S 4 R 2046/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Stuttgart (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 2046/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Beantragt ein Versicherter nach vollständig abgelehntem Rentenantrag im Widerspruchsverfahren eine "Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften" und gewährt der Versicherungsträger daraufhin eine befristete Rente, hat der Widerspruchsführer regelmäßig Anspruch auf volle Kostenerstattung.
I. Der Bescheid der Beklagten vom 15.8.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.3.2012 wird abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für das Widerspruchsverfahrens bezüglich des Bescheides vom 17.3.2011 in vollem Umfang zu erstatten.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung der vollen Kosten des Widerspruchsverfahrens nach Gewährung einer befristeten Rente wegen Erwerbsminderung im Wege der Abhilfe. Der am 26.6.1963 geborene Kläger beantragte am 7.9.2010 mit Formblattantrag eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Diese lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17.3.2011 vollumfänglich ab. Eine Differenzierung im Ablehnungsschreiben zwischen Rente wegen teilweiser und voller Erwerbsminderung und zwischen Zeit- und Dauerrente fand nicht statt. Mit Schreiben vom 5.4.2011 erhob der Klägerbevollmächtigte Widerspruch, zunächst ohne Antrag und Begründung. Diese wurden mit Schreiben vom 19.4.2011 nachgereicht. Der Klägerbevollmächtigte beantragte "den Bescheid vom 17.3.2011 aufzuheben und dem Widerspruchsführer auf seinen Antrag vom 7.9.2010 eine Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren". Mit Rentenbescheid vom 15.8.2011 gewährte die Beklagte im Abhilfeverfahren Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.10.2011 befristet bis 31.5.2013. Gleichzeitig enthielt der Bescheid eine Kostengrundentscheidung gem. § 63 SGB X, nach der die durch Zahlung eines Unkostenbeitrages bzw. Kostenvorschusses entstandenen Aufwendungen in Höhe der Hälfte des Pauschalbetrages erstattet werden. Zur Begründung verwies die Beklagte auf den Teilerfolg des Widerspruchs durch die Teilabhilfeentscheidung. Mit Begleitschreiben vom 15.8.2011 übersandte die Beklagte dem Kläger eine vorbereitete Erklärung, die folgende Auswahlmöglichkeiten enthielt: () Ich nehme Ihr Anerkenntnis vom 5.8.2011 an und meinen Widerspruch zurück. () Ich nehme meinen Widerspruch zurück. Der Klägerbevollmächtigte wendete sich mit Schreiben vom 22.8.2011 gegen die Kostenquotelung und beantragte die Erstattung der vollen Kosten. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.3.2012 wies die Beklagte den Widerspruch hinsichtlich der Kostengrundentscheidung zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 11.4.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart erhoben. Er ist der Auffassung, dass die Beklagte mit Bescheid vom 15.8.2011 dem Widerspruch in vollem Umfang abgeholfen hat.

Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 15.8.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.3.2012 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, Kosten für das Widerspruchsverfahren bezüglich des Bescheides vom 17.3.2011 in vollem Umfang zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie meint, dass bei unspezifischer Antragstellung im Widerspruchsverfahren aufgrund des Meistbegünstigungsgrundsatzes von einem Antrag auf Gewährung einer Rente auf Dauer auszugehen sei. Die Gewährung einer Zeitrente führe dann nur zu einem Teilerfolg des Widerspruchs. Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akte der Beklagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand der Klage ist die Kostengrundentscheidung im Bescheid vom 15.8.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.3.2012, soweit die Erstattung von Kosten des Widerspruchsverfahrens über die Hälfte der entstandenen Kosten hinaus abgelehnt worden ist. Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten in vollem Umfang. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 63 SGB X. § 63 SGB X lautet wie folgt: (1) Soweit der Widerspruch erfolgreich ist, hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Dies gilt auch, wenn der Widerspruch nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 unbeachtlich ist. Aufwendungen, die durch das Verschulden eines Erstattungsberechtigten entstanden sind, hat dieser selbst zu tragen; das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen. (2) Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. (3) Die Behörde, die die Kostenentscheidung getroffen hat, setzt auf Antrag den Betrag der zu erstattenden Aufwendungen fest; hat ein Ausschuss oder Beirat die Kostenentscheidung getroffen, obliegt die Kostenfestsetzung der Behörde, bei der der Ausschuss oder Beirat gebildet ist. Die Kostenentscheidung bestimmt auch, ob die Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten notwendig war.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht verpflichtet § 63 Abs. 1 SGB X die Behörde, zu einem ganz oder teilweise erfolgreichen Widerspruch eine Kostengrundentscheidung zu treffen. Dies hat die Beklagte getan. Anspruch auf Kostenerstattung besteht nur, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Der Anspruch ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der angefochtene Verwaltungsakt im vollen Umfange aufgehoben wird, sondern besteht auch dann, wenn der Widerspruch teilweise Erfolg hat. Ein teilweiser Erfolg des Widerspruchs führt hinsichtlich der Kostenerstattung zu einer Kostenquote. Hat der Betroffene den Widerspruch beschränkt, indem er den Verwaltungsakt nur hinsichtlich eines Teils der getroffenen Regelung angegriffen hat, so ist der Widerspruch in vollem Umfang erfolgreich, wenn dem begrenzten Begehren stattgegeben wird. Die Kostenquote richtet sich nach dem Verhältnis des erreichten Erfolgs in der Sache zum gesamten Verfahrensgegenstand. Entscheidend für den Umfang des Erfolgs ist deshalb der Verfahrensgegenstand. Dieser ergibt sich aus dem konkret gestellten Antrag des Widerspruchsführers im Widerspruchsverfahren zusammen mit dem zu Grunde liegenden Sachverhalt. Das Ziel des Widerspruchs ist also möglichst genau zu bezeichnen, es kann von der Behörde auch erfragt werden. Ein Widerspruch ohne einen bestimmten Antrag oder eine Bestimmung des Widerspruchsbegehrens greift den Verwaltungsakt vollumfänglich an und führt bei einem Teilerfolg nicht zur vollen Kostenerstattung (siehe dazu m.w.N. u.a. Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 63 SGB X, Rn 21). Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Kläger im Widerspruchsverfahren gegen den ablehnenden Rentenbescheid vom 17.3.2011 voll obsiegt. Dies gilt unabhängig davon, wie der Antrag im Widerspruch vom 22.8.2011 auszulegen ist. Legt man den Antrag unter Berücksichtigung der Widerspruchsbegründung schon als Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung explizit als befristete Rente aus, so hat der Kläger mit dem Abhilfebescheid vom 15.8.2011 vollumfänglich das bekommen, was er beantragt hat. Eine solche Auslegung wäre denkbar, da in der Widerspruchsbegründung ärztliche Atteste zitiert worden sind, die auf einen zunächst vorübergehenden Zustand abgestellt haben. Der Kläger hat aber nach Ansicht des Gerichts auch dann voll obsiegt, wenn der Antrag nicht so ausgelegt wird, sondern entsprechend dem tatsächlichen Wortlaut eine "Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften" begehrt worden ist. Denn auch dann hat er alles bekommen, was er beantragt hat. Mit Formblattantrag vom 7.9.2010 hat er eine "Rente wegen Erwerbsminderung" beantragt. Eine Wahlmöglichkeit bei Antragstellung zwischen Erwerbsminderungsrente auf Zeit oder auf Dauer (bis zum Erreichen der Regelaltersrente) sieht das Standardformular der Beklagten nicht vor. § 102 Abs. 2 SGB VI schreibt als Regelfall für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente eine Befristung vor. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich bei einer Rente auf Zeit im Vergleich zu einer Rente auf Dauer nicht um zwei eigenständige Ansprüche. Vielmehr ist die Befristung bzw. Nichtbefristung eine Rechtsfolge, die an besondere inhaltliche Voraussetzungen geknüpft ist. Folglich begehrt ein Versicherter mit Rentenantragstellung eine Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften. Wenn nun ein Widerspruchsführer bei einer ablehnenden Entscheidung, die keine Regelung zu einer Befristung der Rente trifft, sondern den Anspruch von vornherein ablehnt, wörtlich dasselbe begehrt, wie im ursprünglichen Rentenantrag, und dann das bekommt, was er schon im Verwaltungsverfahren hätte bekommen müssen, dann hat er alles bekommen, was er begehrt hat. Diese Auffassung steht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg bezüglich des Inhalts eines befristeten Rentenbewilligungsbescheides nicht entgegen (siehe m.w.N. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.7.2014, L 10 R 2929/13). Danach enthält der Bescheid über eine befristete Rentenbewilligung zwei Verfügungssätze: 1. wird die Rente für eine begrenzte Dauer bewilligt, 2. wird der weitergehende Anspruch auf die zeitlich nicht beschränkte Rentengewährung abgelehnt. Die zutreffende Trennung in zwei Verfügungssätze ist jedoch nur relevant, wenn eine Rente bewilligt wird. Bei einer vollständigen Ablehnung des Antrags existiert nur ein Verfügungssatz, nämlich die Ablehnung. Ein ablehnender Bescheid trifft bzgl. einer Befristung gar keine Regelung. Damit greift ein Widerspruchsführer die Ablehnung als solches an und obsiegt ganz, wenn ihm aufgrund seines Widerspruchs eine Rente bewilligt wird. Im Übrigen sind auch die Schreiben der Beklagten widersprüchlich. Denn sie hat die Abhilfe im Widerspruchsverfahren gegenüber dem Kläger als Anerkenntnis und nicht etwa als Teilanerkenntnis bezeichnet und bei ihm angefragt, ob er den Widerspruch damit für erledigt erklärt. Soweit die Beklagte zur Untermauerung ihrer Auffassung auf verschiedene entsprechende Beschlüsse des Sozialgerichts Stuttgart im Hinblick auf die Tragung von außergerichtlichen Kosten im Klageverfahren verweist, sind die dort zu Grunde gelegten Sachverhalte mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Bei den Kostenbeschlüssen im Klageverfahren gemäß § 193 SGG sind die Streitgegenstände und hier insbesondere die Anträge im Klageverfahren maßgeblich. Zwar hält es die hier zur Entscheidung berufene Kammer bei einem Klageantrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ohne Spezifizierung auf Zeit oder Dauerrente und tatsächlicher Gewährung einer solchen befristeten Rente im Klageverfahren (durch Urteil, Anerkenntnis oder Vergleich) auch in diesen Fällen im Regelfall für angemessen, dass die Beklagte volle Kosten zu tragen hat, soweit nicht in anderen Teilen des Streitgegenstands (z.B. Beginn der Rente oder nur teilweise Erwerbsminderungsrente statt voller Erwerbsminderungsrente) nur teilweises Obsiegen vorliegt. Dies kann jedoch letztlich dahinstehen. Denn das Widerspruchsverfahren ist kein Klageverfahren, sondern ein besonderes Verwaltungsverfahren. Die beiden Sachverhalte sind nicht vergleichbar. Anders als im Klageverfahren gilt etwa im Widerspruchsverfahren nicht der Grundsatz, dass nicht mehr gewährt werden kann, als beantragt ist. Die Beklagte gewährt nämlich zurecht in gängiger Praxis auch dann eine Rente auf Dauer, wenn ein Widerspruchsführer im Widerspruch nur eine Rente auf Zeit beantragt. Das hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung am 9.10.2014 zu Protokoll erklärt. Dieses Vorgehen ist zudem zwingend, da das Widerspruchsverfahren eben gerade ein besonderes Verwaltungsverfahren ist. Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren und damit auch im Widerspruchsverfahren den Anspruch eines Versicherten vollumfänglich zu prüfen und muss alles gewähren, was ihm zusteht (so auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 85 SGG Rn 4a). Die Auffassung der Beklagten, dass bei einem Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung im Widerspruchsverfahren und einer anschließenden Rentenbewilligung auf Zeit nur die Hälfte der Kosten zu erstatten sind, ist aus diesem Grund auch nicht praxistauglich. Denn würde das zutreffen, würde ein Widerspruchsführer immer nur Rente auf Zeit beantragen. Ein Kostenrisiko des Versicherten für den Fall der Rentenbewilligung besteht dann nicht mehr. Kommt die Abhilfeprüfung oder der Widerspruchsausschuss zu dem Ergebnis, dass eine Zeitrente zu gewähren ist, hätte der Widerspruchsführer auch nach seinem expliziten Antrag vollumfänglich obsiegt. Ergibt sich im Widerspruchsverfahren trotz des beschränkten Antrags aus medizinischen Gründen eine Dauerrente, gewährt die Beklagte über den Antrag hinaus Dauerrente. Auch in diesem Fall hat der Widerspruchsführer vollumfänglich obsiegt, denn er hat sogar mehr bekommen, als er beantragt hat. Und selbst wenn die Beklagte in einem solchen Fall im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nur eine befristete Rente gewähren würde (mit vollem Kostenersatz), könnte der Widerspruchsführer in einem anschließenden Verfahren gemäß § 44 SGB X die Dauerrente durchsetzen. Das Gericht weist abschließend außerhalb der tragenden Gründe darauf hin, dass die vorliegende Klage und eventuell weitere solcher Verfahren aus wirtschaftlicher Sicht insbesondere für die Beklagte wenig sinnvoll erscheinen. Denn die von der Beklagten unabhängig vom Erfolg der Klage zu tragenden Gerichtskosten sind höher als der Gegenstandswert (hier: 115 EUR).
Rechtskraft
Aus
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