L 8 SO 855/15 B ER

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 1 SO 830/15 ER
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 855/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ist in entsprechender Anwendung des § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG festzustellen, wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung nicht beachtet.

2. Allerdings muss ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen, welches schon dann vorliegt, wenn die Behörde durch ihr Verhalten zu erkennen gibt, dass sie die aufschiebende Wirkung missachtet.

3. Im Bereich des SGB XII gibt es keine Rechtsgrundlage für eine Einstellung der Leistung, die dem § 331 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) vergleichbar ist. Insbesondere ist eine unzulässige Einstellungsverfügung auch nicht als Anordnung der sofortigen Vollziehung umzudeuten, weil eine insoweit rechtswidrige Verwaltungspraxis nicht im Nachhinein "geheilt" werden darf.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 2. Juni 2015 abgeändert und festgestellt, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 4. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2015 in Bezug auf den Monat Februar 2015 aufschiebende Wirkung haben. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast) begehrt die Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Rechts-behelfs bzw. -mittels.

Der 1943 geborene Ast steht zumindest seit 2008 im Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel SGB XII. Nachdem dem Antragsgegner (Agg) bekannt geworden war, dass der Ast seit Mai 2008 vom Ministerium für Veteranenangelegenheiten der USA im Zusammenhang mit seinem amerikanischen Wehr-dienst eine "compensation" nach einer 70 %igen Behinderung (bipolare Störung) in monatlicher Höhe von 1.161 $ erhält, hörte er zunächst zu einer beabsichtigten Ablehnung der Leistung ab Februar 2015 an. Mit Bescheid vom 4. März 2015 verfügte er sodann: "1. Für den Monat Februar 2015 wird die Höhe der Leistungen der Grundsicherung im Alter auf 84,95 Euro festgesetzt; 2. Für die Berechnung und Auszahlung der Grundsicherungsleistungen für die weiteren Monate wird der jeweilige Kontoauszug benötigt, aus dem die Gutschrift der Entschädigungszahlungen des "Departement of Veterans Affairs" als Eurowert ersichtlich ist. " Der bewilligte Betrag errechne sich nach Anrechnung der "Rente/Entschädigungszahlung der vereinigten Staaten. Von der Entschädigung für den Monat Januar 2015 blieben nach Abzug einer BVG-Rente nach einer MdE von 70 in Höhe von 450 Euro 710,31 Euro als anzurechnendes Einkommen.

Die Zahlung für den Monat Februar 2015 erfolgte erst am 10. März 2015 und zwar in Höhe von 84,95 Euro. Für die Folgemonate ab März erfolgte - soweit ersichtlich - bislang keinerlei Zahlung.

Der gegen den Bescheid vom 4. März 2015 gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Wider-spruchsbescheid vom 23. April 2015.

Am 4. Mai 2015 hat der Ast Klage zum Sozialgericht Meiningen (SG) erhoben (S 1 SO 831/15).

Am folgenden Tag hat er zudem die Feststellung der aufschiebenden Wirkung (aW) des Wi-derspruchs und der Klage gegen den Bescheid vom 4. März 2015 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides beantragt. Der Bescheid vom 1. September 2014 sei ein Dauerverwal-tungsakt. Seine Aufhebung richte sich nach den §§ 45, 48 SGB X. Die aW des dagegen ge-richteten Widerspruchs und der Klage entfalle nicht; eine dem § 39 SGB II vergleichbare Vorschrift kenne das SGB XII nicht.

Mit Beschluss vom 2. Juni 2015 hat das SG den Antrag abgelehnt. Zwar sei der Bewilli-gungsbescheid vom 1. September 2014 ein Dauerverwaltungsakt. Aber es sei nur eine Aufhe-bung für den Monat Februar 2015 verfügt worden. Die Leistungen für diesen Monat seien im Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheides längst ausgezahlt worden, weshalb die Fest-stellung der aW ins Leere ginge, denn der Ast wolle die Auszahlung der zukünftigen Leistungen in der im September 2014 berechneten Höhe. Der Anspruch auf Auszahlung der Leistungen ab März 2015 aus dem nicht zurückgenommenen Bescheid vom 1. September 2014 sei mit einer allgemeinen Leistungsklage durchzusetzen, so dass für das Eilverfahren allein der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht komme. Der für eine solche Anordnung neben dem Anordnungsanspruch erforderliche Anordnungsgrund sei vorliegend allerdings nicht erkennbar, denn der Ast könne seinen anzuerkennenden Bedarf durch seine monatliche Versorgungsleistung in Höhe von ca. 1.100 Euro decken.

Ein Empfangsbekenntnis des Bevollmächtigten des Ast zum Erhalt des mit Begleitschreiben vom 3. Juni 2015 versandten Beschlusses findet sich in den Akten nicht und liegt - wie die telefonische Rückfrage ergeben hat - beim SG auch nicht vor. Der Beklagte hat sich zum Erhalt am 5. Juni 2015 bekannt.

Eingehend am 6. Juli 2015 hat der Ast Beschwerde eingelegt. Die Zahlung für Februar 2015 sei erst im März erfolgt und dies nur in Höhe der 84, 95 Euro. Mit Schreiben vom 29. Juli 2015 beschränkt er sein Begehren auf den Monat Februar 2015 und beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 2. Juni 2015 aufzuheben und festzustellen, dass der Widerspruch vom 7. April 2015 und die Klage vom 4. Mai 2015 in Bezug auf den Monat Februar 2015 aufschiebende Wirkung haben.

Der Agg beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.

Die Verwaltungsakten des Agg und die Gerichtsakten aus dem Eilverfahren haben dem Gericht bei seiner Entscheidung vorgelegen.

II.

Die (verbliebene) Beschwerde ist zulässig, insbesondere auch statthaft und fristgerecht.

Die Beschwerde ist mit ihrem Eingang beim SG am 6. Juli 2015 nach § 173 SGG fristgerecht eingelegt worden. Zwar läßt sich ermangelst eines aktenkundigen Empfangsbekenntnisses nicht genau sagen, wann der Beschluss dem Bevollmächtigten des Ast zugegangen ist. Da der Beschluss dem Agg aber am 5. Juni 2015 zugegangen ist, ist nicht davon auszugehen, dass er dem Bevollmächtigten des Ast vorher zugegangen ist. Ausgehend vom Zugang am 5. Juni 2015 endete die Monatsfrist am 6. Juli 2015, da der 5. Juli 2015 ein Sonntag war. Der Eingang der Beschwerdeschrift beim SG am 6. Juli 2015 war damit rechtzeitig. Jeder spätere Zugang wahrte die Beschwerdefrist erst recht.

Die Beschwerde ist auch nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG statthaft. Nach dieser Vorschrift ist die Beschwerde ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Dies ist nach § 144 SGG dann der Fall, wenn keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen von mehr als einem Jahr begehrt werden und der Beschwerdegegenstand 750 Euro nicht übersteigt. Maßgeblich sind dafür die Verhältnisse im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung; spätere Änderungen des Gegenstandes der Beschwerde machen diese nicht unzulässig. Hier war nicht nur der Monat Februar 2015 streitgegenständlich; dann wäre die Beschwerde unstatthaft, weil für Februar 2015 nur 696,46 Euro im Streit stehen. Tatsächlich überstieg der ursprüngliche Beschwerdegegenstand die Wertgrenze von 750 Euro, da die Beschwerde bei ihrer Einlegung uneingeschränkt auf Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses gerichtet war. Mit dem Antrag auf (uneingeschränkte) Aufhebung des Beschlusses des SG verfolgt der Ast (zunächst) sein Auszahlungsbegehren über den Monat Februar 2015 hinaus jedenfalls auch für die Monate März bis August 2015 fort, denn das SG hat auch über dieses Begehren entschieden. Zutreffend hat es das erstinstanzliche Begehren des Ast vor dem Hintergrund des Meistbegünstigungsgrundsatzes dahin ausgelegt, dass er auch einen Anspruch auf Auszahlung der Leistungen ab März 2015 aus dem nicht zurückgenommenen Bescheid vom 1. September 2014 verfolgt; denn erst durch die zutreffende Auslegung des SG konnte geklärt werden, dass der Bescheid vom 4. März 2015 nur die Bewilligung für den Monat Februar 2015 abgeändert hat. In der Konsequenz dieser Auslegung der Entscheidung des Agg hat das SG sodann angenommen, dass das auf die Zeit ab März 2015 bezogene weitere Auszahlungsbegehren in der Hauptsache richtigerweise mit einer allgemeinen Leistungsklage durchzusetzen sei, so dass für das vorliegende Eilverfahren allein der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht komme. Diese Auslegung des Antragsbegehrens zugrunde legend vermochte es sodann allerdings den für eine solche Anordnung neben dem Anordnungsanspruch erforderlichen Anordnungsgrund nicht zu erkennen. Eine andere Auslegung des Beschwerdebegehrens folgt auch nicht aus der Begründung der Beschwerdeschrift vom 6. Juli 2015. Zwar räumt der Ast hier ein, dass die Auffassung des SG zutreffe, der Agg habe die Leistungen nur für Februar 2015, nicht aber für die Folgemonate neu festgestellt. Einschränkende Ausführungen im Hinblick auf die Entscheidung des SG über den Erlass einer einstweiligen Anordnung finden sich allerdings auch hier nicht. Somit beläuft sich der erstinstanzliche Streitgegenstand und damit das ursprüngliche Beschwerdebegehren auf 6 x 781,41 Euro für März bis August 2015 und 696,46 Euro für Februar 2015.

Gegenstand der Beschwerde ist nach deren Beschränkung mit Schreiben vom 29. Juli 2015 allein noch die Feststellung der aufschiebenden Wirkung für den Monat Februar 2015, nicht darüber hinaus, insbesondere auch keine einstweilige Anordnung im Hinblick auf die im Wege der allgemeinen Leistungsklage in der Hauptsache zu verfolgende Fortzahlung der Grund-sicherungsleistungen ab März 2015.

Die Beschwerde ist im verbliebenen Umfang auch begründet.

Die aufschiebende Wirkung der Klage und des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 4. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2015 in Bezug auf die gekürzte Auszahlung der mit Bescheid vom 1. September 2014 bewilligten Leistungen für den Monat Februar 2015 ist festzustellen. Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Bestimmung ist entsprechend anzuwenden, wenn die Verwaltung - wie hier - die auf-schiebende Wirkung nicht beachtet (BSG vom 11. Mai 1993 - 12 RK 82/92; Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Thüringer LSG, SGb 2002, 449; Fichte/Breitkreuz, SGG, 2009, § 86b Rn. 35), denn für diese Fälle besteht eine Regelungslücke bei der Normierung des vorläufigen Rechtsschutzes. Nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) muss jedoch stets ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet sein. Ein Antrag auf einstweilige Anordnung kommt demgegenüber nicht in Betracht, denn richtet sich das Begehren - wie hier - auf die Beseitigung eines Verwaltungsaktes, ist ein Antrag auf einstweilige Anordnung nicht statthaft. Die Formulierung in § 86 b Abs. 2 Satz 1 "Soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt" enthält keinen allgemeinen Auffangtatbestand für alle Konstellationen, die nicht unter Absatz 1 subsumiert werden können; sie ist vielmehr gleichbedeutend mit "soweit keine Anfechtungssache vorliegt" (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Thüringer LSG, SGb 2002, 449). Einem Antrag auf "Feststellung der aufschiebenden Wirkung" ist bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine aufschiebende Wirkung stets schon wegen des Fehlens der formellen Voraussetzungen der Vollziehung stattzugeben, ohne dass es der Prüfung materieller Anspruchsgrundlagen bedürfte (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Thüringer LSG, SGb 2002, 449). Hier handelt es sich in der Hauptsache (S 1 SO 831/15) allein um die Anfechtung der Aufhebungsentscheidung vom 4. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2015 betreffend dem Monat Februar 2015. Zum Charakter des Bescheides vom 1. September 2014 als Dauerverwaltungsakt und die somit erforderliche Aufhebung nach § 45 SGB X wird entsprechend § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen in dem erstinstanzlichen Beschluss Bezug genommen.

Allerdings muss ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen, welches schon dann vorliegt, wenn die Behörde durch ihr Verhalten zu erkennen gibt, dass sie die aufschiebende Wirkung missachtet (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Fichte/Breitkreuz, SGG, 2009, § 86b Rn. 35). Dies ist hier offensichtlich der Fall, denn der Beklagte hat - entgegen der Annahme des SG - die Leistung für Februar 2015 zunächst gar nicht und dann im März nur in verminderter Höhe von 84,95 Euro ausgezahlt.

Die Voraussetzungen für die Feststellung der aufschiebenden Wirkung liegen vor. Nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Etwas anderes gilt nur in den in Absatz 2 und 4 genannten Fällen, die hier jedoch nicht vorliegen, insbesondere hat die Beklagte keine sofortige Vollziehung angeordnet. Eine Regelung im Sinne von § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG existiert im Recht des SGB XII nicht, wie etwa der § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER). Hier hat die rechtshängige Anfechtungsklage somit aufschiebende Wirkung.

Darüber hinaus gibt es im Bereich des SGB XII auch keine Rechtsgrundlage für eine Einstellung der Leistung, wie sie hier vorgenommen worden ist und dem § 331 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) vergleichbar ist (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 1. September 2010 - L 8 SO 106/10 B ER, Rn. 17, juris). Insbesondere ist eine unzulässige Einstellungsverfügung auch nicht als Anordnung der sofortigen Vollziehung umzudeuten, weil eine insoweit rechtswidrige Verwaltungspraxis nicht im Nachhinein "geheilt" werden darf (Senatsbeschluss vom 21. März 2011 - L 8 SO 1301/10 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 1. September 2010 - L 8 SO 106/10 B ER, Rn. 18, juris). Hier würde es zudem bereits an den erforderlichen formellen Voraussetzungen für diese Anordnung ermangeln. Einen Grund, die fällige monatliche Grundsicherungsleistung nicht zu erbringen, gibt es somit vorliegend nicht. Der Agg hat die Leistungen für Februar 2015 in ungekürzter Höhe entsprechend dem Bewilligungsbescheid vom 1. September 2014 zu zahlen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG; zu beachten ist hier zwar, dass die Beschwerde mit Schreiben vom 29. Juli 2015 teilweise zu-rückgenommen worden ist. Allerdings hat der Agg den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz durch sein Fehlverhalten (siehe oben) wesentlich veranlasst (zur Berücksichtigung des Veran-lassungsprinzips bei falscher Sachbehandlung: Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 193 Rn. 12b). Daher erscheint hier eine Kostenquotelung abweichend vom Anteil des Obsiegens auf die Hälfte angemessen.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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