S 2 SO 102/15 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 102/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab dem 29.01.2015 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Gründe:

I. Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.

Der am 00.00.1943 geborene Antragsteller und die am 00.00.1943 geborene Antragstellerin sind miteinander verheiratet. Sie sind syrische Flüchtlinge und sind im Rahmen des Aufnahmeverfahrens des Landes NRW am 08.08.2014 in die BRD eingereist. Vor der Einreise der Antragsteller in das Bundesgebiet wurde durch die Evangelische Kirchengemeinde H am 07.04.2014 gegenüber der Ausländerbehörde eine Verpflichtungserklärung abgegeben, nach welcher sich die Kirchengemeinde verpflichtete, die Kosten für den Lebensunterhalt und Wohnraum der Antragsteller zu übernehmen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.01.2015 wurden die Antragsteller als Asylberechtigte anerkannt.

Nach ihrer Anerkennung als Asylberechtigte beantragten die Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 05.03.2015 lehnte die Antragsgegnerin die Leistungen mit dem Hinweis auf die bestehende Verpflichtungserklärung der Evangelischen Kirchengemeinde ab. Dagegen erhoben die Antragsteller Widerspruch.

Die Antragsteller begehren nun einstweiligen Rechtsschutz.

Sie beantragen,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII ab Antragstellung vom 29.01.2015 vorläufig zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie darauf, die Antragsteller seien nicht bedürftig, da die Evangelische Kirchengemeinde die Verpflichtung übernommen habe, für ihren Unterhalt zu sorgen. Für die Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 31.03.2015 Bezug genommen.

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Akte des Verwaltungsverfahrens, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 bestreiten können, ist gemäß § 41 Abs.1 SGB XII auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten. § 91 ist anzuwenden. Leistungsberechtigt wegen Alters nach Absatz 1 ist gemäß § 41 Abs.2 SGB XII, wer die Altersgrenze erreicht hat. Personen, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Die Vorschriften des Vierten Kapitels bleiben gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII für Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, unberührt.

Die Voraussetzungen der Grundsicherung liegen vor. Insbesondere sind die Antragsteller bedürftig. Dem steht nicht die Verpflichtungserklärung der Evangelischen Kirchengemeinde entgegen.

Wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, hat gemäß § 68 AufenthG sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Aufwendungen, die auf einer Beitragsleistung beruhen, sind nicht zu erstatten. Die Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 bedarf gemäß § 68 Abs. 2 SGB XII der Schriftform. Sie ist nach Maßgabe des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes vollstreckbar. Der Erstattungsanspruch steht der öffentlichen Stelle zu, die die öffentlichen Mittel aufgewendet hat.

Zunächst resultiert aus der Verpflichtungserklärung gemäß § 68 AufenthG ohnehin "nur" eine Regresspflicht. Das spricht dafür, dass die Leistungen gegenüber dem Bedürftigen schon nicht per se ausgeschlossen werden dürfen, sondern der Sozialhilfeträger sich die gewährten Leistungen allenfalls von dem, der die Verpflichtungserklärung abgegeben hat, erstatten lassen kann.

Im Bereich der anerkannten Asylberechtigten kann § 68 AufenthG jedoch aus systematischen Erwägungen für die Zeit des berechtigten Asyls gar nicht zur Anwendung kommen. Das Asylrecht ist nicht von einer Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abhängig. Das würde schon dem Wesen des Asylrechts widersprechen.

Einem Ausländer ist gemäß § 25 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn er als Asylberechtigter anerkannt ist. Dies gilt (nur dann) nicht, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen worden ist. Bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gilt der Aufenthalt als erlaubt. Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

Einzige Voraussetzung der Aufenthaltserlaubnis aus § 25 Abs. 1 S. 1 AufenthG ist die Anerkennung als Asylberechtigter.

Ein Ausländer ist gemäß § 3 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er 1. ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, 2. vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder 3. den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat. Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben. Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 3 AsylVfG auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar. Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten gemäß § 3a AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylVfG unter anderem die folgenden Hand-lungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder dis-kriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylVfG eine Verknüpfung bestehen.

Wie schon die einfachgesetzlichen Normen des Asylrechts zeigen, ist die Ausübung dieses Menschenrechts aus Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz, wonach politisch Verfolgte Asyl ge-nießen, geradezu selbstredend natürlich nicht von der Übernahme einer Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abhängig.

Deshalb findet sich selbstverständlich in den einfach gesetzlichen Bestimmungen der §§ 3 ff. AsylVfG an keiner Stelle eine Anknüpfung an eine Verpflichtungserklärung.

Da die Antragsteller hier als Asylberechtigte anerkannt worden sind, dürfen ihnen nun keine staatlichen Leistungen während ihres rechtmäßigen Aufenthalts aufgrund des Asylrechts unter Verweis auf die abgegebene Verpflichtungserklärung der evangelischen Kirchengemeinde verwehrt werden. Denn die Verpflichtungserklärung der evangelischen Kirchengemeinde ist hier rechtlich nicht kausal für den rechtmäßigen Aufenthalt.

Die Aufenthaltserlaubnis eines anerkannten Asylberechtigten aus § 25 AufenthG darf gerade nicht von irgendwelchen Verpflichtungserklärungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation abhängig gemacht werden. Die Antragsteller haben ein Aufenthaltsrecht, weil sie verfolgt werden und asylberechtigt sind. Es geht beispielsweise nicht um einen Fall des Nachzugs eines nicht verfolgten, erwachsenen Ausländers in die BRD, dessen Legitimation dann von einer Verpflichtungserklärung der hiesigen Familienangehörigen nach § 68 AufenthG abhängig gemacht werden kann.

Die Verpflichtungserklärung der evangelischen Kirchengemeinde hatte daher nur für den Fall, dass die Asylanträge gescheitert wären, Bedeutung. Die Kirchengemeinde hat also das wirtschaftliche Risiko des Scheiterns der Asylanträge übernommen. Darüber hinaus könnte die Erklärung Bedeutung erlangen, wenn das Bleiberecht aus dem Asylrecht eines Tages beendet werden sollte, aber keine Ausreise erfolgt. Über letztere Konstellation ist hier jedoch an dieser Stelle nicht zu entscheiden, so dass diese Frage hier klarstellend ausdrücklich offen gelassen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved