S 205 AS 1365/16 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
205
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 205 AS 1365/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ist auf Unionsbürger ohne materielles Freizügigkeitsrecht analog anwendbar (Anschluss an BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).
2. Erwerbsfähige Unionsbürger mit einem Freizügigkeitsrecht zur Arbeitsuche oder ohne materielles Freizügigkeitsrecht sind nach § 21 S 1 SGB XII von Leistungen der Sozialhilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen (entgegen BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).
3. § 23 Abs 3 S 1 SGB XII schließt auch Ansprüche der Sozialhilfe auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens aus (entgegen BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).
4. Hilfe zum Lebensunterhalt darf der Sozialhilfeträger nicht als Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII erbringen (entgegen BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Der am 29. Januar 2016 beim angerufenen Gericht eingegangene Antrag des Antragstellers vom gleichen Tage,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller "gesetzliche Leistungen nach dem SGB II" zu gewähren,

hat keinen Erfolg.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Das ist dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere oder unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 ff.). Eine solche Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller einen Anordnungsgrund, das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit, und einen Anordnungsanspruch, das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den sich sein Begehren stützt, glaubhaft gemacht hat (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Bei der erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist im Bereich der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die Erfolgsaussicht der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG 12.05.2005 – 1 BvR 569/05NVwZ 2005, 927ff).

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels des SGB II (§ 19ff SGB II). Der Antragsteller ist als Ausländer, dessen Aufenthaltsrecht sich allenfalls aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (1.) Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gegen den beigeladenen Träger der Sozialhilfe (2.) Ein anderes Ergebnis kann der Antragsteller auch nicht aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) herleiten (3.) Der vollständige Leistungsausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ist sowohl mit Verfassungsrecht (4.) als auch mit Unionsrecht (5.) vereinbar.

1.) Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Leistungen nach dem SGB II erhalten nur erwerbsfähige Leistungsberechtigte (§ 7 Abs 1 S 1 SGB II). Dies sind nach der Legaldefinition des § 7 Abs 1 S 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (1.), erwerbsfähig sind (2.), hilfebedürftig sind (3.) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (4.).

Es kann insoweit dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller erwerbsfähiger Leistungsberechtigter ist, denn er ist nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind hiernach Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Der Antragsteller hat allenfalls ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche oder kein materielles Aufenthaltsrecht (a). Er ist deswegen nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II (analog) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen (b).

a) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist regelmäßig eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw der Gründe der Aufenthaltsberechtigung erforderlich (BSG 30.1.2013 – B 4 AS 54/12 R – SozR 4-4200 § 7 Nr 34, Rn. 23). Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (BSG aaO Rn. 23).

Die Voraussetzungen für andere Aufenthaltsberechtigungen sind hier nicht gegeben.

Entgegen seiner Ansicht verfügt der Antragsteller nicht über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU).

Nach dieser Vorschrift haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht) (§ 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU).

Erforderlich ist ein "rechtmäßiger" Aufenthalt, mithin ununterbrochener rechtmäßiger Aufenthalt und einer Freizügigkeitsberechtigung für diesen Zeitraum (BVerwG 31.5.2012 – 10 C 8.12 – Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr 3). Es handelt sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist und daher nur so verstanden werden kann, dass ihn nur ein Aufenthalt erfüllt, der in Einklang mit den in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen, insbesondere mit den im dortigen Artikel 7 aufgeführten Voraussetzungen steht (Dienelt, in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 4a FreizigG/EU Rn 8). Mithin müssen während der Aufenthaltszeit von 5 Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 RL 2004/38/EG erfüllt worden sein (vgl EuGH, 21.12.2011 – Rs C-424, 425/10 – "Ziolkowski ua" – NVwZ-RR 2012, 121).

Einen fünf Jahre andauernden rechtmäßigen Aufenthalt hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er über ausreichende Existenzmittel und ausreichenden Krankenversicherungsschutz in der Zeit seines behaupteten tatsächlichen Aufenthalts seit August 2009 verfügte (§ 2 Abs 2 Nr 5 FreizügG/EU iVm § 4 FreizügG/EU; Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG). Im Gegenteil, die Bestätigung der Suppenküche F. vom 20. August 2015 belegt, dass der Antragsteller seit August 2009 auf Hilfeleistungen wie Suppenküche, Kleiderkammer und Hygienestation angewiesen war.

Andere Aufenthaltsrechte nach § 2 Abs 2 FreizügG/EU bzw Art 7 RL 2004/38/EG hat der Antragsteller ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Sofern die Auskunft des Antragsgegner zutreffend sein sollte, dass der Antragsteller vom 29. August 2014 bis 20. Juli 2015 Arbeitnehmer gewesen ist, endete ein etwaiges Aufenthaltsrechts aus der Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft am 20. Januar 2016 (vgl § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU, Art 7 Abs 3 lit c RL 2004/38/EG).

b) § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ist analog auf Ausländer anzuwenden, die über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen.

Eine Analogie steht nicht entgegen, dass es sich bei § 7 Abs 1 S 2 SGB II um eine Ausnahmevorschrift handelt. Ausnahmevorschriften sind analogiefähig. Gesetzliche Ausnahmebestimmungen sind der Analogie nicht verschlossen (BSG, 24.10.1984 – 6 RKa 36/83SozR 1500 § 149 Nr 7 – juris Rn 6; instruktiv Würdinger, JuS 2008, 949ff). Eine analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte ist geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen (BSG, aaO). Dieses Gebot beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (BSG, aaO). Da die Qualität einer Vorschrift als Ausnahmeregel aber nicht ausschließt, dass gleiche, nicht geregelte Sachverhalte existieren, kann die analoge Anwendung von Ausnahmebestimmungen nicht unzulässig sein; bei der Ausnahmevorschrift besteht daher kein Analogieverbot (BSG, aaO).

Es liegt eine planwidrige Regelungslücke vor (so nun auch BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 19ff). Der Gesetzgeber hat bei Statuierung des Leistungsausschlusses maßgeblich auf Aufenthaltsrechte nach § 2 FreizügG/EU abgestellt (BT-Drs. 16/688, S. 13). Nicht ausgeschlossen sollen "EU-Bürger" sein, "bei denen ein anderer Grund nach § 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU greift" (BT-Drs. 16/688, S. 13). Ausgenommen vom Leistungsausschluss sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers Arbeitnehmer und Selbständige sowie Personen, die aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, sein (BT-Drs 16/5065 S 234). Die übrigen Unionsbürger, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, sollten vom Leistungsausschluss erfasst werden (BT-Drs 16/5065 S 234). Der Gesetzgeber hatte also erkennbar die Vorstellung, dass Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht nach § 2 FreizügG/EU, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, vom Leistungsausschluss erfasst sind (LSG Rheinland-Pfalz, 5.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER). Der Gesetzgeber ist nicht auf die Idee verfallen, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende könnten an Ausländer, die sich nicht einmal zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, zu gewähren sein (LSG Berlin-Brandenburg, 15.09.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER; vgl Husmann, jurisPR-SozR 11/2014 Anm. 4). Es bestand für den Gesetzgeber kein Anlass, für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht einen ausdrücklichen Leistungsausschluss zu formulieren (Bayerisches LSG, 14.04.2015 – L 7 AS 225/15 B ER – juris Rn. 40). Nicht zuletzt das Bundessozialgericht ging zunächst davon aus, dass Ausländer ohne Aufenthaltsrecht keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland im Sinne von § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB II haben (BSG, 16.5.2007 – B B 11b AS 37/06 RSozR 4-4200 § 12 Nr 4, Rn. 22) und damit per se von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, sodass der Gesetzgeber auch keinerlei Anlass hatte, dies nachträglich klarzustellen.

Eine vergleichbare Sachlage mit der gesetzlich geregelten Fallgestaltung liegt bei Unionsbürgern ohne materielles Aufenthaltsrecht vor. Höherrangiges Recht, mithin Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG, mithin die Vorschrift, die der Gesetzgeber durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gerade umsetzen wollte (vgl BT-Drs 16/688 S 13), differenziert gerade zwischen Arbeitnehmer und Selbständigen sowie ihren Familienangehörigen einerseits und "anderen Personen" und Arbeitsuchenden andererseits. Es ist daher sachlich gerechtfertigt, Arbeitsuchende und Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht gleich zu behandeln (vgl BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 24; Thie/Schoch, in: LPK-SGB II, 4. Aufl., § 7 Rn. 13; vgl auch LSG Berlin-Brandenburg, 15.9.2015 – L 34 AS 1868/15 B ER).

2.) Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt gegen den Beigeladenen.

Entgegen der Ansicht des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R) besteht für erwerbsfähige Ausländer, die nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII. Dieser Personenkreis ist bereits nach § 21 S 1 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen (a). Jedenfalls ergibt sich ein Leistungsausschluss aus der mit § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II gleichlautenden Ausschlussnorm des § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII (b). Schließlich ist Hilfe zum Lebensunterhalt keine Ermessensleistung, die ihrer Art nach gemäß § 23 Abs 1 S 3 SGB XII gewährt werden könnte (c).

a) Erwerbsfähige Unionsbürger mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche oder ohne materielles Aufenthaltsrecht sind nach § 21 S 1 SGB XII von Leistungen der Sozialhilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen.

Hiernach erhalten Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII (§ 21 Satz 1 SGB XII).

Maßgeblich ist nach Wortlaut ("als Erwerbsfähige") (vgl LSG Berlin-Brandenburg, 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER – juris Rn 43; LSG Berlin-Brandenburg, 22.1.2016 – L 29 AS 20/16 B ER; SG Dortmund, 11.2.2016 – S 35 AS 5396/15 ER; SG Halle (Saale), 22.1.2016 – S 5 AS 4299/15 ER) und Systematik, wonach die Abgrenzung zwischen SGB II und SGB XII durch die Erwerbsfähigkeit erfolgt (vgl Grube in ders/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl., § 21 Rn. 8), allein die Erwerbsfähigkeit.

Bereits der Wortlaut ist insoweit eindeutig. Voraussetzung für den Leistungsausschluss ist nicht allein die Leistungsberechtigung "dem Grunde nach", sondern auch die Leistungsberechtigung "als Erwerbsfähige".

Diesen Befund bestätigt die historische Auslegung eindrucksvoll. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist "der in der Norm zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers", so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in dem sie steht (BVerfG, NVwZ 2012, 504, 505; BVerfG NJW 2012, 376, 377; vgl Würdinger, JuS 2016, 1, 4). Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus (BVerfG NJW 2011, 842, 845):

"Art. 20 II GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinne einer strikten Trennung der Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist schließt es doch aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen. Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt.

Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Der Aufgabe und Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung” sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen."

Nach der Gesetzesbegründung zu § 21 Satz 1 SGB XII knüpft die Vorschrift "an die Eigenschaft als Erwerbsfähige oder deren im Zweiten Buch näher bezeichneten Angehörigen" an (BT-Drs. 15/1514, S 57). Dementsprechend sind Unionsbürger dem Grunde "als Erwerbsfähige" nach dem SGB II leistungsberechtigt, wenn sie insbesondere ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben und hilfebedürftig sowie medizinisch erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs 1 SGB II sind. Rechtlich erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs 2 SGB II sind Unionsbürger ohnehin (vgl nur Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl, § 8 Rn 62-64).

Soweit dem entgegen gehalten wird, die Gesetzesbegründung, wonach es auf die Eigenschaft als Erwerbsfähige ankomme, habe im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden (so SG Berlin 4.1.2016 – S 128 AS 25271/15 ER), überzeugt dies nicht, da der Wortlaut des Gesetzes eindeutig auf die Eigenschaft der Erwerbsfähigkeit abstellt ("als Erwerbsfähige").

Etwaige Zweifel an dieser Auslegung anhand des Wortlauts der Norm und anhand der Gesetzesbegründung zu § 21 S 1 SGB XII räumt die Gesetzesgebegründung zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II aus, in der der Wille des Gesetzgebers klar zum Ausdruck gebracht wird (vgl SG Berlin, 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13; SG Berlin, 23.2.2016 – S 95 SO 146/16 ER; SG Berlin, 14.1.2016 – S 26 AS 12515/13). Danach kommen bei erwerbsfähigen Ausländern, die nach Satz 2 des § 7 Abs. 1 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sind, "Leistungen des SGB XII wegen § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Betracht, da sie dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind" (BT-Drs. 16/688, S 13).

Die gegenläufige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ignoriert in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise (vgl SG Berlin, 11.12.2015 – S 149 AS 7191/13 – juris Rn 33, NZS 2016, 117) den Wortlaut des Gesetzes und den Willen des Gesetzgebers ohne jedwede Auseinandersetzung mit selbigen (BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 40-43). Eine eindeutige gesetzgeberische Entscheidung darf der Richter nicht nach eigenen rechtspolitischen Vorstellungen durch eine abweichende judikative Lösung ersetzen (BGH, NJW 2014, 2579, 2582, Rn 24). Eine verfassungskonforme Auslegung des § 21 S 1 SGB XII (vgl hierzu Kötter, info also 2016, 3, 7) ist gegen den Wortlaut und den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht möglich, da dies einen Verstoß gegen Art. 101 Abs 1 S 2 Grundgesetz (GG) bedingen würde (vgl BVerfG, NVwZ 2015, 511, 515). Es handelt sich bei der vom 4. Senat des Bundessozialgerichts vorgenommenen "Auslegung" des § 21 S 1 SGB XII um eine unzulässige Rechtsfortbildung (Lenze, NJW 2016, 557) gegen den klar artikulierten Willen des Gesetzgebers.

Soweit der 4. Senat des Bundessozialgerichts darauf verweist, dass bei einem Leistungsausschluss wegen des Bezuges einer ausländischen Rente oder der Unterbringung in einer stationären Einrichtung ein Anspruch nach dem SGB II dem Grunde nach nicht gegeben sei (BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 42), übersieht er, dass in diesen Fällen die Nichterwerbsfähigkeit vermutet bzw fingiert wird, weil diese Personengruppen typischerweise nicht (mehr) ins Erwerbsleben eingegliedert werden (zum Ausschluss stationär untergebrachter Personen vgl BSG 6.9.2007 – B 14/7b AS 16/07 R – SozR 4-4200 § 7 Nr 7, Rn 13; Spellbrink/G. Becker, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn 119; Peters, in Estelmann, SGB II, § 7 Rn 63, Stand Oktober 2013; Hänlein, in Gagel, SGB II/III, § 7 Rn 75, Stand September 2015; Thie in LPK-SGB II, 5. Aufl, § 7 Rn 86; Brandmayer in BeckOK-SozR, § 7 SGB II Rn 26, Stand September 2015; vgl zum Bezug einer ausländischen Rente Hänlein, in Gagel, SGB II/III, § 7 Rn 80, Stand: September 2015; Peters, in Estelmann, SGB II, § 7 Rn 82, Stand Oktober 2013). Die Annahme, dass Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche oder ohne materielles Freizügigkeitsrecht in Deutschland aufhalten, typischerweise nicht erwerbsfähig sind, erscheint der erkennenden Kammer fernliegend.

Dass die hier vertretene Rechtsansicht zutreffend ist, folgt auch aus einer Kontrollüberlegung zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4a SGB II bei unerlaubter Ortsabwesenheit. Wäre die Rechtsauffassung des 4. Senat des Bundessozialgerichts zutreffend, wären erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die unerlaubt ortsabwesend sind, nicht dem Grunde nach dem SGB II leistungsberechtigt, wären somit nicht von der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen. Damit würden unerlaubt ortsabwesende erwerbsfähige Leistungsberechtigte trotz unerlaubter Ortsabwesenheit Leistungen in gleicher Höhe erhalten, nur durch einen anderen Träger und nach einem anderen Gesetz. Damit wäre der Leistungsausschluss bei unerlaubter Ortsabwesenheit de facto obsolet, obschon der Gesetzgeber damit die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen bei einem nicht genehmigten vorübergehenden auswärtigen Aufenthalt vermeiden wollte (BT-Drs 16/1696, S 26). § 7 Abs 4a SGB II würde damit seiner Wirksamkeit beraubt. Recht ist jedoch auf seine Wirksamkeit angelegt (Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., § 2 Rn. 14). Der Grundsatz des Postulats der Nichtredundanz (vgl. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 71 f.) würde verletzt, wenn § 7 Abs 4a SGB II infolge der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt überflüssig würde. Eine derartig unsystematische Auslegung vermag nicht zu überzeugen.

b) Einem Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt steht zudem die Ausschlussnorm des § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII entgegen.

Hiernach haben Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Hierunter fallen Ausländer, die Unionsbürger sind, sofern sie lediglich über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU zur Arbeitsuche oder überhaupt kein materielles Aufenthaltsrecht verfügen (BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 47ff).

Mit dem Leistungsausschluss ist auch ein Anspruch auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII ausgeschlossen (aA BSG 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 51f). Zwar ist der Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig, da mit dem Ausschluss von Ansprüchen auf Sozialhilfe auch gemeint sein könnte, dass lediglich Rechtsansprüche ausgeschlossen seien, nicht hingegen Ansprüche auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen (vgl BVerwG 10.12.1987 – 5 C 32/85 – Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr 8). Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 120 Bundessozialhilfegesetz (BSGH) kann jedoch auf den Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII nicht übertragen werden, da er in § 120 BSHG überhaupt nicht enthalten war. Vor allem war § 120 BSHG in der damaligen Fassung gänzlich anders systematisch aufgebaut, da sich die Ermessensvorschrift (§ 120 Abs 1 S 2 BSHG aF) an den Leistungsausschluss (§ 120 Abs 1 S 1 Hs 2 BSHG aF) anschloss und der Leistungsausschluss nicht in einem gesonderten Absatz geregelt war. Soweit also der 4. Senat des Bundessozialgerichts meint, dass Bundesverwaltungsgericht habe eine Entscheidung zu § 120 Abs 3 S 1 Alt 1 BSHG in diesem Sinne getroffen (BSG 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R, Rn 51), irrt er, denn § 120 Abs 3 BSHG in der damaligen Fassung enthielt eine Verordnungsermächtigung.

Es kann letztlich dahingestellt bleiben, ob von dem Wortlaut der Vorschrift des § 23 Abs 3 S1 SGB XII auch Ansprüche auf pflichtgemäße Ermessungsausübung erfasst sind, denn auch insoweit spricht die historische Auslegung mit hinreichender Deutlichkeit dafür, dass der Gesetzgeber jeglichen Anspruch auf Sozialhilfe, auch einen solchen auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 S 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)), ausschließen wollte. Ausdrücklich sollen Ausländer, die nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, "keine Ansprüche aus dem SGB XII herleiten können" (BT-Drs 16/2711, S 10). Damit steht außer Zweifel, dass diesem Personenkreis keine Ansprüche, seien es auch nur solche auf Ermessensleistungen oder pflichtgemäße Ausübung des Ermessens, zustehen sollen. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts übersieht, dass durch die Einbettung des BSHG in die Sozialgesetzbücher nach § 39 Abs 1 S 3 SGB I anders als nach Allgemeinem Verwaltungsrecht stets ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht, wenn das Gesetz der Behörde einen Ermessensspielraum eröffnet (vgl Neumann, in Hauck/Noftz, SGB XII, IX/15, § 17 Rn 18). Auch insoweit kann also die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 120 BSHG ersichtlich nicht auf § 23 SGB XII übertragen werden.

Schließlich spricht für die hier vertretene Rechtsauffassung die Systematik des Leistungsausschluss. Der Gesetzgeber hat in § 23 Abs 3 S 2 SGB XII ausdrücklich festgelegt, welche Leistungen im Falle eines Leistungsausschlusses nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII ausnahmsweise gewährt werden sollen, nämlich Hilfe bei Krankheit. Die Vorschrift wäre überflüssig, wenn ohne Beachtung der besonderen Voraussetzungen des § 23 Abs 3 S 2 SGB XII Hilfe bei Krankheit als Ermessensleistung gewährt werden könnte oder gar müsste.

c) Jedenfalls lässt sich entgegen der Ansicht des 4. Senats des Bundessozialgerichts aus § 23 Abs 1 S 3 SGB XII kein Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt herleiten.

Dies folgt aus dem Wortlaut und aus einer systematischen Auslegung des § 23 Abs 1 S 1 bis S 3 SGB XII. Hiernach ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege zu leisten (§ 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Die Vorschriften des Vierten Kapitels, also die Vorschriften zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, bleiben unberührt (§ 23 Abs. 1 S. 2 SGB XII). Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (§ 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII).

Aus der in § 23 Abs 1 S 3 SGB XII enthaltenen Formulierung "im Übrigen" kann unter Berücksichtigung der zuvor in § 23 Abs 1 S 1 und S 2 SGB XII abschließend aufgezählten und als Pflichtleistungen ausgestalteten Leistungsarten der Sozialhilfe nur der Schluss gezogen werden, dass sich die Ermessensvorschrift des § 23 Abs 1 S 3 SGB XII nicht auf die in § 23 Abs 1 S 1 und S 2 SGB XII bereits genannten Leistungsarten der Sozialhilfe bezieht. Die Ermessensvorschrift erlaubt es dem Sozialhilfeträger demzufolge "nur" eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob (Entschließungsermessen) und gegebenenfalls in welcher Art und Weise und in welchem Umfang (Auswahlermessen) die anderen, nicht in § 23 Abs 1 S 1 und S 2 SGB XII bereits aufgezählten Leistungen der Sozialhilfe im Einzelfall zu erbringen sind. Dazu gehören die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, die Hilfen in anderen Lebenslagen und aus dem Fünften Kapitel die vorbeugende Gesundheitshilfe, die Hilfe zur Familienplanung und die Hilfe bei Sterilisation (Coseriu in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl, § 23 Rn 24; Schlette in Hauck/Noftz, VII/12, § 23 Rn 35; Groth, in BeckOk-SozR, § 23 SGB XII Rn 5,6, Stand September 2015). Hilfe zum Lebensunterhalt wird also von § 23 Abs 1 S 3 SGB XII nicht erfasst, weil es sich (für nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossene) Ausländer um eine Pflichtleistung der Grundversorgung handelt (vgl Wahrendorf, in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5 Aufl, § 23 Rn 31). Die in § 23 Abs 1 S 1 SGB XII erwähnten Leistungen darf der Sozialhilfeträger nicht als Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII erbringen (Birk, in LPK-SGB XII, 10. Aufl., § 23 Rn 18; Fasselt, in Fichtner/Wenzel, SGB XII, 4. Aufl., § 23 Rn 22; vgl Schlette, aaO, § 23 Rn 50).

Ob das Entschließungsermessen und sogar das Auswahlermessens des Sozialhilfeträgers allein wegen einer über sechs Monate andauernden erfolglosen Arbeitsuche tatsächlich auf Null reduziert sein könnte (so BSG, 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn 53ff; aA BVerwG 10.12.1987 – 5 C 32/85 – Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr 8 – juris Rn 18; LSG Rheinland-Pfalz 11.2.2016 – L 3 AS 668/15 B ER), kann hiernach dahingestellt bleiben, da – wie ausführlich dargetan – Hilfe zum Lebensunterhalt keine Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII ist.

3.) Auf das Gleichbehandlungsgebot des EFA kann sich der Antragsteller nicht berufen.

Das EFA ist nicht anwendbar, denn der Antragsteller ist Staatsangehöriger Lettlands. Vertragsstaaten des EFA sind lediglich Bundesrepublik Deutschland und Frankreich und daneben Belgien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien (vgl. BSG, 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – SozR 4-4200 § 7 Nr 21, Rn. 22).

4.) Der Leistungsausschluss für Arbeit suchende Ausländer verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Weder wird der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs 1 GG) noch das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 20 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG) verletzt.

Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind (BVerfG, NVwZ 2012, 1024, 1026). Die Gewährleistung des Existenzminimums ist nicht durch die Bundesrepublik Deutschland erforderlich, wenn die Betroffenen – wie hier – ohne Weiteres existenzsichernde Leistungen in ihrem Heimatstaat in Anspruch nehmen können (LSG Berlin-Brandenburg, 11.3.2013 - L 31 AS 318/13 B ER). Für diese Ausländer liegt die Grundsicherungsverantwortung beim Herkunftsstaat (Hänlein, in: Gagel, § 7 SGB II Rn. 73, Stand September 2015). Insoweit unterscheidet sich dieser Personenkreis auch von den Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, deren Ausreise trotz vollziehbarer Ausreisepflicht nicht durchgesetzt werden kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 17.3.2014 - L 20 AS 502/14 B ER). Die Staaten der Europäischen Union haben sich verpflichtet, ihren Bürgern existenzsichernde Leistungen zu gewähren, sodass diese ihren Existenzsicherungsanspruch in ihrem Herkunftsland geltend machen können (LSG Sachsen-Anhalt, 27.5.2015 – L 2 AS 256/15 B ER; LSG Baden-Württemberg, 29.6.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B; Bayerisches LSG, 1.10.2015 – L 7 AS 627/15 B ER; Bayerisches LSG, 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER; LSG Hamburg, 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, 5.11.2015 – L 3 AS 479/15 B ER; LSG Rheinlad-Pfalz 11.2.2016 – L 3 AS 668/15 B ER; SG Dortmund, 11.2.2016 – S 35 AS 5396/15 ER; SG Halle (Saale), 22.1.2016 – S 5 AS 4299/15 ER; vgl bereits zu § 120 BSHG BVerwG, 8.7.1988 – 5 B 136/87 ua, Buchholz 436.0 § 120 BSHG Nr 9 – juris Rn 3).

Einer Prüfung, inwiefern ein Hilfebedürftiger in seinem Herkunftsland das Existenzminimum nach deutschen Maßstäben sichern kann, ist in diesem Zusammenhang nicht anzustellen (SG Dortmund, 11.2.2016 – S 35 AS 5396/15 ER, mwN).

In Betracht kämen daher allenfalls die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts, also Überbrückungsleistungen (LSG Niedersachsen-Bremen, 15.11.2013 – L 15 AS 365/13 B ER, Rn. 66, juris), die hier jedoch nicht begehrt werden. Eine Verpflichtung des beigeladenen Sozialhilfeträgers ist vor diesem Hintergrund nicht angezeigt, da sich die Überbrückungsleistungen grundlegend von den hier begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unterscheiden und daher gesondert beim Träger der Sozialhilfe geltend zu machen sind (LSG Niedersachsen-Bremen, aaO, Rn. 68, juris; vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 17.03.2014 - L 20 AS 502/14 B ER).

Selbst wenn man der hier vertretenen Rechtsauffassung, wonach der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II bzw § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII verfassungsgemäß ist, nicht folgen wollte, bestünde kein Anspruch auf eine Bewilligung von Dauerleistungen wie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Nach allgemeiner Auffassung in der Literatur kann ein etwa durch den Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII bedingter Verfassungsverstoß dadurch ausgeräumt werden, dass Leistungen analog § 1a Abs 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren sind, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist (Birk, in LPK-SGB XII, 10. Aufl, § 23 Rn 22; Groth, in BeckOK-SozR, § 23 SGB XII Rn 18, Stand September 2015; Schlette in Hauck/Noftz, VII/12, § 23 Rn 50; Hohm in Schnellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, 19. Aufl, § 23 Rn 29.6; Coseriu in jurisPK-SGB XII, 23 Rn 76). Ein Anspruch auf derartige Leistungen wird hier jedoch nicht erhoben, sodass das Gericht hierüber auch nicht entscheiden darf (vgl § 123 SGG).

5.) § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII verstößt nicht gegen das Recht der Europäischen Union, insbesondere nicht gegen Art 24 RL 2004/38/EG (a) oder Art 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) (b).

a) § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII verstößt nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG.

In diesem Zusammenhang kann die Kammer offen lassen, ob im vorliegenden Fall allein ein Freizügigkeitsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche tatsächlich besteht oder überhaupt kein materielles Freizügigkeitsrecht mehr gegeben ist.

Sofern kein materielles Freizügigkeitsrecht besteht, ist Art 24 Abs 1 S 1 RL 2004/38/EG bereits nicht anwendbar.

Hiernach genießt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats (Art 24 Abs 1 S 1 RL 2004/38/EG). Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen (Art 24 Abs 1 S 2 RL 2004/38/EG).

Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebotes des Art 24 Abs 1 S 1 RL 2004/38/EG ist hiernach, dass der Unionsbürger sich "aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats" aufhält. Unionsbürger ohne materielles Freizügigkeitsrecht nach Art 7 RL 2004/38/EG halten sich nicht "aufgrund dieser Richtlinie" in Deutschland auf, sodass der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 24 Abs 1 S 1 RL 2004/38/EG für diese Personengruppe keine Geltung beansprucht (EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano").

Sofern ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche tatsächlich noch bestehen sollte, ist der Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 24 Abs 1 S 1 RL 2004/38/EG durch Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG gerechtfertigt.

Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG statuiert eine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot des Absatzes 1 (EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano", Rn. 64). Hiernach ist abweichend von Absatz 1 der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.

Unionsbürger mit einem Freizügigkeitsrecht zur Arbeitsuche unterfallen Art. 14 Abs. 4 lit. b RL 2004/38/EG. Bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handelt es sich um Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG und nicht um Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen (EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano", Rn. 63; EuGH, 15.09.2015 – Rs. C-67/14 "Alimanovic", Rn. 46; EuGH, 25.2.2016, Rs. C-299/14, "Garcia-Nieto", Rn. 37). Die RL 2004/38/EG überlasst es gerade dem Aufnahmemitgliedstaat, ob er Arbeitssuchenden Sozialhilfe gewährt (Erwägungsgrund 21; vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 81. EL IV/2013, § 2 FreizügG/EU Rn. 48). Der Aufnahmemitgliedstaat darf einem Unionsbürger, der lediglich ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender hat, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern (EuGH, 15.9.2015 – Rs. C-67/14 "Alimanovic", Rn. 58).

Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist mit europäischem Primärrecht vereinbar (EuGH, 4.6.2009, Rs. C-22/08 und C-23/08 "Vatsouras und Koupatantze", info also 2009, 217; vgl. Spellbrink/G. Becker, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 53).

b) Ein anderes Ergebnis lässt sich nicht aus dem Gleichbehandlungsgebot des Artikels 4 VO 883/2004 herleiten.

Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist,

Zwar ist der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 VO 883/2004 auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II anwendbar, da es sich um beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3, 70 VO 883/2004 handelt (EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano", Rn. 46ff.; EuGH, 15.9.2015 – Rs. C-67/14 "Alimanovic", Rn. 43). Es handelt sich auch um eine Ungleichbehandlung, da Bürger des Aufnahmemitgliedstaates Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten. Indes lässt sich eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 4 VO 883/2004 mit der RL 2004/38/EG rechtfertigen (EuGH, 15.9.2015 – Rs. C-67/14 "Alimanovic", Rn. 49ff.; ; EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano", Rn. 83; EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 "Brey", Rn. 44ff.; vgl. bereits LSG Berlin-Brandenburg, 29.02.2012 – L 20 AS 2347/11 B ER; Kötter, info also 2013, 243, 251; Thym, NZS 2014, 81, 84). Die mit der unterlassenen Gewährung von Sozialhilfe verbundene Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 4 VO 883/2004 ist sachlich gerechtfertigt, denn sie ist eine unvermeidliche Folge der Regelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG (vgl. EuGH, 11.11.2014, Rs. C-333/13 "Dano", Rn. 77) und ist geeignet, eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu verhindern. Nach Erwägungsgrund 21 der RL 2004/38/EG soll es gerade dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben zu bestimmen, ob er Sozialhilfe Arbeitsuchenden gewährt.

Die Kostentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Rechtskraft
Aus
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