L 8 SO 132/13 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 54 SO 346/13 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 132/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Eine permanente Assistenz kann als Hilfe zur Pflege beansprucht werden, wenn dem Hilfebdürftigen anderweit eine selbstbestimmtes Leben im eigenen Haushalt nicht möglich ist.

2. Die Mehrkosten gegenüber einer Unterbringung in einer Einrichtung sind dann unbeachtlich, wenn die stationäre Versorgung unzumutbar ist (§ 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII); sie erscheint hier unzumubtar, weil dem Wunsch des schwerstbehinderten Hilfebedürftigen (Duchenne-Muskeldystrophie im vorletzten Stadium) nach einem selbstbestimmten Leben in einer eigenen Wohnung überragenden Rang zukommt.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 28. November 2013 wird aufgehoben.

II. Der Beschwerdegegner wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer als weitere Hilfeleistungen eine permanente persönliche Betreuung gemäß des Kostenangebotes der Beigeladenen vom 17.10.2013 (Kosten in Höhe von 12.479,34 EUR abzüglich der von der Bahn-BKK gewährte Pflegeleistungen in Höhe von zurzeit 1.918 EUR) vorläufig ab Einzug in die Wohnung Konkordienstraße 13, Dresden, und bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens für zwölf Monate, durch den Beigeladenen zu gewähren.

III. Der Beschwerdegegner hat dem Beschwerdeführer dessen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge des Verfahrens zu erstatten; weitere außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf.) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vom Beschwerdegegner (Bg.), dem überörtlichen Sozialhilfeträger, die vorläufige Erbringung einer permanenten persönlichen Assistenz als Leistung der Hilfe zur Pflege und zur Teilhabe am häuslichen Leben und am Leben in der Gemeinschaft nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der 1987 geborene und bei der Bahn-BKK kranken- und pflegeversicherte Bf. leidet seit seiner Geburt an einer Duchenne-Muskeldystrophie, Wirbelsäulenversteifung sowie chronisch-resipatorischer und ventilatorischer Insuffizienz. Er wird nichtinvasiv beatmet und erhält eine O2-Langzeittherapie; er wird über eine PEG-Sonde ernährt. Körperbewegungen sind ihm mittlerweile nur noch mit dem Kopf und durch leichtes Anheben des gestreckten Fingers möglich. Ihm sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100, die Merkzeichen "G", "aG", "H" sowie die Pflegestufe III+ (Härtefall) zuerkannt.

Aufgrund seiner körperlichen Leiden war der Bf. zeitlebens stationär in Fördereinrichtungen und Wohnstätten untergebracht. Zurzeit lebt er in einem Wohnheim der Beigeladenen, einer zugelassenen Pflegeeinrichtung im Sinne des § 72 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI), und arbeitet nach abgeschlossener Ausbildung als Bürokaufmann in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).

Im November 2012 beantragte der Bf. die Gewährung eines persönlichen Budgets für ein selbstbestimmtes Wohnen. Im Rahmen des amtsärztlichen Gutachtens für den Bg. kam die Amtsärztin Dipl.-Med. S am 17.01.2013 zu dem Schluss, dass dem Kläger eine permanente persönliche Assistenz (24 Stunden am Tag) in eigener Wohnung gewährt werden solle. Der Bf. erhalte damit erstmals die Möglichkeit, seinen Tagesablauf selbst zu bestimmen. Bisher sei sein Dasein in der Freizeit auf das Erhalten von Pflegemaßnahmen beschränkt. Im bisherigen Pflegeheim fehle es ihm an Bewohnerkontakten, weil seine Mitbewohner deutlich älter als er seien und die teils gleichaltrigen Werkstattgänger in einem anderen Bereich lebten. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter beruflich stark eingespannt; Geschwister habe er nicht. Ein weiterer Verbleib im Pflegeheim führe zwangsläufig zu einer Mangelversorgung des Bf. im Freizeitbereich.

Am 25.10.2013 beantragte der Bf. beim Bg. die Zustimmung zum Umzug in eine bestimmte Wohnung in Dresden, die Übernahme der Kosten der Unterkunft (KdU), die Gewährung eines Mehrbedarfs sowie weiterer im Zusammenhang mit dem Bezug der Wohnung stehenden Sozialhilfeleistungen. Hierzu legte er ein Kostenangebot der Beigeladenen vom 17.10.2013 vor, wonach diese eine permanente persönliche Assistenz zu Kosten in Höhe von 12.479,34 EUR anbiete.

Nachdem eine Gesamtplankonferenz am 14.11.2013 zu keinem Ergebnis führte, hat der Bf. am 20.11.2013 beim Sozialgericht Dresden (SG) den Erlass einer Einstweiligen Anordnung beantragt, um den Bg. zu verpflichten, ihm vorläufig eine Zustimmung zum Umzug zu erteilen sowie ihm KdU, Pflegegeld und Assistenzleitungen in Höhe von 10.561,34 EUR zu gewähren. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 28.11.2013 abgelehnt und dies damit begründet, dass dem Bf. keine Nachteile durch ein Zuwarten drohten. Zwar sei der Ausgang des Verwaltungsverfahrens zumindest offen. Dem Bf. drohten allerdings keine unmittelbaren Gefahren für Leib und Leben, da er im Pflegeheim ausreichend versorgt sei; ihm könne daher der weitere Verbleib dort zugemutet werden. Gegen den am 30.11.2013 zugestellten Beschluss hat der Bf. am 06.12.2013 eingelegt.

Mit Bescheid vom 10.12.2013 teilte der Bg. mit, dass der Bf. Anspruch auf die angemessenen Kosten der Unterkunft und Pflegegeld habe; daraufhin hat der Bf. seine Beschwerde auf die Höhe der Pflege- und Teilhabeleistungen beschränkt.

Der Beschwerdeführer beantragt, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens Leistungen zur Pflegeergänzung und zur Teilhabe am häuslichen Leben und am Leben in der Gemeinschaft in Höhe von 12.479,34 EUR unter Anrechnung der Leistungen der Pflegekasse in Höhe von 1.918 EUR, also in Höhe von 10.561,34 EUR monatlich zu gewähren.

Der Beschwerdegegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten des Bg. und die Gerichtsakten vorgelegen.

II.

Der Senat konnte durch den Einzelrichter entscheiden, weil alle Beteiligten dem zugestimmt haben, § 155 Abs. 3, 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

1. Der angefochtene Beschluss des SG war aufzuheben, weil die dagegen gerichtete Beschwerde des Bf. zulässig und begründet ist. Zu Unrecht hat das SG den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, sofern ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der durch die Anordnung zu sichernde, im Hauptsacheverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb die Anordnung ergehen und dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache gesichert werden soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen der Rechte des Antragstellers, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können, und will sich das Gericht in solchen Fällen an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, muss die Sach- und Rechtslage ggf. abschließend geprüft werden.

2. Ein für den Erlass der begehrten einstweiligen Regelungsanordnung erforderlicher Anordnungsanspruch liegt vor. Der Bf. hat Anspruch auf höhere Hilfeleistungen über die bereits vom Bg. bewilligten Leistungen hinaus.

a) Zunächst ist der Bf. aktivlegitimiert (i. e. berechtigt), einen höheren (hier: anderweitigen) Hilfebedarf, der durch den Sozialhilfeträger mittels eines Leistungserbringers in Form eines Sachleistungsanspruches zu decken ist, geltend zu machen (zu seiner Stellung im Dreieck zwischen Hilfebedürftigem, Sozialhilfeträger und Leistungserbringer ausführlich Senatsbeschluss vom 12.12.2013 – L 8 SO 71/13 B ER – juris RdNrn. 13ff.).

Der Bf. erfüllt zudem offensichtlich und ohne Weiteres die persönlichen Voraussetzungen für die Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII. Auch ist zwischen den Beteiligten unstrittig, dass für den Bf. aufgrund seines komplexen Behinderungsbildes eine permanente persönliche Betreuung vonnöten ist. Die Aufbringung der Mittel aus eigenen Einkommen oder Vermögen ist ihm nicht möglich, so dass er nach § 19 Abs. 3 SGB XII hilfebedürftig ist.

c) Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob der Bf. die ambulante Betreuung verlangen oder aus Kostengründen auf die bisherige stationäre Betreuung verwiesen werden kann. Diese vom SG und den Beteiligten nur untergeordnet erörterte Rechtsfrage findet seine Antwort zugunsten des Bf. in § 13 Abs. 1 SGB XII, denn nach Satz 2 der Vorschrift haben ambulante Leistungen Vorrang vor teilstationären und stationären Leistungen sowie teilstationäre vor stationären Leistungen. Von diesem Grundsatz ist auch im vorliegenden Fall keine Ausnahme zu machen. Zwar gilt der Vorrang der ambulanten Leistung nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist, § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Hier kann aber dahingestellt bleiben, ob die Mehrkosten infolge des Auszugs des Bf. aus dem Pflegeheim und der dadurch erforderlichen ambulanten Betreuung unverhältnismäßig sind. Denn bei Unzumutbarkeit ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen, § 13 Abs. 1 Satz 6 SGB XII. Ein weiteres Verbleiben des Bf. im Pflegeheim des Beigeladenen erscheint dem Senat bei der im Eilverfahren gebotenen Prüfungstiefe als unzumutbar. Denn bei dieser Entscheidung sind zunächst sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen, § 13 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB XII.

Hier geben persönliche Gründe den Ausschlag. Der Bf. begehrt den Auszug aus dem Pflegeheim, um erstmals seine Lebensführung eigenständig und ohne den geordneten Tagesablauf einer stationären Einrichtung zu gestalten. Einer solchen eigenständige Lebensgestaltung außerhalb eines eher auf ältere Menschen ausgerichteten Pflegeheims ist gerade für junge Menschen von hohem Gewicht (vgl. Höfer-Krahmer in: Bieritz-Harder et al., SGB XII, § 13 RdNr. 9 und Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 13 RdNr. 4, sowie Piepenstock, juris-PK SGB XII, § 13 RdNrn. 26 jeweils unter Bezug auf dort verzeichnete Rechtsprechung der Landessozialgerichte [LSG]). Der dadurch zum Ausdruck kommende und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes) entspringende Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung hat auch das SGB XII einen überragenden Rang eingeräumt, wie schon § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zeigt. Dies gilt umso mehr für behinderte Menschen, denen die Hilfeleistungen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern sollen, vgl. § 53 Abs. 3 Satz 2 SGB XII.

d) Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Denn Anordnungsanspruch und –grund stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, RdNr. 300b; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 86b RdNr. 27). Ist danach der im Eilverfahren geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch offensichtlich gegeben, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.05.2004 – L 16 B 15/04 KR ER – juris RdNr. 3; Hessisches LSG, Beschluss vom 13.11.2013 – L 9 AL 102/13 B ER –, juris RdNr. 7). Es bedarf daher nicht erst Gefahren für Leib und Leben und der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, dem auch beim Verbleib im Pflegeheim Genüge getan sein dürfte. Es reicht vielmehr schon aus, dass der Bf. durch einen weiteren Verbleib im Pflegeheim in seiner selbstbestimmte Lebensführung unnachholbar und damit irreversibel eingeschränkt wäre, was angesichts seiner Erkrankung und der daraus resultierenden verkürzten Lebenserwartung umso größeres Gewicht hat.

e) Als Rechtsfolge war einstweilen anzuordnen, dass der Bg. dem Bf. die begehrte Leistung als Sachleistung durch den Beigeladenen vorläufig zu erbringen hat. Hierzu hat sich der Bg. des Beigeladenen zu bedienen, da jener eine nach § 72 SGB XI zugelassene Pflegeeinrichtung unterhält (Vgl. § 75 Abs. 5 Satz 1 SGB XII).

Der Umfang der einstweiligen Anordnung steht im Ermessen des Senats, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO (vgl. hierzu auch Krodel, a.a.O., RdNr. 318). Zur Sicherung vor irreversiblen Rechtsverlusten reicht es aus, die Anordnung vom Einzug in die auch vom Bg. für angemessen gehaltene Wohnung abhängig zu machen und auf zwölf Monate zu befristen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Eine Erstattung der Kosten der Beigeladenen erschien nicht sachgerecht, da diese weder einen Sachantrag gestellt noch sich sonstwie am Beschwerdeverfahren beteiligt hat.

4. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil der Bf. keinen wirksamen Antrag gestellt hat. Nach § 73a SGG in Verbindung mit § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO sind dem Antrag eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie entsprechende Belege beizufügen. Sind Formulare für die Erklärung eingeführt, muss sich die Partei ihrer bedienen, § 117 Abs. 4 ZPO. Dem Antrag auf Gewährung von PKH war das ausgefüllte Formular nach der EG-Prozesskostenhilfevordruckverordnung freilich weder beigefügt, noch wurde es nachgereicht. Der Senat war nicht gehalten, auf dieses Versäumnis gesondert hinzuweisen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30.08.1991 – 2 BvR 995/91 – Juris RdNr. 3; Bundesfinanzhof, Beschluss vom 06.07.2012 – V S 8/12 (PKH) – Juris RdNr. 8).

4. Diese Entscheidungen können nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

Kirchberg Richter am Landessozialgericht
Rechtskraft
Aus
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