S 21 AS 942/11 ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 21 AS 942/11 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Aus § 21 Abs. 6 SGB 2 kann sich unter engen Voraussetzungen ein Anspruch auf Übernahme der
notwendigen Kosten des Umgangsrechts in Russland ergeben (Anschluss an LSG Rheinland-Pfalz,
Beschluss vom 24.11.2010, L 1 SO 133/10 B ER).
1. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die notwendigen Kosten der Antragstellerin für eine einmaligen Anreise zu und die zugehörige Heimreise von ihrer Tochter in (Republik , Russland) einschließlich eines fünftägigen Aufenthaltes dort vorläufig – bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens – zu übernehmen. 2. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin. 3. Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Lübeck ab Antragstellung Prozesskostenhilfe bewilligt.

Gründe:

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Leistungen zur Finanzierung von Fahrtkosten für die Ausübung des elterlichen Sorgerechts im Rahmen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der (sinngemäße) Antrag der Antragstellerin vom 17.08.2011, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihre notwendigen Kosten für einen Besuch bei ihrer Tochter in I (Republik , Russland) vorläufig – bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens – zu übernehmen, hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Das bedeutet, dass die Beweisführung, die einem Antragsteller hinsichtlich der von ihm behaupteten entscheidungserheblichen Umstände grundsätzlich obliegt, vorerst nur einen geringeren Grad an Sicherheit vermitteln muss, als dies in einem Klageverfahren erforderlich wäre. In einem Anordnungsverfahren einstweilen zugesprochene Mittel werden jedoch in aller Regel verbraucht und können, abgesehen von Ausnahmefällen, nach einer etwaigen Aufhebung der Anordnung oder gegenteiligen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr zurückgezahlt werden. Rein faktisch - wenn auch nicht rechtlich - werden somit im Eilverfahren regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen; daher muss die Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs auf die begehrte Leistung sehr groß sein, wobei gegebenenfalls allerdings auch zu berücksichtigen ist, in wessen Sphäre die verbliebenen Ungewissheiten fallen, die den Unterschied zwischen geringer und hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, und auf der anderen Seite, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 29a). Gemessen an diesen Grundsätzen hat der vorliegende Antrag im tenorierten Umfang Erfolg. Die Antragstellerin hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs auf die begehrten Leistungen folgt aus § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Kammer schließt sich nach eigener Prüfung der insoweit überzeugenden Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz an (Beschluss v. 24.11.2010, L 1 SO 133/10 B ER, zitiert nach juris). Dieses hat in einem vergleichbaren Fall über die Gewährung notwendiger Kosten zur Ausübung des Umgangsrechts, welches ein Minus gegenüber dem der Antragstellerin zustehenden Sorgerecht darstellt, ausgeführt: "Ein besonderer Bedarf liegt bereits deshalb vor, weil Kosten des Umgangsrechts in der dem Antragsteller gewährten Regelleistung nicht enthalten sind (vgl auch BSG, Urteil vom 07.11.2006, a.a.O. [Anmerkung: B 7b AS 14/06 R, zu finden bei juris]). Diese Leistung enthält zwar einen gewissen Anteil für Fahrkosten, allerdings betrifft dies nur die üblichen Fahrten im Alltag. Die Kosten des Umgangsrechts stellen einen laufenden Bedarf dar, da die Ausübung des Umgangsrechts auf eine dauerhafte Aufrechterhaltung der Nähebeziehung zum jeweiligen Kind ausgelegt ist. Es handelt sich auch um einen unabweisbaren Bedarf, der aus Mitteln der Grundsicherung zu decken ist. Bereits unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) war anerkannt, dass die Kosten des Umgangsrechts zu den persönlichen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören, für die über die Regelsätze für laufende Leistungen hinaus einmalige oder laufende Leistungen zu erbringen waren (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 25.10.1994 – 1 BvR 1197/93 -, NJW 1995, 1342 f. m.w.N.). Dabei war im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten, dass die Leistungen grundsätzlich mehr als das Maß an Umgang ermöglichen mussten, das im Streitfall zwangsweise hätte durchgesetzt werden können (BVerfG a.a.O.). Die Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums müssen danach - und insoweit ist weder eine zeitliche Zäsur (01.01.2005: In-Kraft-Treten des SGB XII) noch eine strukturelle Unterscheidung zwischen SGB II und SGB XII gerechtfertigt - im Ergebnis die Ausübung des Umgangsrechts bei Bedürftigkeit ermöglichen. Wie dies im Einzelnen zu erfolgen hat, ist abhängig von der einfachrechtlichen Ausgestaltung, die im Licht des Art. 6 Abs. 1 und 2 S 1 GG auszulegen ist (vgl auch BSG, Urteil vom 07.11.2006, a.a.O.). Eine Gewährung der Kosten des Umgangsrechts scheidet nicht bereits deshalb aus, weil damit unangemessen hohe Kosten verbunden sind. Die Kosten müssen sich in einem Bereich bewegen, der den Einsatz öffentlicher Mittel noch rechtfertigt, es dürfen also keine außergewöhnlich hohen Kosten vorliegen. Auch hinsichtlich des Umgangsrechts mit den Kindern ist in der Grundsicherung nämlich keine unbeschränkte Sozialisierung von Scheidungsfolgekosten möglich (vgl. bereits BSG, Urteil vom 07.11.2006, a.a.O.). Als Vergleichsmaßstab können die Kosten angesehen werden, die ein verständiger Umgangsberechtigter außerhalb des Bezugs von Grundsicherungsleistungen aufwenden würde. Hierbei sind jedoch auch die Umstände des Einzelfalles zu beachten, insbesondere die Ausübung des Umgangsrechts in der Vergangenheit." In den vergangenen drei Jahren hat die Antragstellerin ihr Sorgerecht zwar nicht durch Besuche bei ihrer mittlerweile siebzehnjährigen Tochter ausgeübt. Dies war jedoch – unter Zugrundelegung der in diesem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bekannten Tatsachen – nach Überzeugung des Gerichts nicht darin begründet, dass die Antragstellerin kein Interesse daran hatte, ihr Sorgerecht durch Besuche bei ihrer Tochter auszuüben, sondern darin, dass der Antragstellerin die finanziellen Mittel fehlten. Aus diesem Grund hatte sie bereits im Juni 2010, nachdem Großmutter, bei der diese gelebt hatte, verstorben war und eine neue Betreuung gefunden werden musste, versucht, ihr Sorgerecht durch eine Reise nach umzusetzen. Ihr Antrag auf Übernahme der entstehenden Kosten war aber von dem Antragsgegner abgelehnt worden. Im Hinblick darauf und auf das derzeit ganz regelmäßig telefonisch in Anspruch genommene Sorgerecht erscheint die Übernahme der beantragten Kosten eines einmaligen Besuches auch nicht unangemessen (vgl. zur telefonischen Ausübung des Umgangsrechts den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz, aaO). § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II bestimmt in diesem Zusammenhang, dass der Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II unabweisbar ist, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Dies ist vorliegend jedenfalls dann der Fall, wenn es bei jährlich einem (vgl. Sozialgericht , Beschluss v. 07.06.2011, S 6 AS 725/11 ER, zitiert nach juris), höchstens aber einigen wenigen Besuchstermin/en der Antragstellerin bei ihrer Tochter verbleibt. Denn zur Bestimmung, ob der Mehrbedarf der Antragstellerin seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht, sind als Vergleichsmaßstab die Kosten heranzuziehen, die einem (im oder nicht im Leistungsbezug stehenden) verständigem Sorgeberechtigten entstehen, der zur Wahrnehmung seines Sorgerechts sein ihm zur Sorge verpflichtetes, nicht an seinem Wohnort lebendes Kind innerhalb Deutschlands besucht. Nach einer Recherche des Gerichts (www.expedia.de, recherchiert am 07.10.2011) fallen für einen Hin- und Rückflug zwischen und dem nächstgelegenen Flughafen, Ufa, Kosten von ca. 350 EUR an. Hinzu kommen Kosten für die Fahrt zum und vom Flughafen in Höhe von ca. 26 EUR (www.traveliner.de, recherchiert am 07.10.2011), Kosten für die Fahrt zwischen Ufa und (123 km) sowie ggf. Kosten für die Unterbringung der Antragstellerin in. Diese Kosten würde ein verständiger Sorgeberechtigter ohne den Bezug von Grundsicherungsleistungen jedenfalls einmal im Jahr aufwenden, auch ohne dass – wie hier – besonderen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine für das betroffene Kind nachteilige Entwicklung vorliegt. Auch dafür, einem im Bezug von Grundsicherungsleistungen stehenden Sorgeberechtigten die Wahrnehmung seines Sorgerechts für sein ihm zur Sorge verpflichtetes, in Deutschland, aber nicht an seinem Wohnort lebendes Kind zu ermöglichen, können dem Beklagten vergleichbare Kosten entstehen, denn in diesem Fall wäre der Leistungsträger verpflichtet, eine größere Anzahl von Besuchen je Jahr zu finanzieren. Einer Gewährung der beantragten Leistungen kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Antragstellerin ihr Sorgerecht seit mehreren Jahren nur noch telefonisch/postalisch ausgeübt hat. Aus den vorgelegten Einzelverbindungsnachweisen ergibt sich, dass die Nähebeziehung der Antragstellerin zu ihrer Tochter aufrechterhalten wird, indem sie mit ihr regelmäßig in telefonischem Kontakt steht. Darüber hinaus erscheint es für die Entwicklung der Jugendlichen und die Beziehung zu ihrer Mutter sinnvoll, dass zumindest gelegentlich auch ein persönlicher Kontakt und ein persönlicher Eindruck der Antragstellerin vom Wohlergehen ihrer Tochter ermöglicht wird. Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem Umstand, dass die Antragstellerin ihre Tochter aus finanziellen Gründen bereits seit 2008 nicht mehr gesehen hat, sondern lediglich telefonischen und schriftlichen Kontakt mit ihr gehalten hat. Da in Kürze nicht mit einer rechtskräftigen Entscheidung im Widerspruchs- oder einem späteren Klagverfahren zu rechnen ist, kann der Antragstellerin ein Zuwarten nicht zugemutet werden. Bei einer noch längeren Aussetzung der Wahrnehmung des Umgangsrechts durch persönlichen Kontakt, d. h. bei einer Beschränkung auf telefonische Kontakte, droht eine Entfremdung (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, aaO). Der Antragstellerin hatte – wie bereits ausgeführt – bereits im Juni 2010 versucht, ihr Sorgerecht durch eine Reise nach umzusetzen. Dieser vorangehende Antrag war aber von dem Antragsgegner abgelehnt worden, ebenso wie der diesem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zugrundeliegende Neuantrag vom Juni dieses Jahres. Der Antragsgegner hat nur die notwendigen Kosten der Ausübung des Umgangsrechts zu übernehmen. Das Gericht geht davon aus, dass sich diese im dargelegten Rahmen bewegen. Dem Antragsgegner bleibt nachgelassen, die notwendigen Reise- und Aufenthaltskosten der Antragstellerin dadurch zu bestimmen, dass er der Antragstellerin aufgibt, ihm eine Auswahl von (beispielsweise drei) Angeboten für Reise- und Aufenthaltskosten vorzulegen, aus denen er die Auswahl trifft bzw. über die hinaus er selbst ein Alternativangebot erstellt, das er auswählt. Soweit die Antragstellerin die Möglichkeit hat, eine günstige Unterkunft in Anspruch zu nehmen, z. B. bei ihrer Tochter, hat sie diese wahrzunehmen. Sie hat aufgrund ihrer zeitlichen Flexibilität ihre Flüge auch so auszuwählen, dass sie möglichst günstig sind. Verpflegungskosten können grundsätzlich nicht übernommen werden, da die Antragstellerin insoweit Aufwendungen erspart, die ihr in Deutschland auch entstehen würden und die mit der Regelleistung bereits abgegolten sind (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, aaO).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie orientiert sich an der Entscheidung in der Hauptsache.

Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da sie die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt und die Sache aus den vorstehenden Erwägungen hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte (vgl. § 73a SGG i. V. m. §§ 114, 115 ZPO).

Die Vorsitzende der 21. Kammer
Rechtskraft
Aus
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