S 25 AS 4787/12 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 25 AS 4787/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 06.11.2012 (S 25 AS 4434/12) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.09.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2012 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I:

Der am 15.03.19xx geborene Antragsteller (im Folgenden: Ast) und seine am 11.02.19xx geborene Ehefrau beziehen von der Antragsgegnerin (im Folgenden: Ag) Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) aufgrund des Bescheides vom 12.07.2012 in Höhe von 1.027,99 EUR monatlich.

Nach der Renteninformation der Deutschen Rentenversicherung-Rheinland vom 18.07.2012 würde der Ast nach Erreichen der Regelaltersgrenze am 13.07.2015 ab dem 01.08.2015 eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 964,50 EUR zu erwarten haben. Die Regelaltersrente seiner Ehefrau würde zum 01.07.2015 465,30 EUR betragen (Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung – Bund vom 24.04.2012).

Im Haushalt des Ast lebt noch dessen volljährige Tochter, für die von der Ag anteilige Unterkunftskosten gezahlt werden.

Mit Bescheid vom 10.09.2012 forderte die Ag ihn auf, unverzüglich einen Antrag auf vorzeitige Altersrente, beginnend ab Vollendung des 63. Lebensjahres bei dem für ihn zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen. Sie wies darauf hin, dass dieser Aufforderungsbescheid kraft Gesetzes sofort vollziehbar sei und führte zur Begründung an, dass er gem § 12 a SGB II verpflichtet sei, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich sei. Hierzu gehöre auch die Inanspruchnahme einer vorzeitigen – auch geminderten – Altersrente. Da sämtliche Versuche, seine Hilfebedürftigkeit durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu beenden oder zu reduzieren in der Vergangenheit fehlgeschlagen seien, sei der Verweis auf den Bezug einer geminderten Altersrente angemessen und geeignet, die Hilfebedürftigkeit im Sinne der vorgenannten Vorschrift zu vermindern. Da weder Bestandsschutz im Sinne der §§ 65 Abs 4 SGB II, 428 Sozialgesetzbuch III (SGB III) gegeben sei und auch kein Härtefall nach der Unbilligkeitsverordnung eingreife, sei er zur Stellung des Antrags auf vorzeitige Altersrente unmittelbar gesetzlich verpflichtet. Den gegen den Bescheid fristgerecht eingelegten Widerspruch, mit dem der Ast geltend machte, die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sei unbillig, wies die Ag mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2012 als unbegründet zurück. Unter Hinweis auf das Nachrangprinzip des § 5 Abs 1 SGB II vertrat sie die Auffassung, dass der Ast vor Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen zunächst alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Abwendung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit zu nutzen habe. Hierzu gehöre auch die Inanspruchnahme einer Altersrente zum frühestmöglichen Zeitpunkt, auch wenn dies mit Abschlägen verbunden wäre, da die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung, nach der ausnahmsweise keine vorzeitige Altersrente in Anspruch genommen werden müsse, nicht vorlägen. Entgegen der Auffassung des Ast seien die in der Unbilligkeitsverordnung festgeschriebenen Gründe abschließend, so dass weitere, in der Unbilligkeitsverordnung nicht genannten Umstände, nicht zu berücksichtigen seien.

Am 06.11.2012 hat der Ast unter dem Az.: S 25 AS 4434/12 Klage erhoben und am 30.11.2012 den vorliegenden Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bei Gericht gestellt. Zur Begründung trägt er vor, dass er ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung befürchten müsse, dass nunmehr die Ag – wie angekündigt – gegen seinen Willen im Wege der Ersatzvornahme einen entsprechenden Rentenantrag stellen werde. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente sei ihm nicht zumutbar, weil aufgrund der zu erwartenden Rentenabschläge zu befürchten sei, dass er und seine Ehefrau dauerhaft auf Leistungen der Grundsicherung (nach dem Sozialgesetzbuch, 12. Buch – SGB 12) angewiesen wären, wohingegen bei Gewährung einer ungekürzten Altersrente ergänzende Grundsicherungsleistungen nicht in Anspruch genommen werden müssten. Diese Umstände seien entgegen der Auffassung der Ag bei der Entscheidung zur Aufforderung zur Rentenantragstellung zu berücksichtigen, da die in den §§ 2 bis 5 der Unbilligkeitsverordnung genannten Gründe nicht abschließend seien.

Der Ast beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 06.11.2012 gegen den Bescheid vom 10.09.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2012 anzuordnen.

Die Ag beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hält an ihrer im Widerspruchsverfahren vertretenen Auffassung fest und weist ergänzend darauf hin, dass sie anhand der Checkliste "Vorrangige Leistungen nach § 12 a SGB II" die Tatbestandsvoraussetzungen des § 12 a und die Ausnahmetatbestände nach der Unbilligkeitsverordnung umfassend geprüft und demnach ihr Ermessen sachgerecht ausgeübt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte Bezug genommen.

Das Gericht hat den Sach- und Streitstand in einem Erörterungstermin vom 10.01.2013 mit den Beteiligten erörtert.

II:

Der zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 86 b Abs 1 S 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die streitige Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 10.09.2012 ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), weil hierdurch die Feststellung getroffen wird, dass der Ast zu einer bestimmten Handlung verpflichtet ist und der Verstoß gegen diese Pflicht rechtliche Nachteile nach sich ziehen kann (BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 22; LSG NRW Beschluss vom 01.02.2010, L 19 B 371/09 AS ER). Der Widerspruch gegen die Aufforderung entfaltet gem § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung.

Gem § 86 b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung angezeigt, weil mehr für die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Aufforderung spricht, als dagegen und damit das Aussetzungsinteresse des Ast das Vollzugsinteresse der Ag überwiegt.

Es bestehen nämlich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Rentenantragstellung. Nach § 5 Abs 3 S 1 SGB II können die Leistungsträger, sofern Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen bei einem anderen Träger nicht stellen, anstelle des Leistungsberechtigten den Antrag selber stellen sowie Rechtsbehelf und Rechtsmittel einlegen. Hieraus folgt, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers, als auch die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers steht (LSG NRW Beschluss vom 12.06.2012, L 7 AS 916/12 B ER; Beschluss vom 01.02.2010, L 19 B 371/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss vom 24.05.2011, L 7 AS 88/11 B ER – jeweils mit weiteren Nachweisen). Diese Ermessensentscheidung hat die Ag nicht ordnungsgemäß im Sinne der genannten Ermessensvorschrift getroffen. Es liegt eine Ermessensunterschreitung durch unzureichende Ermessenserwägungen vor, weil die Ast rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, die Ausnahmetatbestände nach der Unbilligkeitsverordnung seien abschließend, so dass sonstige Umstände nicht zu einer Unbilligkeit der Aufforderung führen könnten.

Gem § 39 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) sind die Leistungsträger verpflichtet, bei der Entscheidung über Sozialleistungen, wenn diese in ihrem Ermessen steht, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch (§ 39 Abs 1 S 2 SGB I).

Hier hätte die Ag sich mit der Frage beschäftigen müssen, ob eine vorzeitige Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente anders als ein Bezug der Regelaltersrente erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze voraussichtlich zu einer dauerhaften Bedarfsunterdeckung und damit zur Notwendigkeit, ergänzende Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen zu müssen, führen würde. Die Ag hat sich hier darauf beschränkt, der (insoweit zutreffenden) Gesetzesbegründung zu folgen, nach der ein (bloßer) Einkommensverlust infolge einer geminderten Altersrente systemimmanent durch das Nachrangprinzip gerechtfertigt sei. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass auch die dauerhafte Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen eine in jedem Fall in Kauf zu nehmende und damit zulässige Folge eines vorzeitigen Rentenbezugs ist. Spätestens aufgrund der vom Ast vorgebrachten Einwendungen hätte sich die Ag mit dieser Frage auseinandersetzen und ihre Ermessenserwägungen in dem ergangenen Verwaltungsakt zum Ausdruck bringen müssen (§ 35 Abs 1 S 3 SGB X). Ob die Ausübung des Ermessens noch im Rahmen des gerichtlichen Antragsverfahrens hätte nachgeholt werden können (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 16.12.2011, B 14 AS 138/11 B) kann dahinstehen, denn die Ag hat dies ihrer eigenen Auffassung folgend, dass die Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung abschließend seien, nicht getan.

Da die Aufforderung zur Rentenantragstellung ermessensfehlerhaft und damit in rechtswidriger Weise erfolgte, war die aufschiebende Wirkung der Klage im Interesse des Ast geboten.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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