S 4 R 158/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 158/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 129/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Beruht die Erwerbsminderung auf einem Verkehrsunfall, der u. a. darauf zurückzuführen ist, dass der Versicherte vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis gefahren ist, kann ein Rentenantrag abgelehnt werden.
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1985 geborene Kläger, der von Beruf Koch ist, stellte am 12.09.2011 einen entsprechenden Antrag bei der Beklagten. Er begründete den Antrag mit den Folgen eines am 11.03.2011 erlittenen Verkehrsunfalls, bei dem er sich mehrere Frakturen und eine Armnervenschädigung links zuzog. Zu dem Unfall war es gekommen, weil der Kläger gegen 22:30 Uhr auf der Bundesautobahn 5 mit seinem PKW in einen Erdhügel fuhr. Aufgrund einer später festgestellten Blutalkoholkonzentration von 1,39 Promille war er fahruntüchtig. Er besaß auch keine Fahrerlaubnis, da diese ihm durch rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts Darmstadt vom 30.12.2010 wegen einer Trunkenheitsfahrt entzogen worden war. Der Kläger wurde deswegen durch das Amtsgericht Groß-Gerau mit rechtskräftigem Urteil vom 08.09.2011 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Mit Bescheid vom 23.12.2011 lehnte die Beklagte den Rentenantrag unter Bezugnahme auf die Vorschrift des § 104 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ab. Sie begründete ihre Entscheidung damit, der Kläger sei zwar erwerbsgemindert und erfülle auch die erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei aber ausschließlich auf die Folgen des Verkehrsunfalls vom 11.03.2011 zurückzuführen. Damit komme § 104 SGB VI zur Anwendung. Der Tatbestand eines vorsätzlichen Vergehens sei durch das strafgerichtliche Urteil vom 08.09.2011 erfüllt. Der Kläger habe sich am 11.03.2011 entschlossen gehabt, mit einem PKW am Straßenverkehr teilzunehmen, ohne im Besitz der dafür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein und sei wegen dieses vorsätzlich begangenen Vergehens in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit bestraft worden.

Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 03.04.2012 zurück.

In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, nach den ärztlichen Feststellungen sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers ausschließlich auf die Folgen des am 11.03.2011 erlittenen Verkehrsunfalles zurückzuführen. Der Kläger sei daher wegen eines vorsätzlich begangenen Delikts verurteilt worden. Die Versagung einer Leistung sowie der Umfang der Leistungsverweigerung liege im pflichtgemäßen Ermessen des Rentenversicherungsträgers. Dieser habe die besonderen Umstände des Einzelfalles in die erforderliche Abwägung einzubeziehen. Das Interesse des Klägers an der Auszahlung einer Rente sei gegen das Interesse der Solidargemeinschaft aller Versicherten abzuwägen. Hier sei zu berücksichtigen, dass das Verhalten des Klägers eine grobe Selbstgefährdung darstelle. Der Kläger habe sich eigenmächtig über anerkannte Grundprinzipien der Versichertengemeinschaft hinweggesetzt, indem er in alkoholisiertem Zustand ein Kraftfahrzeug geführt habe, ohne die erforderliche Erlaubnis zu besitzen. Er habe das Interesse der Versichertengemeinschaft verletzt, indem er gröblich gegen Vorschriften verstoßen habe, die der Gefahrenabwehr dienten. Es liege auf der Hand, dass sein Verhalten zu einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung habe führen können. Bei der Abwägung der beiderseitigen Interessen gebühre dem Interesse der Versichertengemeinschaft der Vorrang.

Der Kläger hat am 16.04.2012 Klage erhoben.

Er ist der Auffassung, die Entscheidung der Beklagten berücksichtige nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. § 104 SGB VI sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Bei der Ermessensentscheidung seien alle Umstände des Einzelfalles zu beachten. Dazu gehörten auch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Vorliegend sei zu berücksichtigen, dass er bis zu seinem Unfall als Koch gearbeitet habe und seitdem nur noch Sozialleistungen beziehe. Die Versagung der Erwerbsminderungsrente habe daher für ihn erhebliche wirtschaftliche Folgen. Dies gelte umso mehr, als dass er nach neuesten ärztlichen Aussagen noch weitere zwei Jahre in seiner Erwerbsfähigkeit erheblich gemindert sei.

Im Übrigen könne Grundlage der Ermessensentscheidung der Beklagten allein der Verstoß gegen § 21 Straßenverkehrsgesetz (StVG) (Fahren ohne Fahrerlaubnis) sein, da nur dieser vorsätzlich begangen worden sei. Er habe bis zum 11.03.2011 jahrelang einen Führerschein gehabt und besitze die erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse. Das Fahren ohne Fahrerlaubnis sei daher nicht kausal für den Unfall gewesen. Es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Unfall ebenso ohne Alkoholisierung eingetreten wäre. Insoweit könne auch von einer erheblichen Selbstgefährdung nicht mehr die Rede sein. Es genüge gerade nicht, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung lediglich bei Gelegenheit der strafbaren Handlung eintrete (Hinweis auf BSGE 25, 161, 163), wie es hier der Fall gewesen sei.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 23.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auf den Antrag vom 12.09.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der Tatbestand des § 104 Abs. 1 SGB VI sei erfüllt. Es gehe nicht um die Frage, ob sich der Verkehrsunfall auch ohne die Alkoholisierung ereignet hätte. Tatsache sei, dass der Kläger durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr ohne Fahrerlaubnis ein vorsätzliches Vergehen begangen habe. Das Ermessen sei pflichtgemäß ausgeübt worden.

Die Rentenakte der Beklagten sowie die Akte der Staatsanwaltschaft Darmstadt - Az. 8000 Js 20350/11 - sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe:

Der Bescheid der Beklagten vom 23.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2012 ist rechtmäßig.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Einem solchen Anspruch steht die Vorschrift des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI entgegen. Danach kann eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ganz oder teilweise versagt werden, wenn der Berechtigte sich die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung bei einer Handlung zugezogen hat, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist.

Die Erwerbsminderung des Klägers beruht auf den Folgen des Unfalls, den er am 11.03.2011 erlitten hat. Hierüber wird zwischen den Beteiligten auch nicht gestritten. Dieser Unfall ist bei einer von dem Kläger begangenen Handlung eingetreten, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichem Urteil des Amtsgerichts Groß-Gerau ein vorsätzliches Vergehen ist (dazu 1.). Die Versagung der Leistung durch die Beklagte ist auch im Hinblick auf das der Beklagten eingeräumte Ermessen rechtlich nicht zu beanstanden (dazu 2.)
1. Der Versicherungsfall ist "bei" einer strafbaren Handlung eingetreten. Das Gericht teilt nicht die Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, es fehle an einem Ursachenzusammenhang zwischen der Vorsatztat und der gesundheitlichen Beeinträchtigung. Ein solcher Ursachenzusammenhang ist zwar notwendig, es genügt nicht, dass "bei Gelegenheit" einer strafbaren Handlung sich gleichzeitig ein Versicherungsfall ereignet, ohne dass ein Zusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und dem Versicherungsfall besteht. Insoweit trifft auch der Hinweis des Prozessbevollmächtigten auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.08.1966 - 2 RU 176/65 - BSGE 25, 161, 163 - zum ähnlich formulierten, damals anzuwendenden § 557 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - zu. Hier ist der Unfall aber nicht "bei Gelegenheit" einer vorsätzlichen Straftat entstanden, sondern steht mit der vorsätzlich begangenen Straftat in einem unmittelbaren Ursachenzusammenhang. Zu dem Unfall wäre es nicht gekommen, wenn der Kläger nicht ohne Fahrerlaubnis gefahren wäre. Es kommt noch hinzu, dass der Kläger durch ein und dieselbe Handlung zwei Straftaten (Fahren ohne Fahrerlaubnis und fahrlässige Trunkenheit im Verkehr) begangen hat. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass sich allein hierdurch schon eine Differenzierung hinsichtlich der Kausalität zwischen der vorsätzlich begangenen und der fahrlässig begangenen Straftat verbietet. Der Straftatbestand der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr konnte nur dadurch verwirklicht werden, dass der Kläger ohne Fahrerlaubnis gefahren ist. Der Unfall ist durch die Verwirklichung beider Straftatbestände entstanden. Der Kläger mag zwar die theoretischen und praktischen Kenntnisse für das Autofahren besitzen. Zum Zeitpunkt des Unfalls besaß er sie aber alkoholbedingt gerade nicht. Die beiden Taten stehen daher in einem ganz engen Zusammenhang. Dies reicht aus, um hier eine Kausalität zwischen dem vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis und dem Unfall zu begründen.

2. Das durch die Erfüllung des Tatbestandes des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI eingeräumte Ermessen, die Leistung ganz oder teilweise zu versagen, hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Soweit ein Leistungsträger ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, ist sein Handeln rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grundlagen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen einer dem Zwecke des Ermessens nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz SGG- sowie § 39 Abs. 1 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I - zur Ermessensausübung bei Ermessensleistungen). Umgekehrt hat der Versicherte Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I), nicht aber einen Rechtsanspruch auf einen bestimmten Betrag - bei einem Leistungsbegehren - oder den Verzicht auf jegliche Leistungsbegrenzung - bei einem Streit wie dem vorliegenden -, sofern nicht eine "Ermessensreduzierung auf Null" eingetreten ist. Derartiges hat der Kläger nicht behauptet. Er hat sich neben Angriffen gegen das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen vor allem gegen die Ermessensausübung der Beklagten gewandt. Abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall der Ermessensreduzierung auf Null, in dem es nur ein ermessensgerechtes Ergebnis gibt, hat der Gesetzgeber dem Leistungsträger mit Einräumung von Ermessen eine Auswahlbefugnis hinsichtlich mehrerer gleichermaßen rechtmäßiger Entscheidungsmöglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite eröffnet, einschließlich der Möglichkeit von einer Leistungsversagung ganz oder teilweise abzusehen. Zur Sicherung dieser Entscheidungsfreiheit des Leistungsträgers ist die Überprüfung seiner Ermessensentscheidung durch das Gericht nur eingeschränkt dahingehend zulässig, ob die gesetzlichen Grundlagen des Ermessens überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Wenn der Bescheid rechtswidrig ist, darf das Gericht daher auch nur den Bescheid aufheben und den Träger zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilen, nicht aber eigene Ermessenserwägungen anstellen und sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Leistungsträgers setzen.

Ausgangspunkt bei der Prüfung der Ermessensausübung des Leistungsträgers sind neben dieser allgemeinen Grundregel einerseits die jeweilige Norm, die zur Ermessensausübung ermächtigt, hier also § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, sowie andererseits der Bescheid des Leistungsträgers in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG), weil dieser die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist, § 35 Abs. 1 Satz 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X -. Die Kammer hat hier keinen Ermessensfehler der Beklagten erkennen können. Die Beklagte hat ihre Ermessensentscheidung im Wesentlichen damit begründet, das Verhalten des Klägers habe eine grobe Selbstgefährdung dargestellt und der Kläger habe sich eigenmächtig über anerkannte Grundprinzipien der Versichertengemeinschaft hinweggesetzt, indem er in alkoholisiertem Zustand ein Kraftfahrzeug geführt habe, ohne die erforderliche Erlaubnis zu besitzen. Dem Interesse der Versichertengemeinschaft hat die Beklagte das Interesse des Klägers an der Auszahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gegenüber gestellt und letztlich dem Interesse der Versichertengemeinschaft, die Rente zu versagen, den Vorrang eingeräumt. Diese Abwägung steht in Einklang mit dem Normzweck des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Die Vorschrift soll einen Ausgleich schaffen zwischen dem Grundsatz, dass Sozialrecht keine strafrechtlichen Funktionen wahrzunehmen hat und dem sozialethisch kaum tolerierbaren Ergebnis, dass schwere Strafverstöße auch noch durch Sozialversicherungsleistungen "belohnt" werden. Letztlich zielt § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ähnlich wie § 101 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - SGB VII - sowie die vergleichbaren Vorschriften in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 52 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch SGB V -) auf die Versagung von sozialem Schutz bzw. sozialer Sicherheit ab, weil der Betreffende durch sein strafrechtlich als Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen zu bewertendes Verhalten sozialethische Mindeststandards verletzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18.03.2011, Az.: B 2 U 1/07 R mit Hinweis auf Hänlein, Moral Hazard und Sozialversicherung - Versicherungsverhalten und Versicherungsfall im Sozialversicherungsrecht, Zeitschrift für Versicherungswissenschaft 2002, 579 ff.). Dies ist auch die zutreffende rechtliche Grundhaltung der Beklagten, wie sie von ihr in ihrem Widerspruchsbescheid wiedergegeben wurde. Ein Leistungsträger muss zudem nicht auf alle Umstände des Einzelfalles eingehen, vielmehr genügt es, wenn er die maßgebenden tragenden Gesichtspunkte in der Begründung des Bescheides mitteilt. Die Ausführungen der Beklagten in dem angefochten Widerspruchsbescheid genügen diesen Anforderungen. Das Vorbringen des Klägers, die Versagung der Erwerbsminderungsrente habe für ihn erhebliche wirtschaftliche Folgen ist demgegenüber nicht geeignet, einen Ermessensfehler zu begründen. Die Beklagte hat das Interesse des Klägers an der Auszahlung einer Rente ausdrücklich in ihre Überlegungen mit einbezogen. Die Entscheidung der Beklagten ist daher frei von Ermessensfehlern.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG. Die Berufung ist gemäß § 143 SGG zulässig.
Rechtskraft
Aus
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