S 25 KR 525/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 KR 525/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 22. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2012 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine Schiebe- und Bremshilfe V-Max einschließlich Rollstuhlhalterung, Räderpaar mit Zahnkranz und Trommelbremsen und Kippstützen zu übernehmen.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer elektrischen Schiebe- und Bremshilfe nebst Zubehör für ihren Aktivrollstuhl.

Die 2006 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Bei ihr besteht ein Rett-Syndrom mit schwerer tiefgreifender Entwicklungsstörung. Sie kann weder gehen, stehen noch sitzen. Eine Fortbewegung, eine Halte- und Greiffähigkeit, eine Sprachfähigkeit und ein altersentsprechendes Spielverhalten sind nicht gegeben. Das Rett-Syndrom manifestiert sich ausschließlich beim weiblichen Geschlecht in Form einer Stagnation der Entwicklung vom 9. bis 18. Monat an. Anschließend werden die charakteristischen Ausfälle deutlich in Form zunehmender mentaler Retardierung, Auftreten autistischer Züge, Handsterereotypien, Rumpftremor, Ataxie, Paraspastik, Skoliose, Mikrozephalie und Epilepsie. In der Regel kommt es nicht zu einem völligen Verlust erworbener Fähigkeiten, sondern es wird als ein Modell der arretierten Entwicklung angesehen. Die Klägerin erhält jeweils einmal wöchentlich physikalische, ergotherapeutische und logopädische Behandlungen. Sie ist als schwerbehinderter Mensch im Sinne des Schwerbehindertenrechts mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und den Merkzeichen "B", "G", "aG" und "H" anerkannt und bezieht von der Pflegekasse seit Juli 2008 Leistungen nach der Pflegestufe II beziehungsweise seit November 2010 nach der Pflegestufe III. Nach dem Besuch eines integrativen Kindergartens besucht sie seit 2012 eine Schule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche mit einer Abteilung für körperbehinderte praktisch Bildbare. Von der Beklagten ist die Klägerin mit einem - manuell zu bewegenden - mechanischen Kinderaktivrollstuhl und einer Sitzschale versorgt worden.

Am 28. Februar 2012 verordnete Prof. Dr. NO., Neuropädiatrie mit Sozialpädiatrischem Zentrum des Klinikums ZP., eine elektrische Schiebe- und Bremshilfe V-Max (Hilfsmittelverzeichnis – HMV – 18.99.04.1010) nach Erprobung. Entsprechend einem Kostenvoranschlag der Firma vom 14. März 2012 betragen die Kosten hierfür 2.852,55 EUR, zuzüglich Zubehör (Rollstuhlhalterung, Räder mit Zahnkranz und Trommelbremsen und Kippstützen) insgesamt 3.431,13 EUR.

Die Beklagte lehnte die am 15. März 2012 beantragte Kostenübernahme mit förmlichem Bescheid vom 22. März 2012 mit der Begründung ab, eine Mobilität der Klägerin im näheren Umfeld sei mittels eines Rollstuhls und mit Hilfe der Pflegeperson gegeben.

Dagegen legte die Klägerin am 20. April 2012 Widerspruch ein. Die Schiebehilfe werde benötigt, um die Klägerin u.a. zur Schule, zur Ergotherapie und zur Reittherapie zu bringen sowie für Spaziergänge. Die Eltern der Klägerin machten geltend, es sei ihnen beiden aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich, ihre Tochter im Sitzschalenrollstuhl (40 kg) bei einem Gesamtgewicht von 60 kg in dem bergigen Gelände ihrer Wohngegend zu schieben. Der Vater der Klägerin habe im Dezember 2011 einen Herzinfarkt mit nachfolgender Bypass-Operation erlitten. [Das Hessische Amt für Versorgung und Soziales MB stellte mit Bescheid vom 14. Mai 2012 und 15. November 2012 bei ihm den GdB mit 50 fest wegen der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen 1. Koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck; 2. Seelische Störungen; 3. Funktionsstörung der Wirbelsäule mit Ausstrahlungen; 4. Beinfunktionsstörungen rechts.] Nach einem vorgelegten ärztlichen Attest des Facharztes für Orthopädie Dr. J vom 25. Juni 2012 bestehen bei der Mutter der Klägerin eine chronisch rezidivierende Lumboischialgie, eine starke Spondylarthrose mit Bandscheibendegeneration, eine Skoliose, eine muskuläre Dysfunktion und eine Kiefergelenksdysfunktion.

In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) DM vom 4. Juli 2012 gelangte die ärztliche Gutachterin Dr. P nach Aktenlage zu der Beurteilung, dass das Hilfsmittel medizinisch nicht notwendig sei. Hierzu wird ohne Begründung angeführt, die Mutter der Klägerin könne den Rollstuhl auf ebener Strecke ohne Unterstützung durch eine Schiebehilfe schieben. Hingegen benötige der Vater aus medizinischen Gründen eine elektrische Schiebehilfe.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 2012 als unbegründet zurück. Zur Begründung ihrer Entscheidung führte sie im Wesentlichen aus, sie habe mit dem Rollstuhl mit Sitzschale für den Basisausgleich der Behinderung gesorgt. Damit sei die Klägerin mit Hilfe ihrer Eltern im Nahbereich mobilisiert. Die Wohnanlage sei für die Entscheidung über die Notwendigkeit der beantragten Schiebehilfe nicht maßgeblich. Für kurze Spaziergänge in ebenem Gelände könnten die Eltern ihre Tochter schieben. Das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden zu verstehen. Dabei sei auf die Fähigkeit abzustellen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Nicht entscheidend seien die konkreten, individuell gestalteten Wohn- und Lebensverhältnisse des einzelnen Versicherten (Verweis auf Bundessozialgericht )BSG(, Urteil vom 7. Oktober 2010 – B 3 KR 13/09 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 31 = BSGE 107, 44-56 – Scalamobil).

Am 16. Oktober 2012 hat die Klägerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Sie trägt vor, die Brems- und Schiebehilfe für den Rollstuhl sei zur Erfüllung der allgemeinen Grundbedürfnisse des körperlichen Freiraums, des Erlernens eines lebensnotwendigen Grundwissens beziehungsweise eines Schulwissens und der Integration unter Gleichaltrigen erforderlich. Beide Elternteile seien aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht in der Lage, den vorhandenen Rollstuhl ohne die Brems- und Schiebehilfe in ausreichendem Maße fortzubewegen. Maßstab für die Fähigkeit der Eltern als Begleitperson seien die generellen durchschnittlichen Wohn- und Lebensverhältnisse und nicht der von der Beklagten verwandte Idealmaßstab "Ebene". Die Klägerin wohne in einer Region zwischen ZM., ZN., X und Y, die durch eine hügelige Umgebung geprägt sei. In dieser großräumigen Region gehöre es zu den typischen und damit generellen und durchschnittlichen Wohn- und Lebensverhältnissen, dass Steigungen überwunden werden müssen. Abzustellen sei nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) auf die Erforderlichkeit im "Einzelfall" und damit auf die individuellen Verhältnisse. Des Weiteren kritisiert die Klägerin die vom Bundessozialgericht vorgenommene Unterscheidung zwischen einem unmittelbaren und einem mittelbaren Behinderungsausgleich als Verstoß gegen das Willkürverbot und gegen § 10 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I), die einen Rollstuhlfahrer gegenüber einem Prothesenträger benachteilige.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine Schiebe- und Bremshilfe V Max einschließlich Rollstuhlhalterung, Räderpaar mit Zahnkranz und Trommelbremsen und Kippstützen zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung aus den Gründen des Widerspruchsbescheides für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kostenübernahme für eine Schiebe- und Bremshilfe nebst Rollstuhlhalterung, Räderpaar mit Zahnkranz und Trommelbremsen und Kippstützen als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Hiervon ausgehend durfte die Beklagte die Versorgung mit der begehrten Schiebe- und Bremshilfe nicht ablehnen. Die Klägerin hat einen Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einer Schiebe- und Bremshilfe nebst Zubehör als Hilfsmittel, um eine Behinderung auszugleichen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Alternative 3 SGB V).

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der 3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 - 3 RK 38/94 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 18; BSG, Urteil vom 17. Januar 1996 - 3 RK 16/95 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 20; BSG, Urteil vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 15). Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2007 B 3 KR 9/06 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 15; BSG, Urteil vom 16. September 2004 B 3 KR 19/03 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 7 = BSGE 93, 176; BSG, Urteil vom 26. März 2003 - B 3 KR 23/02 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 3 = BSGE 91, 60 m.w.N.).

Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehören u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens beziehungsweise eines Schulwissens. Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten (BSG, Urteil vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 15 = BSGE 98, 213-219) aufzusuchen, nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 31 RdNr. 18 = BSGE 107, 44-56 - Scalamobil; BSG, Urteil vom 24. Mai 2006 - B 3 KR 12/05 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 11 RdNr. 18).

Im Falle der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der "Bewegungsfreiheit" betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw. sichergestellt wird (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juni 1994 - 3/1 RK 13/93 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 7 - Rollstuhlboy). Das hier betroffene Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 31 = BSGE 107, 44-56 - Scalamobil). Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs der Wohnung ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt (BSG, Urteil vom 12. August 2009 B 3 KR 8/08 - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 RdNr. 15 - Elektrorollstuhl). Dies entspricht dem Umkreis, der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (vgl. zu diesem Maßstab BSG, Urteil vom 13. Mai 1998 - B 8 KN 13/97 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 28 Seite 163 - Therapie-Tandem II; BSG, Urteil vom 29. September 1997 - 8 RKn 27/96 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 25 Seite 141 - Therapie-Tandem I; BSG, Urteil vom 8. Juni 1994 - 3/1 RK 13/93 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 7 Seite 26 - Rollstuhl-Boy).

Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab (BSG, Urteil vom 20. November 2008 B 3 KN 4/07 KR R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 21 RdNr. 14 - Kraftknoten; BSG, Urteil vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R - BSGE 98, 213 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 15 RdNr. 17 behinderungsgerechter PKW). Der Nahbereich wird nicht im Sinne einer Mindestwegstrecke beziehungsweise einer Entfernungsobergrenze festgelegt, sondern lediglich beispielhaft im Sinne der Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (stRspr, BSG, Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 Seite 187 - Rollstuhl-Bike II; BSG, Urteil vom 10. März 2011 - B 3 KR 9/10 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 33 RdNr. 15 - Barcodelesegerät), wobei allerdings die Fähigkeit, eine Wegstrecke von 100 m (BSG, Urteil vom 21. November 2002 - B 3 KR 8/02 R - USK 2002-88 = juris RdNr. 16 - Therapie-Tandem IV) beziehungsweise 200 m (BSG, Urteil vom 24. Mai 2006 - B 3 KR 16/05 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 12 RdNr. 15 - Liegedreirad) zurückzulegen, nicht als ausreichend zur Erschließung des Nahbereichs angesehen worden ist. Dagegen umfasst der von der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährleistende Basisausgleich nicht die Fähigkeit, weitere Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer, zu bewältigen (BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R juris - Rollstuhl-Bike; BSG, Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3 2500 § 33 Nr. 31 Seite 186 - Rollstuhl-Bike II).

Dem Nahbereich sind beim mittelbaren Behinderungsausgleich solche Wege zuzuordnen, die räumlich einen Bezug zur Wohnung und sachlich einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit beziehungsweise der selbstständigen Lebensführung aufweisen. In räumlicher Hinsicht ist der Nahbereich auf den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten beschränkt. Diese ist Ausgangs- und Endpunkt der zum Nahbereich zählenden Wege, sodass die Mobilität für den Hin- und Rückweg durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen ist. Hierfür sind allerdings nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend, weil der Nahbereich ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens konkretisiert und somit die Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels als objektive Anspruchsvoraussetzung betrifft. Sachlich umfasst der Nahbereich gesundheitserhaltende Wege, Versorgungswege sowie elementare Freizeitwege. Zu den gesundheitserhaltenden Wegen zählen Entfernungen, die zur Aufrechterhaltung der physischen und psychischen Existenz zurückgelegt werden (z.B. Besuch von Ärzten und Therapeuten, Aufsuchen der Apotheke). Der Versorgungsweg umschreibt dagegen die Fähigkeit, die Wohnung zu verlassen, um die für die Grundbedürfnisse der selbstständigen Existenz und des selbstständigen Wohnens notwendigen Verrichtungen und Geschäfte (Einkauf, Post, Bank) wahrnehmen zu können. Die Mobilität für Freizeitwege ist in Abgrenzung zu der durch andere Leistungsträger sicherzustellenden Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft jedoch nur durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abzudecken, wenn (und soweit) diese Wege von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind. In diesem Sinne zählen zu den Freizeitwegen Entfernungen, die bewältigt werden müssen, um die körperlichen Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten (kurzer Spaziergang an der frischen Luft) und um sich einen für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraum zu erschließen (z.B. Gang zum Nachbarn zur Gewährleistung der Kommunikation oder zum Zeitungskiosk zur Wahrnehmung des Informationsbedürfnisses - BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R - juris - Rollstuhl-Bike).

Im Einzelfall sind allerdings auch Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, von der Krankenkasse zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen z.B. vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 RdNr. 24 Elektrorollstuhl) oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, sind vom BSG in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger (BSG, Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 31/04 R - SozR 4 2500 § 33 Nr. 10 RdNr. 16 - Reha-Kinderwagen; BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 B 3 KR 3/02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 Seite 258 f - Therapiedreirad; BSG, Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 9/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 Seite 158 f - Rollstuhl-Bike I) sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation (BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7 RdNr. 13 ff. - schwenkbarer Autositz II) gesehen worden. Zur Beantwortung der Frage, ob besondere qualitative Umstände ausnahmsweise die Gewährung eines Rollstuhl-Bikes erfordern, sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls maßgebend (BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 12/10 R - juris - Rollstuhl-Bike).

Ausgehend von diesen Grundsätzen können Versicherte, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen verloren oder - wie die Klägerin - nicht erlernt haben, zur Erhaltung ihrer Mobilität auch eine Brems- und Schiebehilfe als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, soweit ein Rollstuhl alleine für ihre Fortbewegung nicht ausreicht. Die Brems- und Schiebehilfe ist kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil sie von Gesunden nicht benutzt wird. Sie wird auch nicht von der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB V über den Ausschluss von Heil- und Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis erfasst. Eine Brems- und Schiebehilfe für den Rollstuhl ersetzt nicht die bei der Klägerin nicht ausgebildete Funktion des Gehens. Sie kompensiert diese ausgefallene Funktion nur teilweise, und zwar nur in Verbindung mit einer dritten Person; es handelt sich um einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Ist diese Hilfsperson körperlich nicht in der Lage, den Versicherten über eine relevante Strecke zu schieben, so ist durch die gesetzliche Krankenversicherung eine Schiebe- und Bremshilfe zur Verfügung zu stellen.

Die Klägerin kann aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" nicht aus eigener Kraft befriedigen. Ihr ist es nur möglich, durch die Inanspruchnahme Dritter im Nahbereich der Wohnung bei einem Spaziergang "an die frische Luft zu kommen", die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind sowie Ärzte und Therapeuten aufzusuchen und die Schule zu besuchen. Dafür genügt bei der Klägerin die Versorgung mit einem Kinderaktivrollstuhl allein nicht. Denn für ihre Fortbewegung außerhalb der Wohnung bedarf sie in Anbetracht ihres Körpergewichts (20 kg) und desjenigen ihres Rollstuhls mit Sitzschale (40 kg) sowie der gesundheitlichen Einschränkungen ihrer Eltern zusätzlich einer Brems- und Schiebehilfe; andernfalls ist es der schiebenden Person unzumutbar, die Klägerin fortzubewegen.

Dies gilt aufgrund des fortzubewegenden Gesamtgewichts sowohl für den Vater als auch für die Mutter der Klägerin und unabhängig von den konkreten tatsächlichen Verhältnissen im Nahbereich (vgl. insoweit BSG, Urteil vom 07. Oktober 2010 - B 3 KR 13/09 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 31 = BSGE 107, 44-56 RdNr. 24 - Scalamobil). Denn das Überwinden von Bordsteinkanten und Rampen ist in jedem Wohnumfeld unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die nur mit einer Brems- und Schiebehilfe ausreichend beherrscht werden können.

Das Bundessozialgericht hat für den Rollstuhlfahrer selber festgestellt, dass das Grundbedürfnis der Fortbewegung im Nahbereich nur dann befriedigt ist, wenn er ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in der Lage ist, sich in normalem Rollstuhltempo fortzubewegen (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 - Rdnr. 24 - Elektrorollstuhl). Der gleiche Maßstab muss für die in Anspruch genommene Hilfsperson gelten. Ist diese nicht mehr in der Lage, ohne übermäßige Anstrengung den Rollstuhl schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu schieben, so ist es ihr nicht mehr zuzumuten, den Rollstuhl ohne Schiebe- und Bremshilfe zu schieben.

Hier leiden die in Betracht kommenden Hilfspersonen (Mutter und Vater) unter gesundheitlichen Einschränkungen, sodass ihnen das Schieben der Klägerin ohne elektrische Schiebehilfe unmöglich beziehungsweise unzumutbar ist. Bei dem Vater der Klägerin bestehen ein Zustand nach Herzinfarkt mit Bypass-Operation, Koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Funktionsstörung der Wirbelsäule mit Ausstrahlungen und Beinfunktionsstörungen rechts. Der MDK DM hat in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2012 bestätigt, dass der Vater der Klägerin aus medizinischen Gründen eine elektrische Schiebehilfe benötigt, um seine Tochter im Rollstuhl auf ebener Strecke zu schieben, was von der Beklagten völlig außer Acht gelassen wird. Nach Überzeugung der Kammer gilt Gleiches auch für die Mutter der Klägerin. Bei ihr bestehen nach dem ärztlichen Attest des Facharztes für Orthopädie Dr. J vom 25. Juni 2012 eine chronisch rezidivierende Lumboischialgie, eine starke Spondylarthrose mit Bandscheibendegeneration, eine Skoliose und eine muskuläre Dysfunktion. Angesichts dieser Diagnosen erscheint es der Kammer nachvollziehbar, dass die Mutter der Klägerin bei einer Körpergröße von 158 cm und einem Gewicht von 53 kg nicht mehr in der Lage ist, die Klägerin im Rollstuhl mit Sitzschale bei einem Gesamtgewicht von 60 kg ohne Unterstützung durch eine elektrische Schiebehilfe fortzubewegen. Auch in der Ebene ist das Überwinden von Bordsteinkanten, Treppenstufen und Rampen unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die von der Mutter der Klägerin nur mit einer Brems- und Schiebehilfe ausreichend beherrscht werden können.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist nicht auf den Idealmaßstab einer durchgehend vorhandenen "Ebene" im Nahbereich der Wohnung abzustellen. Zwar hat das Bundessozialgericht entschieden, dass es auf Besonderheiten des konkreten Wohnungsumfeldes eines Versicherten z. B. hinsichtlich der Entfernung zu Einkaufsmöglichkeiten oder bezüglich topografischer Besonderheiten der Wohnumgebung nicht ankommt. Entscheidend sei vielmehr ein allgemeiner an durchschnittlichen Lebens- und Wohnverhältnissen orientierter Maßstab, der erfüllt sein muss, um die Ausstattung eines gehunfähigen oder gehbehinderten Menschen mit einem Elektrorollstuhl, beziehungsweise einer elektrische Schiebehilfe zu rechtfertigen (BSG, Urteil vom 12. August 2009 - B 3 KR 8/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 27 - Rdnr. 24 - Elektrorollstuhl). Durchschnittliche Wohnverhältnisse bedeuten jedoch nicht eine für einen Rollstuhlfahrer optimale Wohnumgebung ohne jegliche An- und Abstiege. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass auch in einem durchschnittlichen Wohnbereich mit kleineren Anstiegen und Gefällen zu rechnen ist. Vorliegend sind für Spaziergänge in der allernächsten Umgebung Steigungen zu überwinden. Mit kurzen Steigungen muss auch in einem durchschnittlichen Wohngebiet gerechnet werden. Ist die Hilfsperson - wie hier die Eltern der Klägerin - ohne Schiebe- und Bremshilfe nicht in der Lage, kurze Steigungen zu überwinden, so ist die Schiebe- und Bremshilfe zu gewähren.

Dessen ungeachtet berücksichtigt die angefochtene Entscheidung der Beklagten nicht das Wahlrecht der Klägerin auf Auswahl der sie im Rollstuhl schiebenden Hilfsperson. Die Klägerin kann sich aussuchen, mit welchem Elternteil sie ihr Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums verwirklichen will. Sie kann nicht ausschließlich auf ihre Mutter als Hilfsperson verwiesen werden, die nach Auffassung der Beklagten noch in der Lage sein soll, den Rollstuhl auf ebener Strecke ohne Unterstützung durch eine Schiebehilfe zu schieben. Vielmehr hat die Klägerin einen Anspruch darauf, ihr Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums auch mit Hilfe ihres hierzu bereiten Vaters zu befriedigen. Dieser ist jedoch nach Feststellung des MDK DM in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2012 aus medizinischen Gründen nicht fähig, seine Tochter im Rollstuhl ohne elektrische Schiebe- und Bremshilfe auch nur auf ebener Strecke zu schieben.

Schließlich ist die streitgegenständliche Schiebe- und Bremshilfe erforderlich im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 Alternative 3 SGB V, weil ihr Einsatz ohne Einschränkung auf den Nahbereich der Wohnung zur Lebensbetätigung im Rahmen eines qualitativ erweiterten Grundbedürfnisses benötigt wird. Denn bei der Klägerin besteht eine Behinderung, die sie an der Integration in das Lebensumfeld und der Teilnahme an der üblichen Lebensgestaltung nicht behinderter Gleichaltriger im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse hindert. Die inzwischen fast sieben Jahre alte Klägerin ist infolge ihrer Behinderung unstreitig nicht in der Lage, sich selbständig fortzubewegen. Ihre durch das Rett-Syndrom aufgehobene Mobilität wird durch das streitgegenständliche Hilfsmittel in geeigneter Weise erweitert. Ohne dieses Hilfsmittel ist ihr Grundbedürfnis auf die elementare Bewegungsfreiheit zur Teilnahme an der üblichen Lebensgestaltung nicht behinderter Gleichaltriger, d. h. die Integration in den Kreis gleichaltriger Kinder als Bestandteil des sozialen Lernprozesses nicht gewährleistet.

Dient ein Hilfsmittel nur dem Zweck, einen größeren Radius als ein Fußgänger zu erreichen, so ist es im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V nicht notwendig. Nur wenn hierdurch ein weitergehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein. Das Bundessozialgericht hat derartige Umstände bei behinderten Kindern und Jugendlichen angenommen. Die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung ergibt sich hier nicht aus der rein quantitativen Erweiterung des Bewegungsradius, sondern aus dem Gesichtspunkt der Integration des behinderten Kindes/Jugendlichen in das Lebensumfeld nicht behinderter Gleichaltriger (zur vergleichbaren Ermöglichung des Schulbesuchs BSG, Urteil vom 2. August 1979 - 11 RK 7/78 - SozR 2200 § 182 b Nr. 13 - Faltrollstuhl). In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen lassen sich die Lebensbereiche nicht in der Weise trennen wie bei Erwachsenen, nämlich in die Bereiche Beruf, Gesellschaft und Freizeit. Das Bundessozialgericht hat deshalb stets nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht als Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen angesehen (BSG, Urteil vom 22. Juli 1981 - 3 RK 56/80 - SozR 2200 § 182 Nr. 73 - Sportbrille; BSG, Urteil vom 6. Februar 1997 - 3 RK 1/96 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 22 - Computer), sondern sieht auch ein Grundbedürfnis an der Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes beziehungsweise Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird (BSG, Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 9/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 - Rollstuhl-Bike für Jugendliche; BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 - B 3 KR 3/02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 - behindertengerechtes Kinder-Dreirad; BSG, Urteil vom 30. Januar 2001 - B 3 KR 6/00 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 39 - Therapiedreirad).

Der Geeignetheit steht nicht entgegen, dass die Klägerin den ihr zur Verfügung stehenden Rollstuhl nicht selbständig nutzen kann und auf Hilfestellung ihrer Eltern oder einer anderen erwachsenen Person angewiesen ist. Die soziale Integration ist hierdurch nicht ausgeschlossen. Zwar wird die Anwesenheit eines Erwachsenen von Jugendlichen bei Aktivitäten, mit denen Sie gerade Selbstständigkeit und Unabhängigkeit beweisen wollen, üblicherweise nicht akzeptiert (vgl. BSG, Urteil vom 21. November 2002 - B 3 KR 8/02 R - USK 2002-88 = juris - Rdnr. 19 - Therapie-Tandem). Dieser Grundsatz kann allerdings nicht uneingeschränkt für jede Altersgruppe gelten. Sicherlich ist eine soziale Integration bei Jugendlichen und älteren Kindern regelmäßig nicht mehr zu erreichen, wenn ein Erwachsener anwesend ist. Anders gestaltet sich die Situation jedoch bei Kindern im Grundschulalter (sechs bis zehn Jahre). Auch normale, gesund entwickelte Kinder bedürfen in diesem Alter noch der regelmäßigen Aufsicht durch Kontrolle und Beobachtung (vgl. die Rechtsprechungsübersicht in Bamberger/Roth., Beck’scher Online -Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, § 832 Rdnr. 19 bis 31). Dies muss erst recht bei der Teilnahme am Straßenverkehr gelten. Insoweit kann die Geeignetheit der Schiebe- und Bremshilfe für den Aktivrollstuhl bei der sechsjährigen Klägerin nicht mit der Begründung verneint werden, dass eine soziale Integration wegen der Anwesenheit einer Begleitperson nicht möglich sei. Im Übrigen ist nicht immer uneingeschränkt auf die Integration von gleichaltrigen Kindern abzustellen. Liegt eine geistige Behinderung vor, ist es im Einzelfall sachgerecht, bei der Integration das "Entwicklungsalter" des Versicherten zugrunde zu legen (SG Frankfurt am Main, Urteil vom 18. Dezember 2012 - S 25 KR 116/11; SG Fulda, Urteil vom 16. Dezember 2010 - S 11 KR 7/09 - juris). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass bei der Klägerin eine schwere und tiefgreifende Entwicklungsstörung besteht. Diese Behinderung darf ihr jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Auch diesen Kindern steht das Grundbedürfnis auf elementare Bewegungsfreiheit und Integration in den Kreis Gleichaltriger zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved