S 44 AY 140/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
44
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 44 AY 140/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist in einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X, ob dem Kläger für die Zeit vom 10.06.2010 bis 31.12.2010 Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistung (AsylbLG) anstelle gewährter Leistungen nach § 1a AsylbLG zu bewilligen sind.

Der am 05.06.19xx in Deutschland geborene Kläger ist serbische Staatangehörige, der Volksgruppe der Roma angehörig und aus dem Kosovo stammend. Seine seit 2001 geschiedenen Eltern waren 1990 nach Deutschland gekommen und nach vergeblich durchgeführtem Asylverfahren ebenso wie der Kläger und seine 1996 in Deutschland geborene Schwester fortlaufend geduldet. Der Vater des Klägers und seine Schwester verfolgen in einem gleichgelagerten Fall ihre Ansprüche im Verfahren S 44 AY 139/13.

Soweit nachvollziehbar hatte der Kläger seit April 1995 Leistungen nach dem AsylbLG bezogen, seit 2005 solche nach § 2 AsylbLG, bis zur gemeinsamen Ausreise mit dem Vater und Schwester am 02.02.2010. Nach ihren Angaben hatte die Familien die geplante Weiterreise in den Kosovo in Österreich abgebrochen, um durch Deutschland nach Belgien zur Kindesmutter zu fahren. Dort hatten sie sich bis zur Rückkehr nach Deutschland aufgehalten, wo sie am 07.06.2010 einen Asylfolgeantrag stellten, der mit Bescheid vom 20.07.2010 abgelehnt worden war. Dagegen hatte der Kläger das VG Gelsenkirchen um Rechtsschutz angerufen. Nach Zuweisung an die Beklagte und Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft hatte der Kläger gemeinsam mit dem Vater/Schwester ab 10.06.2010 erneut Leistungen nach dem AsylbLG erhalten, fortlaufend nur nach § 3 Abs. 2 AsylbLG ohne den Barbetrag nach § 3 Abs. 1 AsylbLG, für den Monat Juni 2010 durch Bescheid vom 17.06.2010, für den Monat Juli 2010 durch Bescheid vom 24.06.2010, für August 2010 ohne schriftlichen Bescheid, für September 2010 durch Bescheid vom 25.08.2010, für die Monate Oktober bis Dezember 2010 ohne schriftliche Bescheide. Entsprechende Leistungen hatte der Kläger auch in der Folgezeit mit und ohne schriftlichen Bescheid erhalten. Auf seinen Widerspruch vom 25.02.2013 hin wurden zunächst ab April 2012 fortlaufend Leistungen auch nach § 3 Abs. 1 AsylbLG in Höhe von 40,90 EUR monatlich gezahlt, im Folgenden rückwirkend auch für August 2011 und November 2011 bis März 2012.

Seinen Überprüfungsantrag für die Zeit ab Wiedereinreise lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.09.2012 zunächst vollständig ab. Auf den Widerspruch des Klägers vom 22.09.2012 hin erkannte die Beklagte einen Nachzahlungsanspruch der Kläger auch noch für die übrigen Monate des Jahres 2011 an und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2012 im Übrigen zurück. Aufgrund des analog anzuwendenden § 116a SGB XII sei bei ab 01.04.2011 gestellten Überprüfungsanträgen eine Zahlung rückwirkend längstens für einen Zeitraum von 12 Monaten möglich.

Zur Begründung seiner am 21.12.2012 erhobenen Klage vertritt der Kläger die Auffassung, eine analoge Anwendung des § 116a SGB XII sei auch nach dem Urteil des BSG vom 26.06.2013, B 7 AY 6/12 R, in seinem Fall nicht möglich, denn es liege ein anderer Sachverhalt vor. Das BSG habe über einen Fall entschieden, bei dem es um die nachträgliche Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle von Leistungen nach § 3 AsylbLG gegangen sei. Hier gehe es um die nachträgliche Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG anstelle von Leistungen nach § 1a AsylbLG. Für eine solche Fallgestaltung habe das BSG in Abs. 17 der Entscheidungsgründe selbst eine abweichende Entscheidungsmöglichkeit angedeutet. Das sei auch erforderlich, denn hier würden Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums vorenthalten. Das BSG habe auch auf den Referentenentwurf zur Änderung des AsylbLG hingewiesen. Die darin enthaltene Übergangsregelung, die in § 14 eine Verkürzung des Nachzahlungszeitraumes erst für die Zeit ab Inkrafttreten vorsehe, würde völlig gegenstandslos. Die Voraussetzungen für eine Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG hätten an Anfang an nicht vorgelegen, denn die Ablehnung seines Asylfolgeantrages sei nicht bestandskräftig geworden. Der Bevollmächtigte des Klägers hat mitgeteilt, dass ihm dessen der aktueller Aufenthalt nicht bekannt sei. Von der Aushändigung einer Grenzübertrittsbescheinigung habe er erst durch die entsprechende Mitteilung der Beklagte erfahren. Ob der Kläger tatsächlich ausgereist sei, wisse er nicht, die Beklagte offensichtlich ebenso wenig.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2012 zu verurteilen, die den Kläger betreffenden Bescheide für die Zeit vom 10.06.2010 bis 31.12.2010 zu ändern, und dem Kläger für die Zeit vom 10. bis 30.06.2010 weitere 26,68 EUR und für die Monate Juli bis Dezember 2010 jeweils weitere 40,90 EUR zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und sieht sich durch das Urteil des BSG vom 26.06.2013, B 7 AY 6/12 R, bestätigt. Das BSG habe in Abs. 16 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, SGB XII und AsylbLG eine gleiche Behandlung gebiete. Dies werde durch das Urteil des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG bestätigt, wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, gleichermaßen zustehe. Umgekehrt müsse das aber auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen gelten. Zum Referentenentwurf sei anzumerken, dass bei dessen Erstellung das Urteil des BSG noch nicht bekannt gewesen sei.

Dem Kläger (sowie Vater und Schwester) sei am 14.02.2014 durch das Ausländeramt eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt worden, die bis zum 09.03.2014 gültig gewesen sei. Seither habe aus der Familie niemand mehr bei der Beklagten vorgesprochen. Das Ausländeramt gehe davon aus, dass die Familie das Bundesgebiet verlassen habe, alle seien nach unbekannt abgemeldet worden. Leistungen seien nur bis 08.03.2014 einschließlich gewährt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozessakten und der den Kläger betreffenden Leistungsakten des Beklagten. Diese Akten haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Zu Recht hat die Beklagte die Nachbewilligung von Leistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG abgelehnt. Das Klagebegehren scheitert bereits an verfahrensrechtlichen Gründen. § 116a SGB XII schließt eine Nachzahlung der begehrten Leistungen aus.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht und Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurücknehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist (§ 44 Abs. 3 SGB X).

Die Regelung des § 44 SGB X zur rückwirkenden Korrektur bestandskräftiger, rechtswidriger Leistungsablehnung ist auch im Asylbewerberleistungsrecht anwendbar. Dies ist seit einer Grundsatzentscheidung des BSG (Urteil vom 17.06.2008, B 8 AY 5/07 R; jetzt ständige Rechtsprechung, BSG Urteil vom 09.06.2011, B 8 AY 1/10 R) abschließend geklärt.

Die Beklagte ist die für den Überprüfungsantrag zuständige Behörde im Sinne von § 44 Abs. 3 SGB X, denn sie war für die Leistungserbringung im streitigen Zeitraum gemach §§ 10, 10a AsylbLG zuständig. Bei Antragstellung und Bescheidung durch Bescheid vom 19.08.2012 wohnte der Kläger auch noch im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.

Ist ein Verwaltungsakt nach 3 44 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Nach § 9 Abs. 3 AsylbLG ist u.a. § 44 SGB X entsprechend anzuwenden.

Nach § 116a SGB XII gilt für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes § 44 SGB Abs. 4 S. 1 SGB X mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraumes von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

Eine § 116a SGB XII entsprechende Regelung enthält das AsylbLG nicht. Es enthalt auch keine Verweisung auf diese Vorschrift. Gleichwohl ist § 116a SGB XII im AsylbLG analog anzuwenden. Eine analoge Anwendung des § 116a SGB XII ist geboten, denn es liegt im AsylbLG ein Sachverhalt vor, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird und dieser Sachverhalt ist mit dem geregelten vergleichbar. Nach dem Grundgedanken der Norm und dem mit ihr verfolgten Zweck ist im AsylbLG und im SGB XII dieselbe rechtliche Bewertung erforderlich. Es liegt auch eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vor.

Zur analogen Anwendbarkeit des § 116a SGB XII führt das BSG in den Gründen zu seinem Urteil vom 26.06.2013, B 7 AY 6/12 R, wie folgt aus:

Gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 1 SGB X (zur Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Asylbewerberleistungsrecht vgl: BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Einer Entscheidung darüber, ob dem Kläger in der Zeit vom 1.1.2007 bis zum 30.6.2009 Leistungen zu Unrecht vorenthalten wurden und die insoweit ergangenen Bescheide rechtswidrig waren (§ 44 Abs 1 SGB X), bedarf es nicht. § 44 Abs 1 SGB X zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen Verwaltungsakts, mit dem eine (höhere) Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch einen die (höhere) Leistung gewährenden Verwaltungsakt ab. Einem Antragsteller, der über § 44 Abs 4 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme iS von § 44 Abs 1 SGB X zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen (BSGE 104, 213 ff RdNr 22 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSGE 68, 180 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). So liegt der Fall hier. Selbst im Falle der Rechtswidrigkeit bestandskräftiger Bescheide über Leistungen nach dem AsylbLG könnten höhere Leistungen rückwirkend allenfalls für die Zeit ab 1.1.2010 erbracht werden, die nicht streitbefangen ist; insoweit ist § 116a SGB XII analog im Asylbewerberleistungsrecht anzuwenden.

Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden zwar gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht; dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Die 4-Jahresfrist verkürzt sich aber für Anträge, die - wie hier - nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, in entsprechender Anwendung des die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X modifizierenden § 116a SGB XII iVm dem bis 31.12.2012 geltenden § 136 SGB XII (jeweils in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) auf ein Jahr, sodass angesichts der im August 2011 erfolgten Antragstellung keine für den streitbefangenen Zeitraum zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen mehr zu erbringen sind. Wann ein bestandskräftiger Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG für den streitbefangenen Zeitraum - ausdrücklich durch förmlichen Verwaltungsakt oder konkludent (dazu BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R- RdNr 9) - ergangen ist, ist für die Anwendung des § 44 Abs 1 iVm Abs 4 SGB X ohne Bedeutung.

§ 116a SGB XII ist im Zusammenhang mit § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 SGB X analog anzuwenden, weil das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durch das Unterlassen einer Änderung in § 9 Abs 3 AsylbLG eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist (Greiser in juris PraxisKommentar (jurisPK) SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 21 ff). Eine direkte Anwendung des § 116a SGB XII scheidet hingegen aus. Zwar werden Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht (§ 2 Abs 1 AsylbLG); jedoch betrifft diese Regelung nach ihrem Wortlaut ("abweichend von §§ 3 bis 7"), gleich ob sie eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung enthält (offengelassen in BSGE 101, 49 ff RdNr 14 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2), nur das Leistungsrecht des AsylbLG. Deshalb bedarf es für eine direkte Anwendung der den Zeitraum des § 44 Abs 4 SGB X von vier auf ein Jahr verkürzenden Regelung eines besonderen Anwendungsbefehls, der in § 9 Abs 3 AsylbLG aber nicht enthalten ist. § 9 Abs 3 AsylbLG sieht selbst (noch) keine Modifikation des § 44 Abs 4 SGB X vor.

Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung - hier des § 116a SGB XII - auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist und nach dem Grundgedanken der Norm und damit dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert (BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 RdNr 15). Daneben muss eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegen (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN). Diese Voraussetzungen liegen vor.

Die zu regelnden Sachverhalte sind nicht nur im Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II, dort § 40 Abs 1 Satz 2) und im SGB XII, für die die Jahresbegrenzung eingefügt worden ist, sondern auch im AsylbLG in diesem Sinn gleichartig. Das SGB II, das SGB XII und das AsylbLG sind Existenzsicherungssysteme, die alle das Ziel haben, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen (§ 1 Abs 1 SGB II; § 1 Abs 1 Satz 1 SGB XII; BT-Drucks 12/4451 Satz 1 und 3, wonach die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber durch das AsylbLG gewahrt bleiben). Ebenso ist allen drei Existenzsicherungssystemen gemeinsam, dass die gewährten Leistungen einen aktuellen Bedarf bei aktueller Hilfebedürftigkeit decken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz, vgl nur Pattar in Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, S 136) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sind (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338), sodass Leistungen im Rahmen eines Zugunstenverfahrens für die Vergangenheit nur zu erbringen sind, wenn die Existenzsicherungsleistungen ihre Aufgabe noch erfüllen können (BSGE 104, 213 ff RdNr 12 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; SozR 4-1300 § 44 Nr 12 RdNr 14 f).

Dieser Gedanke war auch Beweggrund für den Gesetzgeber zur Einführung des § 116a SGB XII. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X für die Leistungen, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts dienten und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollten (sog Aktualitätsgrundsatz), zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht (BT-Drucks 17/3404, S 114, 129). Nichts anderes kann aber angesichts der Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte für Leistungen nach dem AsylbLG gelten. Die in den Regelungen des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II und § 116a SGB XII zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung muss deshalb für das AsylbLG übernommen werden. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ursprüngliches Ziel der Leistungen nach dem AsylbLG eine "deutliche Absenkung" der früher nach § 120 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz gewährten Leistungen war, also eine Schlechterstellung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG (BT-Drucks 12/4451 Satz 1; vgl insoweit aber BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Dieses Ziel würde konterkariert, wären im Zugunstenverfahren Leistungen nach dem AsylblG (anders als nach dem SGB II bzw dem SGB XII) annähernd bis zu fünf Jahren rückwirkend zu erbringen.

Die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG gebietet auch eine gleiche Behandlung. Dies bestätigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG (BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2), wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Umgekehrt muss das aber auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen gelten. Deshalb soll nach dem Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG (Bearbeitungsstand 4.12.2012; http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/bverfg-asylblg-novelle.html) der Vorschrift des § 9 Abs 3 folgender Satz 2 angefügt werden (Referentenentwurf S 4): "§ 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt." Zur Begründung wird ausgeführt, es werde den Besonderheiten des AsylbLG nicht gerecht, Bedarfe, die tatsächlich nicht mehr vorhanden seien, auch für Zeiträume, die länger in die Vergangenheit zurückreichten, rückwirkend zu gewähren. Die Vierjahresfrist des § 44 SGB X sei für steuerfinanzierte Leistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts und damit in besonderem Maße der Deckung gegenwärtiger Bedarfe dienten, zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht. Insofern müssten dieselben Grundsätze wie in § 116a SGB XII und in § 40 Abs 1 SGB XII gelten. Entsprechend werde § 9 Abs 3 AsylbLG so abgeändert, dass § 44 SGB X zukünftig auch im AsylbLG nur mit der Maßgabe Anwendung finde, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr trete (Referentenentwurf S 15 f, aaO). Die Begründung im Referentenentwurf ist damit annähernd wortgleich zu der Begründung der Änderung des § 40 Abs 1 SGB II und der Einfügung des § 116a SGB XII (BT-Drucks aaO).

Es fehlt auch nicht deshalb an der vergleichbaren Interessenlage, weil die Anträge nach § 44 SGB X auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG betreffen und das System des AsylbLG in erster Linie als Sachleistungssystem ausgestattet ist. Zum einen sind hier solche Leistungen nicht betroffen, sondern Leistungen nach § 2 AsylbLG, die in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden, sodass es nicht einzusehen ist, weshalb insoweit eine Besserstellung des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG erfolgen soll; zum anderen wären Sachleistungen für die Vergangenheit nicht zu erbringen, sondern allenfalls ohnehin Geldleistungen im Sinne eines Sekundäranspruchs. Im Übrigen sehen auch das SGB II und das SGB XII die - allerdings eingeschränkte - Möglichkeit vor, Sachleistungen zu erbringen. Bei der Prüfung, ob die beiden verglichenen Sachverhalte in einer die Analogie ermöglichenden Weise "gleich" bzw "ähnlich" sind, ist die Grenze (erst) dort zu ziehen, wo durch die entsprechende Anwendung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt würde. Dies ist zwar schon dann zu bejahen, wenn es nur zweifelhaft ist, ob der Unterschied zwischen den verglichenen Sachverhalten nicht doch so groß ist, dass durch eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt sein könnte (BSGE 57, 195 ff = SozR 1500 § 149 Nr 7). Derartige Zweifel bestehen aber nach oben Gesagtem gerade nicht. So sieht auch der Referentenentwurf (aaO) eine § 116a SGB XII identische Regelung bei annähernd identischer Begründung vor, ohne zwischen den jeweiligen Leistungen nach dem AsylbLG zu unterscheiden.

Dies rechtfertigt auch die Folgerung einer durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch entstandenen (unbewussten) planwidrigen Regelungslücke (vgl auch: Greiser in jurisPK-SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 27; Scheider in Hohm, AsylbLG, § 9 RdNr 73, Stand Dezember 2012, der ein gesetzgeberisches Versehen wegen unterschiedlicher ministerieller Zuständigkeiten vermutet). Diese hat der Gesetzgeber mittlerweile selbst erkannt, der, wie die beabsichtigte Ergänzung von § 9 Abs 3 AsylbLG und insbesondere die Begründung im Referentenentwurf zeigen, die Gesetzeslücke nachträglich schließen will. Die Annahme einer Gesetzeslücke verbietet sich - anders als der Kläger meint - nicht etwa deshalb, weil in der BT-Drucks 17/3404 die Leistungen nach dem AsylbLG bei der Bewertung der finanziellen Auswirkungen des Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich genannt werden (S 45 und 47) und in der dritten Beratung des Gesetzentwurfs (Plenarprotokoll 17/79) über den Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" zur Ergänzung des Kreises der Leistungsberechtigten nach dem SGB II und dem SGB XII um bisherige Leistungsberechtigte nach dem dann aufzuhebenden AsylbLG (BT-Drucks 17/4106) abgestimmt wurde. Denn die Ausführungen in der BT-Drucks 17/3404 betreffen nur die finanziellen Auswirkungen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes, die natürlich auch Asylbewerber betreffen, die Leistungen entsprechend dem SGB XII erhalten. Auch der Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" betrifft allein die Höhe der Leistungen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch war eine Reaktion des Gesetzgebers auf die den Regelbedarf nach dem SGB II und dem SGB XII betreffende Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Die zitierten amtlichen Drucksachen und Protokolle betreffen ebenfalls unmittelbar oder mittelbar nur den Regelbedarf bzw die Höhe der Leistungsgewährung, haben jedoch keinen Bezug zur Ergänzung des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II bzw des § 116a SGB XII. Sie sind deshalb weder Beleg dafür, dass Leistungen nach dem AsylbLG bewusst ausgeklammert worden sind, noch begründen sie einen solchen Zweifel. Der Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG belegt insoweit sogar das Gegenteil (dazu oben).

An diesem Ergebnis ändert die beabsichtigte Übergangsregelung in § 14 AsylbLG des Referentenentwurfs (Referentenentwurf S 5) nichts, wonach § 9 Abs 3 Satz 2 AsylbLG nicht bei Anträgen nach § 44 SGB X anwendbar sein soll, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung gestellt worden sind. Damit ist bereits keine die Analogie verbietende Regelung beabsichtigt. Ohnedies verbleibt es bis zum möglichen Inkrafttreten bei der Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist."

Nach Auffassung des Gerichts ist trotz der vom Kläger in Abs. 17 der Entscheidungsgründe vermuteten angedeuteten abweichenden Entscheidungsmöglichkeit die analoge Anwendung des § 116a SGB XII nur einheitlich für alle denkbaren Fallvarianten möglich. Dies ergibt sich zunächst unmittelbar aus § 116a SGB XII selbst, aus dem sich keine Einschränkung seiner Geltung auf lediglich bestimmte Fallvarianten entnehmen lässt. Eindeutig schließt er alle nicht begünstigenden bestandskräftigen Bescheide des vorvergangenen Jahres von einer Überprüfung aus. Da nichtbegünstigende Bescheide über Leistungsbewilligung nach dem SGB XII regelmäßig Eingriffe in das Existenzminimum des Betroffenen bedeuten und etwa Fehlentscheidungen zur Anrechnung von (nicht vorhandenem) Vermögen zur Nichtgewährung existenzsichernder Leistungen für einen längeren Zeitraum führen können, laufen die Überlegungen der Kläger zur Besonderheit einer nachträglichen Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG anstelle von Leistungen nach § 1a AsylbLG ins Leere. Auch die inhaltlich gleiche Regelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt uneingeschränkt für alle Fallvarianten rechtswidrig nicht begünstigender Bescheide. Auch im SGB II können Sanktionsbescheide zur Leistungsbewilligung unterhalb des Existenzminimums führen. Gleichwohl sind auch im SGB II alle nicht begünstigenden bestandskräftigen Bescheide des vorvergangenen Jahres von einer Überprüfung ausgeschlossen. Berücksichtigt man darüber hinaus das Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 ( 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11), durch das einerseits die bisherige Regelung in § 3 AsylbLG zur Leistungshöhe für verfassungswidrig erklärt worden ist, weil durch sie das Existenzminimum nicht gesichert wird, andererseits aber (Tenor Ziffer 5) angeordnet wird, dass die Regelungen über die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes des § 9 Abs. 3 AsylbLG in Verbindung mit § 44 SGB X und über die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der rechtlichen Verhältnisse zugunsten der Betroffenen des § 9 Abs. 3 AsylbLG in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 SGB X für Leistungszeiträume bis Ende Juli 2012 keine Anwendung finden, zeigt dies, dass eine Einschränkung der Überprüfungsmöglichkeiten nach § 44 SGB X in zeitlicher Hinsicht auch bei Leistungen möglich ist, durch die das Existenzminimum nicht gewährleistet worden ist.

Ob ein Anspruch des Klägers darüber hinaus auch an fehlender durchgehender Bedürftigkeit scheitert, kann danach offen bleiben.

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 09.06.2011, B 8 AY 1/10 R., Abs. 20) ist in Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X eine Nachzahlung höherer Leistungen nur möglich, wenn seit dem Ende des zur Überprüfung gestellten Zeitraumes ein ununterbrochener Bedarf iS des AsylbLG oder des SGB XII bzw. des SGB II vorgelegen hat. Temporäres Entfallen eines solchen Bedarfs für mindestens einen Monat (BSG, Urteil vom 20.12.2012, B 7 AY 4/11 R) ist anspruchsvernichtend. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei die letzte Tatsacheninstanz. Damit scheidet ein Anspruch selbst dann aus, wenn zwar bei Antragstellung noch durchgehender Bedarf bestanden hatte, dieser aber nachfolgend vor Abschluss eines nachfolgenden Klageverfahrens entfallen oder unterbrochen worden ist. Hier könnte ein solcher Wegfall der Bedürftigkeit eingetreten sein, wenn der Kläger nach Aushändigung der Grenzübertrittsbescheinigung tatsächlich aus dem Bundegebiet ausgereist ist. Die kann allerdings nicht mit Sicherheit festgestellt werden, denn positiver Kenntnis über eine erfolgte Ausreise konnte das Ausländeramt der Beklagten nicht mitteilen. Da zuletzt bis zum 08.03.2014 Leistungen erbracht worden sind, kann temporäres Entfallen der Bedürftigkeit für mindestens einen Monat aktuell noch nicht festgestellt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das Gericht hat die Berufung zugelassen, weil ein Anspruchsausschluss wegen Wegfalls der Bedürftigkeit aktuell noch nicht gesichert ist und es der Beantwortung der Rechtsfrage, ob die analoge Anwendung des § 116a SGB XII über die vom BSG entschiedene Fallvariante hinaus auch für alle weiteren Fallvarianten gilt, grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Rechtskraft
Aus
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