S 14 AS 4157/12

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 14 AS 4157/12
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Macht der Leistungsempfänger von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die ihm zustehenden Mittel anzusparen bzw. so zu verwenden, dass sie ihm zeitversetzt erneut zur Verfügung stehen, ist aus § 11 a Abs. 1 Nr. 1 SGB II auch der Schluss zu ziehen, dass auch diese zurückgelegten Leistungen in dem Zeitpunkt, in dem sie dann wieder zur Verfügung stehen, nicht als Einkommen anzurechnen sind.

2. Vor diesem Hintergrund sind im Wege der teleologischen Auslegung des § 22 Abs. 3 SGB II auch Rückzahlungen, die sich auf die Kosten der Unterkunft und Heizung beziehen, aber durch Aufwendungen aus der Regelleistung während des Leistungsbezuges entstanden sind, ebenfalls von der Anrechnung auszunehmen. § 22 Abs. 3 SGB II verdrängt insoweit nicht die o. g. Wertung, „angesparte“ Leistungen nach dem SGB II von der Anrechnung als Einkommen auszunehmen.
I. Der Bescheid des Beklagten vom 06.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.06.2012 wird aufgehoben.

II. Der Beklagte hat der Klägerin deren Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anrechnung einer Nebenkostenerstattung auf die der Klägerin zustehenden Leistungen nach dem SGB II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) im Monat August 2011.

Die Klägerin bezog im Jahr 2010 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunter-altes nach dem SGB II vom Beklagten. In dieser Zeit erbrachte der Beklagte die Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung nicht in tatsächlicher Höhe, sondern kürzte die Leistungen um monatlich mindestens 35,95 EUR. Diesen Fehlbetrag zahlte die Klägerin gleichwohl an den Vermieter.

Der Beklagte bewilligte der Klägerin zunächst mit Bescheid vom 15.04.2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum Mai bis Oktober 2011. Am 12.07.2011 erhielt die Klägerin aufgrund der Nebenkostenabrechnung für ihre Wohnung für den Zeitraum Januar bis Dezember 2010 ein Guthaben in Höhe von 229,76 EUR auf ihr Konto erstattet. Nach Anhörung erließ der Beklagte am 06.06.2012 einen Änderungsbescheid und hob die Bewilligung vom 15.04.2011 für den Zeitraum August 2011 auf und setzte die Leistungen zugleich neu fest. Dabei rechnete er die erzielten 229,76 EUR als Einkommen bedarfsmindernd bei den Kosten der Unterkunft und Heizung an. Die aus seiner Sicht zuviel geleisteten 229,76 EUR rechnete er gegen die zukünftig zustehenden Leistungen auf. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 388 ff. d. LA (Leistungsakte) verwiesen.

Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Er wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28.06.2012 zurückgewiesen.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der streitgegenständlichen Klage. Sie ist der Meinung, die erhaltene Nebenkostenerstattung sei nicht als Einkommen anzurechnen. Die Erstattung sei allein dadurch verursacht worden, dass sie, bezogen auf den Verbrauch, zu hohe Vorauszahlungen leistete. Diese habe sie mit Blick auf die vom Beklagten vorgenommenen Kürzungen jedoch von ihrer Regelleistung aufgebracht. Eine Anrechnung sei dementsprechend ausgeschlossen. In der Folge könne auch die vorgenommene Aufrechnung des als Erstattung geforderten Betrages von 229,76 EUR auf die in der Folge zustehenden Leistungen keinen Bestand haben.

Die Klägerin beantragt:

Der Bescheid vom 06.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2012 wird aufgehoben.

Der Beklagte beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte ist der Meinung, dass die Nebenkostenerstattung bedarfsmindernd auf die Kosten der Unterkunft und Heizung im Folgemonat anzurechnen sei. Das Gesetz sei insoweit eindeutig.

Das Gericht hat mit den Beteiligten den Sach- und Streitstand im Erörterungstermin am 19.02.2013 erörtert. Die Beteiligten haben sich dabei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des Vortrages der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte ergänzend verwiesen. Darüber hinaus wird auf die beim Beklagten beigezogene Leistungsakte, insbe-sondere Bl. 206 – 302 sowie Bl. 388 – 416, ebenfalls ergänzend Bezug genommen. Auch sie diente der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) entscheiden, da sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise im Erörterungstermin vom 19.02.2013 einverstanden erklärt haben.

II.

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Änderungsbescheid vom 06.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.06.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

1. Das SGB X (Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) ist gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verwaltungsverfahren anzuwenden, die Leistungen nach dem SGB II betreffen. Mit dem angefochtenen Bescheid wird nach Erlass des ursprünglichen Bewilligungsbescheides erzieltes Einkommen angerechnet. Richtige Rechtsgrundlage für eine solche Anrechnung ist § 48 SGB X.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im vorliegenden Fall fehlt es an einer wesentlichen Änderung. Zwar ist das Einkommen aus der Erstattung nach Erlass der ursprünglichen Bewilligung tatsächlich hinzu-getreten, jedoch ist diese Änderung nicht wesentlich. Dies wäre sie dann, wenn sie dazu führte, dass der Beklagte den zu ändernden Bescheid unter Berücksichtigung der Änderung nicht mehr in der ursprünglichen Form erlassen könnte. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Denn bei der erhaltenen Nebenkostenerstattung handelt es sich nicht um anzurechnendes Einkommen.

a) Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen Einnahmen in Geld- oder Geldeswert abzüglich der nach § 11 b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11 a SGB II genannten Einnahmen zu berücksichtigen. In stetiger Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht herausgearbeitet, dass Einkommen grundsätzlich all das ist, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält (vgl. Urteil des BSG vom 24.02.2011, Az.: B 14 AS 45/09 R, Rn. 19 m.w.N.). Davon ausgehend handelt es sich bei der Erstattung zuviel geleisteter Nebenkosten um Einkommen. Die Erstattungsforderung entsteht erst im Zeitpunkt der endgültigen Abrechnung nach Abschluss eines vertraglich festgelegten Zeitraums. Bis zu diesem Zeitpunkt handelt es sich bei den Vorauszahlungen hingegen um auf Grund des Mietvertrages geschuldete Leistungen, die durch die Zahlungen jeweils erfüllt wurden. Dementsprechend stellt das Guthaben aus einer Nebenkostenabrechnung im Zeitpunkt seines Zuflusses einen Wertzuwachs für den Leistungsempfänger dar.

b) Einschränkend ist jedoch zu beachten, dass das Gesetz in § 11 a Abs. 1 Nr. 1 SGB II aus-drücklich vorsieht, dass Leistungen nach dem SGB II nicht als Einkommen im Sinne des SGB II zu berücksichtigen sind. In erster Linie verhindert diese Vorschrift, dass es bei der Ermittlung der nach dem SGB II zustehenden Leistungen zu einem Zirkelschluss kommt. Denn wenn als Leistungen alles das anzurechnen ist, was jemand wertmäßig während des Leistungsbezuges dazu erhält, müssten an sich auch die Leistungen nach dem SGB II als Einkommen berücksichtigt werden. Darüber hinaus erfährt diese Vorschrift eine weitere Bedeutung im Zusammenspiel mit § 20 SGB II. Denn der Regelsatz wird im Bereich des SGB II als Pauschale gewährt. Dadurch wird der Leistungsempfänger in die Lage versetzt, die Regelleistung, die anhand eines Statistikmodells berechnet wurde, nach eigenem Bedarf und eigenen Prioritäten zu verwenden. Macht der Leistungsempfänger sodann von der damit eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die ihm zustehenden Mittel, auf welcher Art auch immer, anzusparen bzw. so zu verwenden, dass sie ihm zeitversetzt erneut zur Verfügung stehen, ist aus § 11 a Abs. 1 Nr. 1 SGB II auch der Schluss zu ziehen, dass auch diese zurückgelegten Leistungen in dem Zeitpunkt, in dem sie dann wieder zur Verfügung stehen, nicht als Einkommen anzurechnen sind. Insoweit schließt sich die Kammer ausdrücklich den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 23.08.2011, Az.: B 14 AS 185/10 R, Rn. 13 ff., zitiert nach Juris, an. Jede andere Entscheidung würde die Möglichkeit, einen Teil der Regelleistung anzusparen, aushebeln und letztlich zum o. g. Zirkelschluss, wenn auch zeitversetzt, führen. c) Zur Überzeugung der Kammer ist auch in Fällen, in denen ein Guthaben durch Nebenkostenvorauszahlung erzielt worden ist, die aus der Regelleistung bestritten wurden, von einer Anrechnung als Einkommen abzusehen (im Ergebnis ebenso das SG Chemnitz im Urteil vom 31.01.2013, Az.: S 40 AS 5401/11, Rn. 29 ff., zitiert nach Juris; Piepenstock in juris-PK-SGB II, 3. Aufl. 2012, Stand 08.01.2013, § 22 Rn. 136.)

Zwar sieht § 22 Abs. 3 SGB II vor, dass Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen sind, die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift mindern. In der Folge wären vom Wortlaut sämtliche Rückzahlungen unabhängig von der Frage, durch wessen Leistungen sie verursacht wurden, erfasst. Allerdings ist diese Auswirkung nicht von Sinn und Zweck dieser Vorschrift gedeckt. Sie soll im Wesentlichen sicherstellen, dass Rückzahlungen aus Leistungen, die von den Kommunen erbracht wurden, entgegen § 19 Abs. 3 Satz 2 SGB II auch diesen zugute kommen. Deutlich wird dies insbesondere dadurch, dass gemäß § 22 Abs. 3 a. E. SGB II Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für Haushaltsenergie beziehen, von der Anrechnung ausdrücklich ausgenommen werden. Dies gilt mit Blick auf den uneingeschränkten Wortlaut auch dann, wenn solche Kosten zusammen mit den übrigen un-terkunftsbezogenen Kosten abgerechnet werden. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei den Kosten der Haushaltsenergie um Kosten handelt, die ohnehin aus der Regelleistung zu bestreiten sind. Vor diesem Hintergrund sind im Wege der teleologischen Auslegung des § 22 Abs. 3 SGB II auch Rückzahlungen, die sich auf die Kosten der Unterkunft und Heizung beziehen, aber durch Aufwendungen aus der Regelleistung während des Leistungsbezuges entstanden sind, ebenfalls von der Anrechnung auszuneh-men. § 22 Abs. 3 SGB II verdrängt insoweit nicht die o. g. Wertung, "angesparte" Leistun-gen nach dem SGB II von der Anrechnung als Einkommen auszunehmen.

d) Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Klägerin im Abrechnungszeitraum Januar bis Dezember 2010 jedenfalls deutlich mehr Kosten der Unterkunft und Heizung aus ihrer Regelleistung gezahlt hat, als sie letztlich erstattet bekam. Dementsprechend ist das erzielte Guthaben insgesamt nicht anzurechnen. Eine wesentliche Änderung liegt damit nicht vor.

2. In der Folge können auch die erfolgte Erstattungsforderung sowie die erklärte Aufrechnung keinen Bestand haben. Der angefochtene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist daher vollständig aufzuheben.

III.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und orientiert sich am vollständigen Obsiegen der Klägerin.

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 2 Satz 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Dem Gericht ist bekannt, dass in einer Vielzahl von Fällen Kosten der Unterkunft und Heizung durch Leistungsempfänger aus der Regelleistung "aufgestockt" werden. Dementsprechend handelt es sich bei dem vorliegenden Fall nicht um einen Einzelfall. Wie Nebenkostenerstattungen in diesen Fällen zu behandeln sind, ist bislang nicht höchstrichterlich geklärt, sondern vom BSG in der Entscheidung vom 16.05.2012, Az.: B 4 AS 132/11 R, Rn. 19, zitiert nach Juris, ausdrücklich offen geblieben.
Rechtskraft
Aus
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