L 7 AS 1144/13 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 26 AS 1375/13 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 1144/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann nur insoweit wegen Verstoßes gegen höherrangiges Europarecht, nämlich Art. 18 und 21 AEUV bzw. den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, unangewendet bleiben, soweit freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger betroffen sind, die einen ausreichenden Bezug zum innerdeutschen Arbeitsmarkt haben. Ob eine geringfügige Beschäftigung von unter 15 Stunden wöchentlich einen ausreichenden Bezug zum Arbeitsmarkt darstellen kann, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden.
I. Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 14. Mai 2013 geändert. Der Antragsgegner wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig für die Zeit von 1. Oktober 2013 bis 30. November 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 1.063,00 EUR monatlich zu gewähren. Hierbei ist für Oktober 2013 der Bedarf für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 380,00 EUR direkt auf das Konto des Vermieters zu überweisen. Für die Zeit vom 1. November 2013 bis 30. November 2013 sind die vorläufigen Leistungen unter Anrechnung des in dieser Zeit erzielten Einkommens der Antragstellerin zu 1 auf den Bedarf auszuzahlen, der Bedarf für Unterkunft und Heizung jedoch nur, wenn bis zum 31. Oktober 2013 feststeht, dass die Antragstellerinnen noch in der Wohnung K in K wohnen. Der Antragstellerin zu 1 wird aufgegeben, einen Beleg über den Zufluss von Einkommen aus ihrer Beschäftigung bis spätestens 11. November 2013 beim Antragsgegner vorzulegen. Ihr wird ferner aufgegeben, den Antragsgegner sofort zu unterrichten, falls die Antragstellerinnen eine andere Wohnung nehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten der Antragstellerinnen sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 26.02.2013, insbesondere darum, ob die Antragstellerinnen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als tschechische Staatsangehörige von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen sind.

Die 1960 geborene Antragstellerin zu 1 und ihre 2001 geborene Tochter, die Antragstellerin zu 2, wohnen laut Anmeldebestätigung vom 20.09.2012 seit 03.09.2012 in K , nachdem sie aus der Schweiz zugezogen waren. Sie sind tschechische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1 besitzt außerdem die Staatsangehörigkeit der Schweiz, da sie bis 1996 in erster Ehe mit einem Schweizer Staatsbürger verheiratet war. Die Antragstellerin zu 2, ein Kind aus zweiter Ehe, ist laut rechtskräftigem Scheidungsurteil des Bezirksgerichts Winterthur (CH) vom 10.12.2002 der elterlichen Sorge der Antragstellerin zu 1 unterstellt. Der Aufenthalt des Kindsvaters ist unbekannt; Unterhalt wird nicht geleistet. Seit Beginn des Schuljahres 2012/2013 besucht die Antragstellerin zu 2 in der Bundesrepublik Deutschland die Schule, zunächst die Grundschule in K seit Januar 2013 die Förderschule in M.

Seit September 2012 war die Antragstellerin zu 1 bei der Agentur für Arbeit (ohne Leistungsbezug) als arbeitsuchend gemeldet. Ausweislich der Verbis-Ausdrucke waren ihr von 24.09.2012 bis 19.03.2013 insgesamt 23 Stellenangebote vermittelt worden, bei denen es zu keiner Einstellung kam. In vier Fällen hatte sich die Antragstellerin zu 1 nicht beworben; zweimal kam es zu Absagen der Arbeitgeber.

Am 26.02.2013 stellte sich die Antragstellerin zu 1 erstmals beim Antragsgegner vor und beantragte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für sich und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebende Antragstellerin zu 2. Laut Aktennotiz vom 01.03.2013 hatte die Antragstellerin zu 1 damals Mietrückstände in Höhe von 800,00 EUR bei der Wohnungsgesellschaft mbH K , weshalb ihr fristlos gekündigt worden war. Zur Antragstellung beim Antragsgegner legte sie einen am 17.02.2009 von der Stadt K ausgestellten Personalausweis vor. Der tschechische Reisepass der Antragstellerin zu 2 wurde am 30.11.2012 ebenfalls von der Stadt K ausgestellt, deren Gemeindegebiet direkt an der Grenze zur tschechischen Republik gegenüber von K liegt.

Mit Bescheid vom 15.03.2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Bewilligung von Leistungen ab. Die Antragstellerin zu 1 könne keine Leistungen beanspruchen, weil sie lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland habe. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Dagegen wandten sich die Antragstellerinnen mit ihrem Widerspruch vom 21.03.2013 mit der Begründung, die Vorschrift sei europarechtswidrig. Nachdem die Antragstellerin zu 1 auf eine Meldeaufforderung zum 26.03.2013 nicht erschienen war, wurde die Bearbeitung und die Vermittlung sowohl durch den Antragsgegner als auch durch die Agentur für Arbeit eingestellt.

Der Widerspruch der Antragstellerinnen war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 02.04.2013). Dagegen hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerinnen am 06.05.2013 beim Sozialgericht Chemnitz Klage erhoben (S 26 AS 2091/13), über die noch nicht entschieden ist.

Den Antrag der Antragstellerinnen vom 21.03.2013 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht Chemnitz mit Beschluss vom 14.05.2013 abgelehnt. In den Gründen führt das Sozialgericht aus, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerinnen seien nicht hinreichend offen gelegt und es sei nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen ohne die beantragte Entscheidung unzumutbare Nachteile drohten. Es bestünden Zweifel an der eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin zu 1, wonach sie über kein Einkommen und Vermögen verfüge, weil sie eingeräumt habe, finanzielle Unterstützung von ihrem Sohn zu erhalten, ohne anzugeben, wann und in welcher Höhe. Es seien auch keine aussagekräftigen Kontounterlagen vorgelegt worden. Zweifel folgten auch daraus, dass sie angegeben habe, erst am 03.09.2012 nach K gezogen zu sein, laut Nachtrag zum Mietvertrag aber wohl schon seit Februar 2011 dort wohne. Die Hilfebedürftigkeit sei ebenfalls nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sei schon aus diesem Grund nicht überwiegend wahrscheinlich. Darüber hinaus liege ein Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor, dessen Voraussetzungen erfüllt seien. Dieser Leistungsausschluss werde nicht durch höherrangiges Recht außer Kraft gesetzt. Sodann führt das Sozialgericht ausführlich aus, weshalb Zweifel an der Übereinstimmung dieser Norm mit vorrangigem Europarecht nicht geeignet seien, die Anwendung der gesetzlichen Regelung zu negieren (a.A. Beschluss des Senats vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER).

Gegen den am 21.05.2013 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts wenden sich die Antragstellerinnen mit der am 14.06.2013 beim Sozialgericht und am 20.06.2013 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangenen Beschwerde. Ihr Prozessbevollmächtigter macht geltend, die Antragstellerin zu 2 besuche die Förderschule in M. Sie hätten nicht von der Schweiz nach Tschechien ziehen könne, weil die Antragstellerin zu 2 der tschechischen Sprache nicht mächtig sei und dort ein Schulbesuch nicht möglich erscheine. Seit dem Zuzug aus der Schweiz habe sich die Antragstellerin zu 1 intensiv um Arbeit bemüht, aber noch nichts gefunden, habe auch selbst Inserate geschaltet. Sie sei gelegentlich von ihrem in der Schweiz lebenden Sohn unterstützt worden, der das Geld in Briefen übersandt habe. Die Wohnung in der F S sei bis dahin als Ferienwohnung genutzt worden. Von Bekannten und Verwandten versuche sie, sich immer wieder Geld zu borgen; diese wollten das auf Dauer nicht mitmachen.

Die Antragstellerinnen beantragen sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 14.05.2013 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellerinnen vorläufig ab Rechtshängigkeit bis zur bestandskräftigen Entscheidung über die Klage S 26 AS 2091/13 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von mindestens 1007,84 EUR, ggf. unter Anrechnung von Einkommen zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den Beschluss des Sozialgerichts und die dort vertretene Rechtsauffassung für richtig.

Nachdem sich die Mietrückstände einschließlich Betriebskosten auf 1.800,00 EUR erhöht hatten, haben die Antragstellerinnen am 28.03.2013 ihre alte Wohnung verlassen. Laut Schreiben der Wohnungsgesellschaft vom 19.03.2013 waren die vereinbarten Zahlungen des Sohnes nicht eingegangen. Seit 01.04.2013 wohnen die Antragstellerinnen in einer 72 m² großen Drei-Zimmer-Wohnung in der K in K , für die sie 250,00 EUR Grundmiete zzgl. pauschaler Nebenkosten einschließlich Heizung in Höhe von 130,00 EUR und die tatsächlichen Wasserkosten laut Ablesung zu zahlen haben. Im April 2013 wohnten sie mietfrei. Nachdem beim Vermieter die Miete für Mai 2013 nicht eingegangen war, hat dieser den vom 01.05.2013 bis 31.12.2013 befristet geschlossenen Mietvertrag zum 31.07.2013 gekündigt, den Zugang zur Wohnung verschlossen und in Abwesenheit der Antragstellerinnen die Schlösser ausgetauscht. Da der Vermieter mit Beschluss des Amtsgerichts Auerbach vom 08.08.2013 verpflichtet worden ist, binnen 24 Stunden den Zugang zur Wohnung wieder zur ermöglichen, wohnen die Antragstellerinnen wieder dort.

Der Prozessbevollmächtigte hat auf gerichtliche Nachfragen mitgeteilt, dass der erwachsene Sohn der Antragstellerin zu 1 für eine Übergangszeit 600,00 CHF monatlich zur Verfügung gestellt habe. Inzwischen sei es zum Streit gekommen, so dass der Sohn jegliche Zahlungen eingestellt habe und der Kontakt abgebrochen sei. Die Antragstellerin zu 1 sei deshalb zu ihm in die Schweiz gefahren, habe aber nichts erreichen können. Bei ihrer Rückkehr am 02.08.2013 habe sie ihre Wohnung verschlossen vorgefunden. Kindergeld und Unterhaltsvorschuss habe sie beantragt, aber nicht erhalten. Seit 16.08.2013 erhielten die Antragstellerinnen einmal wöchentlich Lebensmittel von der Diakonie der Kirchgemeinde K. Zu den Bewerbungsbemühungen hat er angegeben, die Antragstellerin zu 1 suche in Tageszeitungen und gebe selbst Stellensuchanzeigen auf. So habe sie im März 2013 fünf Annoncen in der Freien Presse aufgegeben. Sie fahre auch zu Arbeitgebern und frage nach, könne sich aber nicht mehr erinnern, wo sie überall gewesen sei. Wegen ihrer Tochter könne sie keine Nachtschichten übernehmen. Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte eine eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin zu 1 vom 21.08.2013 vorgelegt. Der Prozessbevollmächtigte hat weiter angegeben, es handele sich in den tschechischen Identitätspapieren um einen fiktiven Wohnsitz in der Gemeinde S , die zu G /K gehöre. Für die Rückreise aus der Schweiz habe die Antragstellerin zu 1 150,00 CHF von ihrem Sohn erhalten, die inzwischen verbraucht seien. Der Stromversorger habe eine Stromsperre für den 24.09.2013 angekündigt. Es bestünden offene Forderungen von 359,62 EUR.

Laut Dienstvertrag vom 29.09.2013 ist die Antragstellerin zu 1 vom 30.09.2013 bis 30.11.2013 teilzeitbeschäftigt als Raumpflegerin mit 7,500 % der regelmäßigen Arbeitszeit bei evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde K -B eingestellt. Nach Angaben des Pfarrers A T erhält sie hierfür eine Lohn von 161,91 EUR (Arbeitgeberbrutto) monatlich. Nach seinen Angaben im Schreiben vom 14.10.2013 sei es zu dem Vertrag gekommen, um den Antragstellerinnen in ihrer traurigen Situation zu helfen, weil sich der Prozessbevollmächtigte und seine Familie immer wieder aufopferungsvoll um sozial schwache Klienten bemühten und weil gerade eine Mitarbeiterin, die in der Kirchgemeinde Reinigungsarbeiten ausgeführt habe, gekündigt habe.

Am 07.10.2013 hat sich der Vermieter der Antragstellerinnen an das Gericht gewandt, weil er beabsichtige, die Heizung und die Wasserzufuhr zur Wohnung abzustellen, wenn er die ausstehende Miete und Nebenkosten nicht erhalte. Im Erörterungstermin am 21.10.2013 ist er als Zeuge vernommen worden.

Der Einzelrichterin des Senats haben die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Gerichtsakte S 26 AS 2091/13 und die Leistungsakte des Antragsgegners (1 Band Bl. 1-31) vorgelegen. Darauf und auf die Niederschrift zum Erörterungstermin am 21.10.2013 wird Bezug genommen.

II.

Der Senat kann gemäß § 155 Abs. 3 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch die Berichterstatterin als Einzelrichter entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist nur im tenorierten Umfang teilweise begründet.

Im Ergebnis zu Recht hat es das Sozialgericht mit Beschluss vom 14.05.2013 abgelehnt, den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig unbeschränkt Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf Antrag schon vor Klageerhebung (§ 86b Abs. 3 SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der geltend gemachte materielle Rechtsanspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb die Anordnung so dringlich ist, dass dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache gesichert oder geregelt werden muss (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Außerdem kann das Gericht dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragstellerin nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur im Hauptsacheverfahren erreichen kann.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn nach summarischer Prüfung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Antragstellerin ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung zusteht und sie deshalb im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren Erfolg haben würde. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn sich aus den glaubhaft gemachten Tatsachen ergibt, dass es die individuelle Interessenlage der Antragstellerin unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter unzumutbar erscheinen lässt, sie zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen (vgl. Finkelnburg/¬Dombert/¬Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl. 2008, RdNr. 154-156 m.w.N.; ähnlich: Krodel, NZS 2002, 234 ff.). Ob die Anordnung derart dringlich ist, beurteilt sich insbesondere danach, ob sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen, ebenso schwer wiegenden Gründen nötig erscheint. Dazu müssen Tatsachen vorliegen bzw. glaubhaft gemacht sein, die darauf schließen lassen, dass der Eintritt des wesentlichen Nachteils im Sinne einer objektiven und konkreten Gefahr unmittelbar bevorsteht (Keller, a.a.O., § 86b RdNr. 27a). Dabei wird der Sachverhalt gemäß § 103 SGG von Amts wegen unter Heranziehung der Beteiligten ermittelt, soweit dies unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzbegehrens geboten ist (vgl. Krodel, NZS 2002, 234 ff.; Finkelnburg/Jank, a.a.O., RdNrn. 152, 338; jeweils m.w.N.).

Streitgegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens sind die von der Antragstellerin begehrten Leistungen nach dem SGB II frühesten ab Eingang des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Chemnitz, also ab 21.03.2013.

Die Antragstellerin zu 1 erfüllt die Voraussetzungen der §§ 7-9 SGB II, denn sie ist älter als 15 Jahre, ohne die Altersgrenze des § 7a SGB II schon erreicht zu haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig. Als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin ist der Antragstellerin zu 1 die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt. Auf dieser Grundlage übt sie auch seit 30.09.2013 eine geringfügige Beschäftigung aus, so dass die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB II vorliegen, weil die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, zitiert nach Juris, RdNr. 15 m.w.N.).

Die Antragstellerinnen haben nach derzeitigen Erkenntnissen seit 03.09.2012 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Sie halten sich soweit ersichtlich – auch rechtmäßig in der Bundesrepublik auf, solange die zuständige Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R, RdNr. 14, m.w.N.; vgl. auch Schreiber, Europäische Sozialrechtskoordinierung und Arbeitslosengeld II-Anspruch, NZS 2012, 647, 649). Auch ist dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) kein zusätzliches rechtliches Erfordernis zum Aufenthaltsstatus zu entnehmen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013, a.a.O., RdNrn. 18-19).

Die Antragstellerin zu 1 hält sich auch schon länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass sie jedenfalls nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist. Nach jener Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer vom Leistungsbezug ausgenommen, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Dieser Leistungsausschluss erfolgte in Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. EU) L 158, berichtigt in ABl. EU L 229 S. 35; in Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG) durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970), um vor allem die zuvor nicht erfassten Unionsbürger in diesen Leistungsausschluss einzubeziehen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 37/12 R, RdNr. 22, m.w.N.).

Derzeit spricht allerdings alles dafür, dass die Antragstellerin zu 1 jedenfalls bis 29.09.2013 gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, keine Leistungen nach dem SGB II. Die Einzelrichterin des Senats geht zwar in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss des Senat vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, RdNrn. 28-62; so wohl jetzt auch LSG SH, Beschluss vom 01.03.2012 – L 6 AS 29/13 B ER) davon aus, dass dieser Ausschlusstatbestand gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 18 und 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bzw. den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EU L 166, S. 1 ff. (VO (EG) Nr. 883/2004)) verstößt, soweit freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger betroffen sind, die einen ausreichenden Bezug zum innerdeutschen Arbeitsmarkt haben. An dieser Rechtsprechung hat der Senat in der Folge festgehalten. So rechtfertigt insbesondere die systematische Stellung der zitierten Vorschriften in der VO (EG) Nr. 883/2004 die Auslegung des Senats. Auch wird übersehen, dass die am selben Tag erlassene Richtlinie kein unmittelbar anwendbares Recht (Art. 288 Abs. 3 AEUV), sondern nur einen Umsetzungsauftrag an die Mitgliedsstaaten mit Ausschlussoption (Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) enthält, den die Bundesrepublik Deutschland mit dem o.g. Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 vollzogen hat. Die VO (EG) Nr. 883/2004 hingegen ist ohne jeden Umsetzungsakt unmittelbar anwendbares Recht (Art. 288 Abs. 2 AEUV), das allerdings gemäß ihrem Art. 91 Abs. 2 wegen der damals noch nicht vorliegenden Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 (ABl. EU L 284 S. 1 ff., dort Art. 97 S. 31) gerade noch nicht galt, sondern mit Inkrafttreten dieser Durchführungsverordnung erst seit 01.05.2010 geltendes Recht darstellt. Somit kommt es auch erst seit 01.05.2010 auf Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 an, soweit Unionsbürger Leistungen nach dem SGB II begehren.

Allerdings bedarf die genannte Rechtsprechung des Senats gerade im Hinblick auf das vorliegende Verfahren weiterer Konkretisierung: Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ((EuGH), Urteil vom 23.03.2004 – C-138/02 "Collins", RdNr. 66, zitiert nach Juris) kann es nämlich als legitim angesehen werden, dass ein Mitgliedstaat eine finanzielle Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats festgestellt wurde. Unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt im Übrigen jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, allerdings mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (EuGH, Urteil vom 18.07.2007 – C-213/05 "Geven", RdNr. 16). Demensprechend gilt, dass europarechtliche Normen einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der in diesem wohnt und im erstgenannten Mitgliedstaat eine geringfügige Beschäftigung (zwischen drei und 14 Stunden je Woche) ausübt, vom Bezug einer sozialen Vergünstigung wie des deutschen Erziehungsgelds ausschließt, weil eine Person, die eine geringfügige Beschäftigung ausübt, zwar "Arbeitnehmer" im Sinne von Art. 39 EG ist, doch beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten für die Sozialpolitik zuständig sind und bei der Ausübung dieser Zuständigkeit über einen weiten Entscheidungsspielraum verfügen (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C-213/05, a.a.O., RdNrn. 30 und 27, jeweils m.w.N.). Einen Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union von einer beitragsunabhängigen Sozialleistung auszuschließen, ist demzufolge sogar bei einer nur geringfügigen Beschäftigung von unter 15 Stunden wöchentlich gerechtfertigt.

Daran gemessen kann vorliegend nicht festgestellt werden, dass die Antragstellerin zu 1 bis zum 29.09.2013 als Arbeitnehmerin i.S.d. Gemeinschaftsrechts anzusehen gewesen wäre, die insoweit auf eine Gleichbehandlung mit inländischen Arbeitnehmern berufen könnte. Auch die von ihr vorgetragenen Bemühungen, Arbeit zu finden, sind – soweit sie glaubhaft gemacht worden sind – von so geringem Umfang, dass kein ausreichender Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt besteht, der es rechtfertigen könnte, sie in den Genuss von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II kommen zu lassen. Dass sie Anspruch auf Leistungen der Arbeitsvermittlung, also für Leistungen, die einen Zugang zu einer Beschäftigung ermöglichen wie deutsche Staatsangehörige hat, ist nicht streitig und wird wohl weder vom Antragsgegner noch von der zuständigen Agentur für Arbeit in Abrede gestellt. Dies könnte auch finanzielle Leistungen für Bewerbungen (Porto u.Ä.) umfassen, die von der Antragstellerin zu 1 hier aber offensichtlich nicht begehrt werden. Ihre am 30.09.2013 aufgenommene Tätigkeit als Raumpflegerin für die Kirchgemeinde könnte darüber hinaus so geringfügig sein, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich i.S.d. o.g. Rechtsprechung des EuGH darstellt. Aus dem Schreiben des Pfarrers T vom 14.10.2013 ergibt sich zudem, dass es sich um eine Beschäftigung aus Gefälligkeit handelt, um einen Anspruch auf Hartz VI-Aufstockung zu ermöglichen.

Ob auch eine ganz geringfügige Beschäftigung mit nur drei Stunden wöchentlich ausreicht, um die Anwendbarkeit europarechtlicher Normen auszulösen und Ansprüche aus europarechtlichen Freizügigkeitsrechten zu begründen, kann vorliegend nicht abschließend beantwortet werden. In Anbetracht des Umstandes, dass der Vermieter der Antragstellerinnen im heutigen Erörterungstermin ohne Umschweife bekräftigt hat, dass er Wasser und Heizung für die Wohnung der Antragstellerinnen abstellen wird, wenn die Antragstellerin zu 1 nicht die bisherigen Rückstände in Höhe von 2.368,40 EUR sofort begleicht, erscheint trotz allem eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen einer Folgenabwägung geboten, um die Antragstellerin zu 1 in die Lage zu versetzen, bis zum voraussichtlichen Ende der geringfügigen Beschäftigung eine weitere oder eine ansatzweise auskömmliche Beschäftigung zu finden. Obwohl die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug auch ab 30.09.2013 fraglich sind, sind daher zunächst kurzfristig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, da es sich um existenzsichernde Leistungen handelt (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09.09.2013 – L 13 AS 260/13 B ER). Dabei hat die Einzelrichterin des Senats zum einen berücksichtigt, dass die Antragstellerin zu 1 jetzt tatsächlich eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hat, dass die Antragstellerin zu 2 seit mehr als einem Jahr in M die Schule besucht und dass nicht völlig ausgeschlossen ist, dass die Antragstellerinnen in der jetzigen Wohnung mit Heizung und Warmwasser bleiben können, bis sie eine andere Unterkunft gefunden haben. Die Leistungshöhe errechnet sich aus der Regelleistung für die alleinerziehende Antragstellerin zu 1 gemäß § 20 Abs. 2 SGB II zuzüglich Mehrbedarfs gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II und Sozialgeld gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 2 SGB II sowie Bedarf für Unterkunft und Heizung, der laut Mietvertrag und Erläuterungen des Vermieters monatlich jedenfalls 380,00 EUR beträgt. Für November 2013 sind vorläufig anteilige Leistungen zu berechnen, weil jedenfalls eine Abrechnung entsprechend dem Dienstvertrag mit der Kirchgemeinde zu erwarten ist. Insoweit ist auch wegen der Einlassungen des Vermieters als Zeugen ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit glaubhaft gemacht.

Sofern – wie hier – für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum Leistungen geltend gemacht werden, ist ein Anordnungsgrund nur dann zu bejahen, wenn noch ein gegenwärtiger schwerer unzumutbarer Nachteil besteht, der glaubhaft gemacht wird (SächsLSG, Beschluss vom 08.11.2012, a.a.O.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.04.2006 – L 10 B 136/06 AS-ER). Ein solcher ist nur gegeben, wenn ein besonderer Nachholbedarf besteht, d.h. wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistungen in der Vergangenheit in Zukunft fortwirkt und eine weiterhin gegenwärtige, die einstweilige Anordnung rechtfertigende Notlage begründet (Phillip, NVwZ 1984, 489; Knorr, DÖV 1981, 79; SächsOVG, Beschluss vom 19.08.1993 – 2 S 183/93, SächsVBl. 1994, 114, 115; OVG NRW, Beschluss vom 06.05.1980 – 8 B 1376/79, DÖV 1981, 302). Dies ist hier zwar wegen der bestehenden Mietschulden der Fall, weil der Vermieter sofort das Mietverhältnis beenden und die Antragsteller so schnell wie möglich aus der Wohnung haben will. Aber für die Zeit vor dem 30.09.2013 fehlt es nach den o.g. Feststellungen des Senats schon an einer Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs, weil ein Leistungsanspruch nach aller Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Bei einer solchen Konstellation kann auch ein unzweifelhaft bestehender Anordnungsgrund den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht ersetzen.

Da es sich um existenzsichernde Leistungen handelt, also ein grundrechtsrelevanter Bereich betroffen ist, steht einer vorläufigen und zeitlich sehr begrenzten Vorwegnahme der Hauptsache nichts entgegen.

Auf den Vorbehalt der Bundesregierung zum EFA-Abkommen kommt es nach der hier vertreten Auffassung nicht an. Angesichts der Auffassung des Senats kommt auch ein Anspruch auf Sozialhilfe nicht in Betracht (vgl. Beschluss des Senats vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, a.a.O., RdNr. 66 m.w.N.). Aus ihrer schweizerischen Staatsangehörigkeit kann die Antragstellerin zu 1 keine weitergehenden Ansprüche ableiten.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass die Antragstellerin nur in sehr geringem Umfang und lediglich aufgrund einer Folgenabwägung eine Teilerfolg errungen hat.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Wagner Richterin am LSG
Rechtskraft
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