Mobilität ermöglicht, die über den durch Leistungen der GKV zu gewährleistenden Bereich der medizinischen Rehabilitation hinausgeht. Allerdings besteht gleichwohl ein entsprechender Versorgungsanspruch, weil die Behinderung im vorliegenden Einzelfall nicht auf andere Weise zumutbar ausgeglichen werden kann.

aa) Der Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 3 SGB V umfasst zwei Zielrichtungen:

(1) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSG a.a.O.).

(2) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses sog mittelbaren Behinderungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V, § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Hierzu zählen das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG a.a.O.).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze handelt es sich im vorliegenden Fall um den mittelbaren Behinderungsausgleich, weil durch das begehrte Hilfsmittel nicht das Gehen selbst ermöglicht wird, sondern lediglich die Folgen einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine – hier in Form des eingeschränkten Geh- und Stehvermögens – ausgeglichen werden sollen.

bb) Das hier betroffene Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich. Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Dies entspricht dem Umkreis, der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (BSG a.a.O.).

cc) Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab. Dem steht weder entgegen, dass nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Hilfsmittel zu gewähren sind, wenn sie "im Einzelfall erforderlich sind", noch dass nach § 33 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) bei der Ausgestaltung von Rechten nach dem SGB "die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten" berücksichtigt werden müssen. Die Frage, ob ein Hilfsmittel der Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse dient, betrifft dessen Eignung und Erforderlichkeit zur Erreichung der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele. Diese Eignung und Erforderlichkeit zählt ebenso wie die Hilfsmitteleigenschaft und das Nichtvorliegen der in § 33 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V formulierten Ausschlusstatbestände zu den objektiven, d.h. unabhängig vom konkreten Einzelfall zu beurteilenden Anspruchsvoraussetzungen. Hierfür ist allein die Zielsetzung des § 33 SGB V und somit die Abgrenzung der Leistungspflicht der GKV von der anderer Träger nach einem abstrakt-aufgabenbezogenen Maßstab ausschlaggebend. Die Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung "im Einzelfall" ist dagegen – ebenso wie deren Wirtschaftlichkeit – eine subjektbezogene Anspruchsvoraussetzung, die nach einem konkret-individuellen Maßstab beurteilt wird. Der in § 33 SGB I normierte Individualisierungsgrundsatz ist für den die Anspruchsvoraussetzungen des § 33 SGB V betreffenden Nahbereich bereits deshalb ohne Bedeutung, weil er ausschließlich für die Ausgestaltung sozialer Rechte gilt, seine Anwendung mithin auf die Rechtsfolgenseite einer im SGB geregelten Anspruchsgrundlage beschränkt ist (BSG a.a.O.).

dd) Der Nahbereich wurde bislang nicht im Sinne einer Mindestwegstrecke bzw. einer Entfernungsobergrenze festgelegt, sondern lediglich beispielhaft im Sinne der Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind, wobei allerdings die Fähigkeit, eine Wegstrecke von bis zu 200 m zurückzulegen, nicht als ausreichend zur Erschließung des Nahbereichs anzusehen ist. Dagegen umfasst der von der GKV zu gewährleistende Basisausgleich nicht die Fähigkeit, weitere Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer, zu bewältigen (BSG a.a.O.)

ee) Für die Bestimmung des durch Hilfsmittel der GKV zu erschließenden Nahbereichs ist allein der Zweck des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V maßgebend. Dieser liegt in der Sicherstellung der in Satz 1 formulierten Versorgungsziele. Dabei soll mit dem Versorgungsziel des Behinderungsausgleichs (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Variante 3 SGB V) grundsätzlich eine Gleichstellung des behinderten Menschen mit Nichtbehinderten erreicht werden, wobei allerdings im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs kein Gleichziehen mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zu gewährleisten ist, sondern lediglich ein Aufschließen zu den Grundbedürfnissen eines nicht behinderten Menschen, um die Zuständigkeit der GKV von der anderer Träger abzugrenzen. Von dieser Zielsetzung ausgehend sind dem der Zuständigkeitsabgrenzung der GKV von anderen Rehabilitationsträgern dienenden Nahbereich beim mittelbaren Behinderungsausgleich solche Wege zuzuordnen, die räumlich einen Bezug zur Wohnung und sachlich einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit bzw. der selbständigen Lebensführung aufweisen. In räumlicher Hinsicht ist der Nahbereich auf den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten beschränkt. Diese ist Ausgangs- und Endpunkt der zum Nahbereich zählenden Wege, so dass die Mobilität für den Hin- und Rückweg durch Leistungen der GKV sicherzustellen ist. Hierfür sind allerdings nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend, weil der Nahbereich ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens konkretisiert und somit die Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels als objektive Anspruchsvoraussetzung betrifft. Sachlich umfasst der Nahbereich gesundheitserhaltende Wege, Versorgungswege sowie elementare Freizeitwege. Zu den gesundheitserhaltenden Wegen zählen Entfernungen, die zur Aufrechterhaltung der physischen und psychischen Existenz zurückgelegt werden (z.B. Besuch von Ärzten und Therapeuten, Aufsuchen der Apotheke). Der Versorgungsweg umschreibt dagegen die Fähigkeit, die Wohnung zu verlassen, um die für die Grundbedürfnisse der selbständigen Existenz und des selbständigen Wohnens notwendigen Verrichtungen und Geschäfte (Einkauf, Post, Bank) wahrnehmen zu können. Die Mobilität für Freizeitwege ist in Abgrenzung zu der durch andere Leistungsträger sicherzustellenden Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft jedoch nur durch Leistungen der GKV abzudecken, wenn (und soweit) diese Wege von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind. In diesem Sinne zählen zu den Freizeitwegen Entfernungen, die bewältigt werden, um die körperlichen Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten (kurzer Spaziergang an der frischen Luft) und um sich einen für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraum zu erschließen (z.B. Gang zum Nachbarn zur Gewährleistung der Kommunikation, Gang zum Zeitungskiosk zur Wahrnehmung des Informationsbedürfnisses).

ff) Hiervon ausgehend eröffnet das Therapiedreirad dem behinderten Menschen grundsätzlich eine dem Radfahren vergleichbare und somit über den soeben definierten Nahbereich hinausgehende Mobilität. Denn mit dem Therapiedreirad können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art bewältigt werden. Allerdings sind Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, im Einzelfall gleichwohl von der Krankenkasse zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen z.B. vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, bestehen in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation. Zur Beantwortung der Frage, ob besondere qualitative Umstände ausnahmsweise die Gewährung eines Therapiedreirads erfordern, sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls maßgebend (BSG a.a.O.).

gg) Die Klägerin benötigt das streitgegenständliche Therapiedreirad, weil sie sich ohne dieses Hilfsmittel ihren Nahbereich aus gesundheitlichen Gründen nicht allein erschließen kann. Ausschlaggebend ist hierbei die zu den gravierenden Bewegungseinschränkungen infolge der Multiplen Sklerose hinzutretende Blasenschwäche, die mit rezidivierenden Harnblasenentzündungen und zeitweiser Harninkontinenz verbunden ist. Der dadurch hervorgerufene Harndrang, der sich bei Anspannung noch verstärkt, führt nach der nachvollziehbaren und von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Darstellung der Klägerin dazu, dass sie auch unter Zuhilfenahme eines Rollators nicht allein die vom Nahbereich umfassten gesundheitserhaltenden Wege, Versorgungswege sowie elementare Freizeitwege zurücklegen kann, weil sie den Harndrang nur durch Entwicklung eines Gegendrucks von unten, d.h. sitzend, unter Kontrolle halten kann, während sie von der Begleitperson zur nächsten Toilette geschoben wird. Auf eine Begleitperson ist die Klägerin hingegen nicht angewiesen, wenn sie sich auf dem Therapiedreirad sitzend allein im Nahbereich fortbewegen kann.

Der Einwand der Beklagten, die Klägerin könne mit einem Therapiedreirad nur in die Nähe von Arztpraxen oder Geschäften kommen, sei dann aber nicht in der Lage, diese auch aufzusuchen, weil sie den für die Fortbewegung zu Fuß erforderlichen Rollator nicht mit dem Therapiedreirad transportieren könne, überzeugt nicht. Zum einen trifft es nicht zu (und wurde von der Klägerin in dieser Form auch zu keinem Zeitpunkt behauptet), dass sie sich zu Fuß ohne Rollator überhaupt nicht fortbewegen könne. Die Klägerin verfügt über Unterarmgehstützen und hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie kurze Strecken ohne fremde Hilfe gehen könne, wenn sie sich hierbei festhalten könne. So kann sie etwa mit Hilfe des Treppengeländers ihre Wohnung im 3. Stock erreichen. Zum anderen sind die Wege zur nächsten Toilette, wenn die Klägerin erst einmal mittels eines Therapiedreirades vor dem Haus einer Arztpraxis, einer Behörde oder eines Ladengeschäfts angekommen ist, typischerweise kurz, weil heutzutage jede Arztpraxis, jede Behörde und eine Vielzahl von Geschäften über Besucher- oder Kundentoiletten verfügen oder zumindest im Notfall die Benutzung der Mitarbeitertoiletten gestatte. Für die Bewältigung des letzten Stück Weges bis zur Toilette stehen der Klägerin – auch dies leuchtet unmittelbar ein – nach der Benutzung eines Therapiedreirades mehr Kraftreserven zur Verfügung als beim kraftzehrenderen Einsatz des Rollators.

Ohne Therapiedreirad könnte die Klägerin ihr Grundbedürfnis auf Mobilität innerhalb eines Nahbereichs somit nur unter Inkaufnahme gesundheitlicher Einschränkungen wahrnehmen, da bei der Fortbewegung mit Rollator, aber ohne Begleitperson die Ungewissheit über die Erreichbarkeit einer Toilette den ohnehin vorhandenen Harndrang verstärkt. Die Klägerin muss sich aber auch nicht darauf verweisen lassen, die zur Aufrechterhaltung einer selbständigen Existenz notwendigen Erledigungen nur noch mit Hilfe einer Begleitperson durchführen zu können (vgl. BSG, Urteil vom 24. Mai 2006, Az.: B 3 KR 12/05 R, veröffentlicht in Juris).

hh) Das Therapiedreirad ist auch nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (§ 33 Abs. 1 Satz 1, letzter Halbsatz SGB V) von der Sachleistungspflicht der GKV ausgenommen, da es sich um ein speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen entwickeltes Fahrzeug handelt. Die Einordnung als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens hängt davon ab, ob ein Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Zwecken des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dienen soll oder – falls dies nicht so ist – den Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders entgegenkommt und von körperlich nicht beeinträchtigten Menschen praktisch nicht genutzt wird. Fahrräder in Form eines üblichen Zweirades sind zweifelsohne allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, ebenso die auch von gesunden Menschen genutzten und serienmäßig hergestellte Liegeräder (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, Az.: B 3 KR 5/10 R, veröffentlicht in Juris). Anders als diese Fortbewegungsmittel wird ein Therapiedreirad hingegen von körperlich gesunden Menschen praktisch nicht genutzt. Dass in jüngerer Zeit auch ältere Menschen auf Therapiedreirädern anzutreffen sind, ist gerade der beginnenden Gebrechlichkeit geschuldet und belegt, dass Therapiedreiräder dem Zweck dienen, (zunehmende) körperliche Einschränkungen auszugleichen.

ii) Gegen die Versorgung der Klägerin mit einem Therapiedreirad sprechen auch keine Kostengesichtspunkte. Es handelt sich um eine wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung (§ 12 Abs 1 SGB V). Insbesondere kann die Klägerin nicht alternativ auf einen Aktivrollstuhl, ggf. mit restkraftunterstützendem Greifreifenantrieb, verwiesen werden. Zwar bietet dieser möglicherweise dem Therapiedreirad vergleichbare Erleichterungen, weil der behinderte Mensch in die Lage versetzt wird, beim Auftreten von Erschöpfungszuständen individuell über eine Fernbedienung den zusätzlichen Antrieb zuzuschalten. Allerdings belaufen sich die Kosten für den Zusatzantrieb auf 3500.- Euro zuzüglich Mehrwertsteuer – bezogen auf einen Gewährleistungszeitraum von 60 Monaten – und liegen damit über den für ein Therapiedreirad aufzuwendenden Kosten. Zudem würde die Vergütungspauschale nach dem Ablauf des Gewährleistungszeitraums erneut anfallen (BSG a.a.O.).

III) Der Klägerin steht aber auch ein Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad nach den sozialhilferechtlichen Regelungen des SGB XII im Rahmen der Eingliederungshilfe zu.

1) Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach Abs. 3 dieser Vorschrift, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

Da die Klägerin aufgrund ihrer Bewegungseinschränkungen in ihrer Fähigkeit, sich auch ohne fremde Hilfe außerhalb ihrer Wohnung fortzubewegen und am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben, begrenzt ist, stehen ihr Leistungen zur Eingliederung in die Gesellschaft nach § 54 Abs. 1 SGB XII, u.a. i.V.m. § 55 SGB IX, dem Grunde nach zu.

2) Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden nach § 55 Abs. 1 SGB IX die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Leistungen nach Absatz 1 sind daher insbesondere die Versorgung mit anderen als den in § 31 SGB IX genannten Hilfsmitteln oder den in § 33 SGB IX genannten Hilfen (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX) sowie Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX). § 31 Abs. 1 SGB IX umschreibt – in weitgehender Übereinstimmung mit § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V – die Hilfsmittel (Körperersatzstücke sowie orthopädische und andere Hilfsmittel) nach § 26 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX, d.h. im Rahmen der medizinischen Rehabilitation nach Teil 1 Kapitel 4 des SGB IX (§ 26 bis § 32 SGB IX), als die Hilfen, die von den Leistungsempfängern getragen oder mitgeführt oder bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden können und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern oder eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind. Für die Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmen darüber hinaus § 9 Abs. 1 und 3 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglH-VO), dass die anderen Hilfsmittel im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 26, 33 und 55 SGB IX dazu bestimmt sein müssen, zum Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel beizutragen, und nur gewährt werden, wenn das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich und geeignet ist, zu dem in Absatz 1 genannten Ausgleich beizutragen, und wenn der behinderte Mensch das Hilfsmittel bedienen kann. Andere Hilfsmittel in diesem Sinne sind auch Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und zur nichtberuflichen Verwendung bestimmte Hilfsgeräte für behinderte Menschen, wenn der behinderte Mensch wegen Art und Schwere seiner Behinderung auf diese Gegenstände angewiesen ist (§ 9 Abs. 2 Nr. 12 EinglH-VO).

Folgt man der Rechtauffassung der Beklagten, wonach ein Therapiedreirad für die Klägerin kein Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V und somit auch nicht nach § 31 Abs. 1 SGB IX darstelle, ist es zumindest ein anderes Hilfsmittel i.S.v. § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX. Da es der Klägerin – wie auch von keinem Beteiligten in Zweifel gezogen – dazu dient, ihre Grundbedürfnisse zur selbständigen Existenz wahrzunehmen, ist es sowohl erforderlich als auch geeignet, ihr den Bewegungsfreiraum zu verschaffen, der ihr die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht. Insoweit reicht es aus, die Begegnung und den Umgang mit anderen Menschen im Sinne einer angemessenen Lebensführung zu fördern (BSG, Urteil vom 2. Februar 2012, Az.: B 8 SO 9/10 R, veröffentlicht in Juris). Darüber hinaus versetzt das Therapiedreirad die Klägerin in die Lage, ohne Begleitperson am gesellschaftlichen und kulturellen Leben i.S.v. § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX teilzunehmen.

3) Entgegen der Rechtsauffassung des Beigeladenen schließt § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, wonach im Rahmen der Eingliederungshilfe erbrachte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation den Rehabilitationsleistungen in der GKV entsprächen, sie also nicht übersteigen dürfen, eine Leistungspflicht nach den Regelungen der Eingliederungshilfe nicht aus. Denn der Anspruch der Klägerin beruht gerade nicht auf den die medizinische Rehabilitation betreffenden Regelungen des Kapitels 4 (§ 26ff) in Teil 1 des SGB IX, sondern auf den die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, mithin die soziale Rehabilitation, betreffenden Regelungen des Kapitels 7 (§ 55ff) in Teil 1 des SGB IX.

Darüber hinaus stehen die Leistungsbeschränkungen des SGB V einer Leistungspflicht im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (soziale Rehabilitation) nicht entgegen (BSG, Urteil vom 29. September 2009, Az.: B 8 SO 19/08 R, veröffentlicht in Juris). Die Abgrenzung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von Leistungen zur sozialen Rehabilitation erfolgt nämlich nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen; entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck. Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation können sich überschneiden. Die Zwecksetzung der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist mit der Zwecksetzung der Leistungen der GKV nicht identisch.

§ 54 Abs 1 Satz 1 SGB XII liegt, wie bereits dargelegt, ein stärker individualisiertes Förderverständnis zu Grunde als den – anderen Begrenzungen unterliegenden – Leistungen zur Hilfsmittelversorgung der GKV. Der Verordnungsgeber hat sich in § 9 EinglH-VO – wie z.B. auch in § 12 Nr. 1 EinglH-VO (hierzu BSG a.a.O.) – mit der Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit im Einzelfall begnügt, was in historisch-systematischen und teleologischen Erwägungen begründet liegt. An diesem individuellen Prüfungsmaßstab hat sich auch mit den Neuregelungen des Rehabilitations- und Teilhaberechts nach Inkrafttreten des SGB IX nichts geändert. Nach wie vor stellt das Gesetz bei den Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Besonderheiten des Einzelfalls in den Vordergrund. Nach wie vor knüpft die Möglichkeit einer Förderung auch an die (individuell zu bestimmende) "Aussicht" auf Erfolg an (BSG a.a.O.).

4) Der Klägerin ist, wie von § 19 Abs. 3 SGB XII gefordert und von der Beigeladenen bestätigt, die Aufbringung der Mittel für die Anschaffung eines Therapiedreirads aus ihrem Einkommen oder Vermögen nicht zumutbar.

a) Das nach § 82 bis 84 SGB XII zu berücksichtigende Einkommen der Klägerin übersteigt die u.a. für Leistungen der Eingliederungshilfe geltende Einkommensgrenze nach § 85 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB XII nicht. Letztere ergibt sich im Falle der Klägerin aus einem Grundbetrag in Höhe des Zweifachen der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28 SGB XII, d.h. (2 x 374.- EUR =) 748.- EUR, und den Kosten der Unterkunft i.H.v. 383,47 EUR (Bruttokaltmiete), da diese Aufwendungen den angemessenen Umfang nicht übersteigen. Demgegenüber sind im Rahmen der Einkommensprüfung nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung, ab dem 1. Juli 2011 in Höhe des monatlichen Zahlbetrages von 604,48 EUR, zu berücksichtigen. Auch im Hinblick auf die zum 1. Juli 2012 erfolgte (Brutto-)Rentenanpassung um 2,18 % (vgl. § 1 Abs. 1 Rentenwertbestimmungsverordnung 2012, BGBl. I 1389, sowie die Begründung hierzu, veröffentlicht unter http://www.bmas.de, Suchwort "Rentenanpassung") wird die o.g. Einkommensgrenze nicht erreicht.

b) Die Klägerin verfügt auch nicht über verwertbares Vermögen i.S.v. § 90 SGB XII, das sie zur Anschaffung des Therapiedreirades einsetzen müsste. IV) Ob der Anspruch der Klägerin materiell auf das Leistungsrecht des SGB XII oder des SGB V zu stützen ist, bedarf keiner weiteren Aufklärung, weil die Beklagte nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX im Verhältnis zur Versicherten in beiden Fällen für die Versorgung mit dem Therapiedreirad einzustehen hat. Dies steht auch einer Verurteilung des Beigeladenen entgegen.

1) Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verliert der materiell-rechtlich – eigentlich – zuständige Rehabilitationsträger im Außenverhältnis zum Versicherten oder Leistungsempfänger seine Leistungszuständigkeit für eine Teilhabeleistung, sobald der zuerst angegangene Rehabilitationsträger (hier: die beklagte Krankenkasse) eine i.S.v. § 14 Abs. 1 SGB IX fristgerechte Zuständigkeitsklärung versäumt hat und demzufolge die Zuständigkeit nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen auf ihn übergegangen ist. Sinn dieser Regelung ist es, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit schnell und dauerhaft zu klären und so Nachteilen des gegliederten Systems entgegenzuwirken. Dazu ist der erstangegangene Rehabilitationsträger gehalten, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang eines Antrags auf Leistungen zur Teilhabe festzustellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht möglich, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache erbringt (§ 14 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX). Andernfalls bestimmt § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX: "Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest." Diese Zuständigkeit nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX erstreckt sich im Außenverhältnis zwischen dem Antragsteller und dem erstangegangenen Rehabilitationsträger auf alle Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation rehabilitationsrechtlich vorgesehen sind. Dadurch wird eine nach außen verbindliche Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers geschaffen, die intern die Verpflichtungen des eigentlich zuständigen Leistungsträgers unberührt lässt und die Träger insoweit auf den nachträglichen Ausgleich nach § 14 Abs 4 Satz 1 SGB IX und §§ 102 ff SGB X verweist (BSG, Urteil vom 20. November 2008, Az.: B 3 KN 4/07 KR R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).

2) Erstangegangener Rehabilitationsträger i.S.v. § 14 SGB IX ist derjenige Träger, der von dem Versicherten bzw. Leistungsbezieher erstmals mit dem zu beurteilenden Antrag auf Bewilligung einer Leistung zur Teilhabe befasst worden ist. Diese Befassungswirkung fällt grundsätzlich auch nach einer verbindlichen abschließenden Entscheidung des erstangegangenen Trägers nicht weg. Vielmehr behält der erstmals befasste Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX im Außenverhältnis zum Antragsteller regelmäßig auch dann weiter bei, wenn er, ohne den Antrag an den aus seiner Sicht zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet zu haben, das Verwaltungsverfahren durch Erlass eines Verwaltungsakts abschließt (vgl. § 8 SGB X), selbst wenn dieser bindend wird (BSG a.a.O.).

3) Hiernach ist die Beklagte im Verhältnis zur Klägerin selbst dann zur Leistung verpflichtet, wenn das Therapiedreirad nicht als Leistung der GKV, sondern als solche der Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Denn sie hat die Versorgung mit diesem Hilfsmittel nur bei der Beklagten beantragt. Diese hat darüber ablehnend entschieden, ohne den Antrag innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 SGB IX an den Beigeladenen oder einen anderen aus ihrer Sicht zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. Mit Ablauf der Weiterleitungsfrist ist danach die Beklagte im Verhältnis zum Kläger zur Prüfung und ggf. Bewilligung des Leistungsbegehrens nach jeder rehabilitationsrechtlich in Betracht zu ziehenden Rechtsgrundlage, also auch nach den Regelungen des SGB XII zur Eingliederungshilfe, zuständig geworden; eine mögliche Zuständigkeit des Beigeladenen ist dadurch – im Außenverhältnis – verdrängt worden.

4) Im Ergebnis hat die Beklagte als erstangegangener Rehabilitationsträger die Klägerin mit einem Therapiedreirad zu versorgen. Dafür ist sie entweder als Trägerin der GKV originär berufen oder aber zumindest anstelle des Beigeladenen im Rahmen der Eingliederungshilfe zuständig.

V) In welcher Weise die Beklagten die Klägerin mit einem Therapiedreirad versorgt, steht in ihrem (Auswahl-)Ermessen. Insoweit steht es der Beklagten frei, die Klägerin mit einem neuen oder einem gebrauchten Therapiedreirad, ggf. aus einem kasseneigenen Hilfsmitteldepot, zu versorgen, wobei die Überlassung auch leihweise erfolgen darf.

VI) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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