L 1 KR 149/12

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 25 KR 175/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 149/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für die Beantwortung der Frage, ob eine elektrische Brems- und Schiebehilfe zur Fortbewegung eines auf den Rollstuhl angewiesenen ca. 60 kg schweren Versicherten erforderlich ist, ist nicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit einer durchschnittlichen Pflegeperson abzustellen, sondern auf die Leistungsfähigkeit der jeweils in Betracht kommenden Schiebeperson.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 23. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger mit einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe für den von ihm genutzten Multifunktionsrollstuhl, der ihm durch Bescheid der Beklagten vom 5. August 2009 bewilligt worden war, zu versorgen hat.

Der am 1958 geborene Kläger leidet unter einem apallischen Syndrom. Er ist der Pflegestufe III zugeordnet und lebt in der Facheinrichtung für Intensivpflege der Beigeladenen. Er ist nicht dazu in der Lage, einen Rollstuhl selbstständig zu nutzen. Da seine Mutter inzwischen selbst auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, wird er mittlerweile nur noch von seinem Vater, der am 1936 geboren ist, mehrmals wöchentlich auch außerhalb des Pflegeheimgeländes ausgefahren. Der dem Kläger zur Verfügung stehende Multifunktionsrollstuhl wiegt 30 kg, das Körpergewicht des Klägers beträgt 66 kg.

Am 22. Dezember 2010 beantragte die Firma I Rehatechnik für den Kläger unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin H vom 13. Dezember 2010 und unter Vorlage eines Kostenvoranschlages vom 17. Dezember 2010 über 4.245,70 EUR die Kostenübernahme für eine Brems- und Schiebehilfe durch die Beklagte.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2011 lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme mit der Begründung ab, der mit Bescheid vom 5. August 2009 zur Verfügung gestellte Rollstuhl gewährleiste den durch die gesetzliche Krankenversicherung geschuldeten Basisausgleich.

Hiergegen legte die Mutter des Klägers – zugleich dessen Betreuerin - am 8. Februar 2011 mit der Begründung Widerspruch ein, der Rollstuhl sei für ihren Sohn nicht nur Mittel zur Mobilisation, sondern auch eine Möglichkeit, örtlich mobil zu sein. Sie und ihr Ehegatte besuchten ihren Sohn fast täglich (mindestens fünfmal wöchentlich). Sie gingen mit ihm bei Wind und Wetter spazieren. So ermöglichten sie ihm, Zeit an der frischen Luft zu verbringen und andere Eindrücke durch die wechselnde Umgebung zu gewinnen. Die sichere Nutzung des Rollstuhls sei mittlerweile nicht mehr gegeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bestehe der Verwendungszweck eines Hilfsmittels ganz überwiegend und somit schwerpunktmäßig darin, die Durchführung der Pflege zu ermöglichen oder zu erleichtern, so begründe allein die Tatsache, dass es auch dem Behinderungsausgleich diene, nicht die Leistungspflicht der Krankenkassen. Vielmehr sei dann das Pflegeheim dazu verpflichtet, den Versicherten mit dem Hilfsmittel zu versorgen. Das Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes könne nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden werden. Bei der Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis könne daher nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt werden, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege. Zu dem Grundbedürfnis zähle damit die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, zu erreichen, wobei es auf die Besonderheiten des Wohnortes und Wohngebietes nicht ankomme. Der Lebensmittelpunkt des Klägers sei die Facheinrichtung für Intensivpflege. Für deren Bewohner würden im Rahmen der aktivierenden Pflege Alltagsgeschäfte vom Träger organisiert. Sollten die dort beschäftigten Pflegepersonen nicht in der Lage sein, den Kläger im Rollstuhl zu schieben, gehöre eine elektrische Brems- und Schiebehilfe in die Ausstattung der Einrichtung und müsse vom Heimträger finanziert werden. Mit einem Spaziergang im Außenbereich der Einrichtung werde dem Anliegen, an die frische Luft zu kommen, entsprochen. Die Befriedigung darüber hinausgehender Bedürfnisse obliege nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Dagegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 4. April 2011 Klage beim Sozialgericht (SG) Dresden erhoben.

Das SG hat zur Ermittlung des Gesundheitszustands des Vaters des Klägers einen ärztlichen Befundbericht vom 14. Juli 2011 bei dem ihn behandelnden Facharzt für Innere Medizin D eingeholt. Darin heißt es unter anderem:

"Bei bekannter koronarer 3-Gefäßerkrankung und Z.n. Vorderwandinfarkt 1998, sowie rezidivierend hypertensiven Entgleisungen sollte Herr E aus meiner Sicht Belastungen wie das Schieben eines Rollstuhls des 59 kg schweren Sohnes vorerst meiden."

Die Klägerseite hat vorgetragen, die von den Eltern mit ihm durchgeführten Spaziergänge fänden auch außerhalb des Geländes der Beigeladenen statt. Der Heimträger habe lediglich für die Versorgung mit üblichen Hilfsmitteln innerhalb des Pflegeheimes und des Heimgeländes einzustehen. Die begehrte elektrische Brems- und Schiebehilfe diene jedoch der Befriedigung des Grundbedürfnisses der Bewegungsfreiheit außerhalb des Heimbereichs. Auf den Umstand, dass der Kläger eine verantwortungsbewusste Bestimmung über das eigene Schicksal nicht mehr möglich sei, komme es in Anbetracht der gesetzlichen Neuregelung des § 33 Abs. 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht mehr an.

Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger sei zur Realisierung kurzer Aufenthalte an der frischen Luft mit Hilfspersonen bereits ausreichend versorgt. Insoweit genügten Ausflüge innerhalb des Geländes der Beigeladenen. Zudem könne die Erforderlichkeit einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe nicht vom körperlichen und gesundheitlichen Zustand der Angehörigen des Versicherten abhängig sein. § 33 SGB V stelle bei der Frage der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels allein auf den gesundheitlichen Zustand des Versicherten ab.

Die Beigeladene hat vorgetragen, diejenigen Spazierfahrten mit dem Kläger, bei denen das Gelände der Facheinrichtung für Intensivpflege verlassen werde, würden ausschließlich von den Eltern des Klägers durchgeführt. Insoweit bestehe keine Pflicht der Beigeladenen zur Vorhaltung einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dessen Mutter sei nicht mehr in der Lage, ihren Sohn im Rollstuhl alleine zu schieben, weil sie inzwischen selbst einen Rollstuhl benötige. Der Vater des Klägers versuche, in dem ihm möglichen Rahmen die Besuche und Ausfahrten aufrechtzuerhalten.

Mit Urteil vom 23. Mai 2012 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Januar 2011 (im Tenor ist als Datum fälschlicherweise der 17. November 2011 vermerkt) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 2011 verurteilt, die Kosten für eine Brems- und Schiebehilfe zu übernehmen. Das Grundbedürfnis des ’Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraumes’ sei von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dahingehend präzisiert worden, sich in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang ’an die frische Luft zu kommen’ oder die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Der Kläger könne aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen dieses Grundbedürfnis nicht aus eigener Kraft befriedigen. Auch durch die Bereitstellung eines Multifunktionsrollstuhls werde das Grundbedürfnis nur teilweise befriedigt. Das Grundbedürfnis werde auch nicht dadurch befriedigt, dass er in einer vollstationären Pflegeeinrichtung wohne und im Rahmen der Pflege in dem ihm zur Verfügung gestellten Multifunktionsrollstuhl durch das Pflegepersonal fortbewegt werde. Es könne dahinstehen, ob hierdurch das Grundbedürfnis der Fortbewegung innerhalb des Geländes des Pflegeheimes befriedigt werde. Vorliegend werde das streitgegenständliche Hilfsmittel nämlich allein benötigt, um Spaziergänge in der näheren Umgebung des Geländes des Pflegeheimes zu unternehmen. Die von der Klägerseite angegebenen Ziele befänden sich nämlich im Nahbereich der oben zitierten Rechtsprechung. Entgegen der von der Beklagten geäußerten Ansicht reichten Spaziergänge innerhalb des Geländes der Pflegeeinrichtung nicht aus, um das Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes zu befriedigen. Es bestehe kein Zweifel daran, dass das Grundbedürfnis der Erschließung eines körperlichen Freiraumes nicht an dem Zaun oder der Mauer der Pflegeeinrichtung ende, sondern auch im Fall der vollstationären Pflege den von der Rechtsprechung beschriebenen Nahbereich umfasse. Dies werde von der Rechtsprechung des BSG auch so vorausgesetzt (Hinweis unter anderem auf BSG, Urteil vom 10. Februar 2000 – B 3 KR 26/99 R – juris Rn. 21). Aus dem Rahmenvertrag gemäß § 75 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zur vollstationären Pflege im Freistaat Sachsen ergebe sich keine Verpflichtung der Beigeladenen zu regelmäßigen Ausfahrten des Klägers außerhalb des Geländes der Pflegeeinrichtung. Darauf, dass der Kläger selbst keine Wünsche mehr in Bezug auf seinen Aufenthaltsort äußern könne, komme es nach der Neuregelung des § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht mehr an. Für Fahrten außerhalb des Geländes des Pflegeheimes könne nicht auf im Pflegeheim tätige Personen abgestellt werden, die auch ohne elektrische Brems- und Schiebehilfe in der Lage wären, den Kläger zu schieben, weil das Pflegeheim nicht für regelmäßige Ausfahrten außerhalb des Pflegeheimes zuständig sei. Wie bei der Prüfung der Versorgung mit einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe bei häuslicher Unterbringung müsse es darauf ankommen, ob es sich um Personen handele, die den Versicherten regelmäßig, mindestens wöchentlich besuchten und ihm die Wahrnehmung seines Grundbedürfnisses ermöglichten. Es sei der Beklagten zuzugeben, dass es im Einzelfall schwierig sein könne festzustellen, auf welche Hilfspersonen es ankomme. Schwierigkeiten bei der Abgrenzung seien jedoch kein Grund, ein Hilfsmittel, auf das ein Anspruch bestehe, nicht zu gewähren. Dies gelte auch für die fehlende Untersuchungsmöglichkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Die Krankenversicherung könne sich die gesundheitlichen Einschränkungen im Rahmen der Amtsermittlung auch durch ein ärztliches Attest nachweisen lassen. Im Bereich der häuslichen Unterbringung werde dies auch so von der Beklagten gehandhabt. Vorliegend habe die Kammer keinen Zweifel daran, dass die Eltern des Klägers, die ihn meist abwechselnd mindestens fünfmal wöchentlich in der Pflegeeinrichtung aufsuchten und mit ihm innerhalb des Nahbereichs Spaziergänge unternähmen, als zu berücksichtigende Begleitpersonen in Betracht kämen. Der Kläger habe im Rahmen des Grundbedürfnisses einen Anspruch darauf, dass diese Personen ihm bei der Ausübung der Mobilität assistierten, wenn diese hierzu in relevantem Umfang bereit seien. Seien diese Personen körperlich nicht in der Lage, den Versicherten über eine relevante Strecke zu schieben, so sei durch die gesetzliche Krankenversicherung eine elektrische Brems- und Schiebehilfe zur Verfügung zu stellen. Die vorgenannten Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Das BSG habe für den Rollstuhlfahrer selbst festgestellt, dass das Grundbedürfnis der Fortbewegung im Nahbereich nur dann befriedigt sei, wenn er ohne übermäßige Anstrengung schmerzfrei und aus eigener Kraft dazu in der Lage sei, sich in normalem Rollstuhltempo fortzubewegen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. August 2009 – B 3 KR 8/08 R – juris Rn. 24). Der gleiche Maßstab müsse für die in Anspruch genommene Hilfsperson gelten. Sei diese nicht mehr in der Lage, ohne übermäßige Anstrengung schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu schieben, so sei es ihr nicht mehr zuzumuten, den Rollstuhl ohne elektrische Brems- und Schiebehilfe zu schieben. Die die Eltern des Klägers behandelnden Ärzte hätten bestätigt, dass ihnen das Schieben des Klägers ohne elektrische Brems- und Schiebehilfe unmöglich bzw. unzumutbar sei. In Anbetracht der bei den Eltern vorliegenden Diagnosen und ihres Alters erschienen die Einschätzungen der Ärzte der Kammer nachvollziehbar.

Gegen das ihr am 25. Juni 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20. Juli 2012 Berufung eingelegt.

Zur Aufklärung des Sachverhalts in medizinischer Hinsicht hat der Senat einen ärztlichen Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin D vom 12. Dezember 2012 über den Gesundheitszustand des Vaters des Klägers eingeholt. Darin heißt es unter anderem:

"Die letztmalige Vorstellung bei mir war am 22.11.12. An Beschwerden wurden eine seit mehreren Monaten persistierende Belastungsdyspnoe (aktuell NYHA-Stadium III) bei bekannter KHK und arterieller Hypertonie angegeben ... Um eine Verschlechterung der bekannten koronaren Gefäßerkrankung, sowie einen Re-Infarkt bei Zustand nach Vorderwandinfarkt 1998 zu vermeiden, sollte Herr E aus meiner Sicht Belastungen wie das Schieben eines Rollstuhls des 59 kg schweren Sohnes meiden. Abgesehen davon ist aufgrund der körperlichen Verfassung (muskuläres Defizit) des 76-jährigen Vaters das Schieben eines 59 kg schweren Sohnes im Rollstuhl nicht zuzumuten. Veränderungen des Gesundheitszustandes des Patienten bestehen mit zunehmender Belastungsdyspnoe und teilweise intermittierenden pectanginösen Beschwerden seit ca. 1 Jahr."

Die Beklagte trägt vor, die Beigeladene sei ausweislich des Rahmenvertrags gemäß § 75 Abs. 1 SGB XI zur vollstationären Pflege im Freistaat Sachsen dazu verpflichtet, die Bewohner entsprechend ihrer Grundbedürfnisse in ausreichendem Maße zu Spaziergängen an die frische Luft zu begleiten. Dabei sei davon auszugehen, dass das Pflegepersonal der Beigeladenen auch ohne elektrische Brems- und Schiebehilfe dazu in der Lage sei, den Multifunktionsrollstuhl des Klägers zu schieben. Die Ausfahrten des Klägers mit seinen Eltern seien im Rahmen eines Basisausgleichs der Behinderung zur Erfüllung seines Grundbedürfnisses auf Erschließung eines körperlichen Freiraumes nicht erforderlich. Die Frage der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels könne nur vom gesundheitlichen Zustand des Versicherten selbst, nicht aber vom gesundheitlichen Zustand eines Dritten abhängen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 23. Mai 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Klägerseite trägt vor, aus dem von der Beklagten zitierten Rahmenvertrag ergebe sich keine Verpflichtung der Beigeladenen, dem Kläger das Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes zu erfüllen. Auch im Übrigen seien die Ausführungen des SG zutreffend. Insbesondere sei der Vater des Klägers nach wie vor nicht dazu in der Lage, den Kläger in dessen Rollstuhl ohne elektrische Brems- und Schiebehilfe fortzubewegen.

Die Beigeladene trägt vor, Pflegeleistungen seien von ihr nur innerhalb des Pflegeheimes geschuldet. Ergänzungen zu Hilfsmitteln, die regelmäßig auch außerhalb des Pflegeheimes und des Heimgeländes benötigt würden, seien vom Heimträger nicht vorzuhalten. Das Grundbedürfnis des Versicherten könne nicht durch einen Versorgungsvertrag beschränkt sein. Andernfalls könnte der Versicherte nicht selbst bestimmen, wann, durch wen und in welchem Umfang er sein Grundbedürfnis befriedigen wolle.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Das Urteil des SG vom 23. Mai 2012 ist zu Recht ergangen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig.

Es kann in vollem Umfang auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen werden. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich der Gesundheitszustand der Mutter des Klägers verschlechtert hat, so dass diese nicht mehr dazu in der Lage ist, ihren Sohn – auch nicht unter Zuhilfenahme einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe – in dem ihm zur Verfügung stehenden Multifunktionsrollstuhl fortzubewegen. Dadurch ergibt sich jedoch kein anderes Ergebnis. Denn auch der Vater des Klägers, der seinen Sohn wöchentlich regelmäßig besucht und ihm dann auch ermöglicht, außerhalb des Geländes der Pflegeeinrichtung - aber innerhalb des Nahbereichs der derselben – an die frische Luft zu kommen, ist aufgrund seines Gesundheitszustands auf die Zuhilfenahme einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe angewiesen. Sein Facharzt für Innere Medizin D hat im Befundbericht vom 12. Dezember 2012 ausdrücklich mitgeteilt, dass bei ihm seit mehreren Monaten eine persistierende Belastungsdyspnoe (NYHA-Stadium III) bei bekannter koronarer Herzkrankheit und arterieller Hypertonie besteht. Um eine Verschlechterung der bekannten koronaren Gefäßerkrankung sowie einen Reinfarkt bei Zustand nach Vorderwandinfarkt 1998 zu vermeiden, soll er aus ärztlicher Sicht das Schieben eines Rollstuhls – auch unter Beachtung seines Alters und seiner muskulären Verhältnisse – vermeiden. Bei einem Schweregrad der Herzerkrankung von NYHA III ist es für den Senat nachvollziehbar, dass der Vater des Klägers zur Fortbewegung seines Sohnes in dessen Multifunktionsrollstuhl (Gesamtgewicht: 96 kg) auf die Unterstützung einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe angewiesen ist.

Ergänzend ist auszuführen:

1. Soweit die Beklagte die Auffassung vertritt, die nach dem von ihr zitierten Rahmenvertrag geschuldeten Ausfahrten durch das Pflegepersonal innerhalb der Pflegeeinrichtung und zum Beispiel im Rahmen der Konsultation von Ärzten genügten für den Kläger, um sein Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes zu verwirklichen, vermag dies nicht zu überzeugen. Denn die Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes umfasst nach der Rechtsprechung des BSG die Möglichkeit der regelmäßigen Bewegung innerhalb des Nahbereichs der Pflegeeinrichtung. Darauf hat das SG bereits zutreffend hingewiesen.

2. a) Für die Frage der Beantwortung, ob eine elektrische Brems- und Schiebehilfe zur Fortbewegung des Klägers erforderlich ist, kann – entgegen der Meinung der Beklagten - nicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit einer durchschnittlichen Pflegeperson abgestellt werden. Denn diese Sichtweise wird dem Umstand nicht gerecht, dass hier ein vom BSG anerkanntes Grundbedürfnis des Klägers, nämlich dasjenige auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes, betroffen ist. Der Kläger muss sich insoweit nicht darauf verweisen lassen, mit Pflegepersonen der Pflegeeinrichtung nur innerhalb der Pflegeeinrichtung an die frische Luft kommen zu dürfen. Er ist nicht bloßes Objekt der Pflege, was durch § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V nunmehr ausdrücklich klargestellt wird. Ihm darf deshalb nicht verwehrt werden, im Nahbereich auch außerhalb der Pflegeeinrichtung regelmäßig an die frische Luft zu kommen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2010 – B 3 KR 13/09 R – juris Rn. 18, und insbesondere BSG, Urteil vom 10. Februar 2000 – B 3 KR 26/99 R – juris Rn. 21). Hierfür bedarf er nicht der Hilfe einer abstrakten durchschnittlich kräftigen Pflegeperson, sondern der Hilfe seines Vaters (vgl. insoweit schon Urteil des erkennenden Senats vom 6. Dezember 2012 – L 1 KR 189/10 – juris Rn. 33). Insoweit hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung fest (Sächsisches LSG, Urteil vom 1. Februar 2013 – L 1 KR 60/10 – amtlicher Umdruck S. 11). Danach ist "eine Schiebehilfe dann erforderlich, wenn die in Betracht kommende Schiebeperson unabhängig von der konkreten Wohn- und Lebenssituation des Versicherten nicht dazu in der Lage ist, schmerzfrei und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen mit dem von ihr im Rollstuhl geschobenen Versicherten eine Wegstrecke von 500 m bis 1.000 m am Stück zurückzulegen und nach jeweils einer kurzen Pause wiederum entsprechende Strecken bewältigen kann".

b) Soweit die Beklagte den Maßstab einer durchschnittlich kräftigen Pflegeperson befürwortet, weil sie insofern eine Parallele zu der Rechtsprechung des BSG sieht, nach der im Rahmen der Bewilligung eines Hilfsmittels nicht auf die konkreten Wohnverhältnisse des Versicherten abgestellt werden dürfe, hat der Senat in seinem Urteil vom 1. Februar 2013 (L 1 KR 60/10 – amtlicher Umdruck S. 11 f.) bereits auf den entscheidenden Unterschied hingewiesen: Zwar kann "ein Wohnumfeld - durch einen Umzug oder bauliche Maßnahmen - so verändert werden ..., dass die Erschließung des Nahbereichs jedenfalls nicht in ungewöhnlichem Maße erschwert wird. Einfluss auf die Verfügbarkeit von potenziellen Schiebepersonen hat jedoch ein Behinderter wie der Kläger, in dessen persönlichem Umfeld es nur eine in Betracht kommende Schiebeperson gibt, nicht".

3. Das Argument der Beklagten, die Versorgung eines Versicherten mit einem Hilfsmittel dürfe nicht vom Gesundheitszustand eines Dritten abhängen, weil insoweit eine Einbeziehung des MDK rechtlich nicht möglich sei, greift ebenfalls nicht durch. Denn der Beklagten stehen die allgemeinen Ermittlungsmöglichkeiten gemäß §§ 20, 21 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) offen. Gemäß §§ 21 Abs. 1 Satz 2 SGB X kann sie insbesondere Auskünfte jeder Art einholen. Das schließt auch die Einholung medizinischer Auskünfte in Bezug auf einen Dritten – nach dessen Einwilligung – mit ein.

Im Übrigen wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

Klotzbücher Schanzenbach Dr. Wietek
Rechtskraft
Aus
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