S 8 AS 399/12 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AS 399/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 27.04.2012 gegen den Bescheid vom 28.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2012 wird angeordnet. 2. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers dem Grunde nach.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Aufforderung zur Beantragung einer Altersrente.

Der am 00.00.0000 geborene Antragsteller steht seit dem Jahr 2008 im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bei dem Antragsgegner.

Mit Bescheid vom 28.02.2012 teilte der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller mit, dass dieser nach den vorliegenden Unterlagen einen Anspruch auf Altersrente haben könne. Er wies auf die Verpflichtung des Antragstellers hin, einen Antrag bei seinem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, wenn er eine geminderte Altersrente mit Abschlägen beziehen könne und das 63. Lebensjahr vollendet habe. Zugleich bat der Antragsgegner den Antragsteller darum, seine Altersrente umgehend bei der Deutschen Rentenversicherung Rheinland zu beantragen und die Antragstellung bis zum 23.03.2012 mitzuteilen. Der Bescheid enthielt einen Hinweis darauf, dass der Antragsgegner berechtigt sei, den Antrag ersatzweise zu stellen, wenn die Antragstellung durch den Antragsteller selbst nicht umgehend erfolge.

Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller am 23.03.2012 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, die vorgezogene geminderte Altersrente stelle für ihn eine unbillige Härte dar. Ihm werde dadurch die Möglichkeit genommen, ein im Rahmen seiner selbstständigen Tätigkeit aufgenommenes betriebliches Darlehen, welches in 10 Monaten getilgt sei, zurückzuzahlen. Ebenso könne er im Falle der Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente nicht wie geplant betriebliche Investitionen tätigen, sondern sei gezwungen, in die Insolvenz zu gehen. Infolge dessen werde er dauerhaft in der Grundsicherung verbleiben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2012 – das Datum der Zustellung ist zwischen den Beteiligten streitig – wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Antragsteller vollende sein 63. Lebensjahr mit Ablauf des 00.00.0000 und sei daher aufzufordern gewesen, für die Zeit ab dem 10.06.2012 fristgerecht Alterstente – auch soweit diese mit Abschlägen verbunden sei – zu beantragen. Auf den Antragsteller treffe auch keine der in der Unbilligkeitsverordnung geregelten Ausnahmen zu.

Mit Schreiben vom 16.04.2012 machte der Antragsgegner gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Rheinland einen Erstattungsanspruch geltend. Zugleich wies er darauf hin, dass das Schreiben als Antragstellung nach § 5 Abs. 3 SGB II gelte. Eine Abschrift des Schreibens übermittelte der Antragsgegner zur Kenntnisnahme an den Antragsteller.

Am 19.04.2012 hat der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz bei dem Sozialgericht nachgesucht und zunächst sinngemäß beantragt, die aufschiebende Wirkung des am 23.03.2012 erhobenen Widerspruchs anzuordnen. Im Hinblick auf den zwischenzeitlich erlassenen Widerspruchsbescheid hat der Antragsteller am 27.04.2012 Klage erhoben. Mit Schriftsatz gleichen Datums hat er beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Der Antragsteller ist der Ansicht, die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente sei für ihn unbillig. Die Bewertung, ob eine Unbilligkeit wegen Einkommenserzielung aus einer Erwerbstätigkeit vorliege, müsse bei Selbstständigen anhand des Umsatzes vorgenommen werden. Sein Umsatz überschreite die in der Unbilligkeitsverordnung genannten Grenzen. Der Antragsgegner habe vor seiner Entscheidung auch keine Ermessensabwägung vorgenommen.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 27.04.2012 gegen den Bescheid vom 28.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2012 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

den Antrag zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, der Antragsteller erziele im Rahmen seiner selbstständigen Tätigkeit kein Einkommen in einer solchen Höhe, dass die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente für ihn unbillig sei. Die im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung gehe zu Lasten des Antragstellers aus.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen.

II.

Der nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen die Klage keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein derartiger Fall ist hier gegeben, denn bei dem von dem Antragsgegner erlassenen Bescheid vom 28.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2012 handelt es sich um einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangingen Leistung (Altersrente) aufgefordert wird. Folglich kommt der gegen ihn gerichteten Klage nach § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung zu.

Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt, dessen sofortige Vollziehbarkeit unmittelbar kraft Gesetzes eintritt, sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II nicht vor. Entscheidungserheblich ist, ob im Rahmen einer offenen Abwägung dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gegenüber den schutzwürdigen Interessen des Adressaten einzuräumen ist. Ist die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung grundsätzlich abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Ist die Klage dagegen offensichtlich zulässig und begründet, ist dem Antrag regelmäßig stattzugeben, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht. Eine besondere Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers ist in diesem Fall nicht erforderlich (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, in: Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, Rn. 12f zu § 86b SGG). Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, bei der es insbesondere darauf ankommt, welche Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache aufgrund einer vorläufigen Prüfung der Rechtslage und summarischen Prüfung der Tatsachenlage beizumessen ist.

Dies zugrunde gelegt, war die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Die Klage hat nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens Aussicht auf Erfolg.

Gemäß § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Eine Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters besteht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres allerdings nicht (§ 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II). Mit Vollendung des 63. Lebensjahres sind Leistungsberechtigte hingegen grundsätzlich zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente verpflichtet, auch wenn dies Abschläge nach sich zieht (vgl. Bundestags-Drucksache 16/7460, S. 12 zu Nr. 3). Etwas anderes gilt für Hilfebedürftige, deren Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II vor dem 01.01.2008 entstanden ist und die zu diesem Zeitpunkt das 58. Lebensjahr vollendet hatten. Für diese verweist § 65 Abs. 4 Satz 3 SGB II auf die Vorschrift des § 428 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III), der eine Klarstellung dahingehend enthält, dass der Betreffende nicht zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente verpflichtet ist. Weitere Ausnahmen von der Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente werden in der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (UnbilligkeitsV) geregelt, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf der Grundlage der Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 2 SGB II erlassen worden ist. Die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente ist hiernach etwa dann unbillig, solange Hilfebedürftige sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielen (§ 4 UnbilligkeitsV). Liegt keine der vorgenannten Ausnahmen vor, bleibt es bei der in § 12a Satz 1 SGB II genannten Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen.

Ob einer der vorgenannten Ausnahmetatbestände auf den Antragsteller zutrifft, insbesondere ob die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente wegen der Ausübung seiner selbstständigen Tätigkeit unbillig im Sinne des § 4 UnbilligkeitsV ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn die mit der Klage angefochtene Aufforderung zur Beantragung einer vorrangigen Altersrente ist schon deshalb rechtswidrig, weil es an der erforderlichen Ermessensausübung durch den Antragsgegner fehlt. Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II können die Leistungsträger, sofern Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, den Antrag selbst stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Nach dem eindeutigen Wortlaut steht die Entscheidung, ob ein Antrag gestellt wird, im Ermessen des jeweiligen Leistungsträgers ("können"). Auch bei der Geltendmachung vorzeitiger Altersruhegelder enthebt § 12a Satz 1 SGB II den Grundsicherungsträger daher nicht davon, Ermessenserwägungen darüber anzustellen, ob er den Antrag überhaupt stellt (Bieback, in: Beck´scher Online-Kommentar zum Sozialgesetzbuch, 44. Ergänzungslieferung 2012, Rn. 95 zu § 5 SGB II). Sachgerecht ausgeübt wird das Ermessen nur dann, wenn verhindert wird, dass durch die vorzeitige Inanspruchnahme die persönlichen Entgeltpunkte und damit der Zahlbetrag der Rente so stark gekürzt werden, dass der hilfebedürftige Anspruchsberechtigte dauerhaft hilfebedürftig im Sinne des SGB II wird (Bieback, in: Beck´scher Online-Kommentar zum Sozialgesetzbuch, 44. Ergänzungslieferung 2012, Rn. 95 zu § 5 SGB II). Nach zutreffender Ansicht steht aber nicht nur die Antragstellung selbst im Ermessen des Leistungsträgers, vielmehr bedarf bereits die in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II ausdrücklich vorausgesetzte Aufforderung zur Antragstellung einer Ermessensentscheidung der Behörde (vgl. Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.02.2010, L 19 B 371/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss vom 24.05.2011, L 7 AS 88/11 B ER). Eine andere Sichtweise würde nämlich dazu führen, dass derjenige Hilfeempfänger, der der Aufforderung des Leistungsträgers nachkommt und den Rentenantrag selbst stellt, benachteiligt wird. Denn in seinem Fall würde die in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II vorgesehene Ermessensentscheidung vor Vollziehung des Antrags nicht stattfinden. Um diese Benachteiligung zu vermeiden, hat die Ermessensentscheidung bereits im Rahmen der Prüfung, ob überhaupt eine Aufforderung zur Antragstellung erfolgt, stattzufinden (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.02.2010, L 19 B 371/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss vom 24.05.2011, L 7 AS 88/11 B ER).

Dass der Antragsgegner vor Versendung des Aufforderungsbescheides vom 28.02.2012 Ermessenserwägungen im Hinblick auf die konkrete Situation des Antragstellers angestellt hat, ist dem Bescheid nicht zu entnehmen. Vielmehr hat er dort lediglich auf die seines Erachtens bestehende gesetzliche Verpflichtung des Antragstellers, einen Antrag bei seinem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, hingewiesen. Zwar kann eine nicht oder fehlerhaft erfolgte Ermessensausübung grundsätzlich im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nachgeholt werden. Allerdings enthält auch der Widerspruchsbescheid vom 12.04.2012 keine Ermessensentscheidung. Denn dort hat sich der Antragsgegner auf die Feststellung beschränkt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12a Satz 1 SGB II erfüllt seien, wobei er auch auf die Ausnahmetatbestände aus der Unbilligkeitsverordnung Bezug genommen und deren Vorliegen verneint hat. Letztlich hat der Antragsgegner allein aus dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12a Satz 1 SGB II und dem Umstand, dass der Antragsteller demnächst sein 63. Lebensjahr vollenden wird, die Verpflichtung abgeleitet, ihn zur Rentenantragstellung aufzufordern (vgl. S. 2 des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2012). Die Vorschriften der Unbilligkeitsverordnung konkretisieren aber nur die Frage, wann die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente unbillig ist. Sie werden somit auf der Tatbestandsebene des § 12a Satz 1 SGB II relevant. Dagegen wird das im Rahmen des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II auszuübende Ermessen nicht durch die Unbilligkeitsverordnung beschränkt (Bieback, in: Beck´scher Online-Kommentar zum Sozialgesetzbuch, 44. Ergänzungslieferung 2012, Rn. 95 zu § 5 SGB II). Allein die Feststellung, dass ein Ausnahmetatbestand aus der Unbilligkeitsverordnung nicht erfüllt ist, entbindet den Antragsgegner damit nicht von der Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens bei der Beurteilung, ob eine Aufforderung zur Rentenantragstellung erfolgt. Derartige Ermessenserwägungen lässt der Widerspruchsbescheid vermissen. Beispielsweise hat sich der Antragsgegner nicht mit dem Vortrag des Antragstellers, die Inanspruchnahme der geminderten Altersrente verhindere die Fortführung seiner selbstständigen Tätigkeit und führe zu seinem dauerhaften Verbleib in der Grundsicherung, auseinandergesetzt.

Nach alledem ist die Aufforderung gegenüber dem Antragsteller in rechtswidriger Weise erfolgt. Die aufschiebende Wirkung der Klage war daher im Interesse des Antragstellers anzuordnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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