L 4 AS 52/16 B

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 4 AS 2400/12
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 52/16 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 10. Dezember 2015 wird aufgehoben.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung eines Beschlusses mit Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH).

Am 2. Oktober 2012 hat der Kläger in einem Verfahren auf höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben (S 4 AS 2400/12). Auf seinen Antrag hin hat das SG ihm mit Beschluss vom 2. Januar 2013 ratenfreie PKH bewilligt.

Mit Urteil vom 15. Juli 2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Am 14. September 2015 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Kostenfestsetzung in Höhe von 610,59 EUR beim SG beantragt. Die zuständige Urkundsbeamtin des SG hat in einem Vermerk vom 4. Dezember 2015 festgestellt, dass der Kläger über Vermögen verfüge und daher die PKH-Bewilligung aufzuheben sei. Ohne Anhörung des Klägers hat das SG die Bewilligung von PKH mit richterlichem Beschluss vom 10. Dezember 2015 aufgehoben und zur Begründung auf die Sollvorschrift des § 124 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) verwiesen.

Gegen den am 21. Dezember 2015 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 20. Januar 2016 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Das SG hätte § 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO aF (bis zum 31. Dezember 2013) anwenden müssen. Darin ergebe sich schon aus dem Wortlaut ("kann") die Pflicht, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Die damit verbundene Abwägung habe das SG nicht vorgenommen. Die PKH-Unterlagen seien bereits mit Klageerhebung eingereicht worden. Von daher hätte dem SG zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt sein müssen, dass der Kläger über eine Rentenversicherung mit Guthaben verfügt habe. Vor diesem Hintergrund sei die Aufhebung der PKH-Bewilligung nicht gerechtfertigt, da das Gericht offenbar die unveränderten wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers zu verschiedenen Zeitpunkten nur unterschiedlich bewerte.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

den Beschluss vom 10. Dezember 2015 aufzuheben.

Der Beschwerdegegner beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß ebenfalls,

den Beschluss vom 10. Dezember 2015 aufzuheben.

Der Beschwerdegegner hat ausgeführt: Gemäß § 40 des Gesetzes betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung (ZPOEG) unterliege die Prüfung der Aufhebung der PKH der Gesetzeslage vor dem 31. Dezember 2013. Daher sei § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 114 – 127 ZPO a.F. anzuwenden. Das SG habe es versäumt, den Kläger anzuhören. Überdies sei nicht von veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen auszugehen. Geändert habe sich lediglich die Bewertung des Schonvermögens durch das Gericht. Es lägen daher keine unrichtigen Angaben der Partei vor, die eine Aufhebung rechtfertigen könnte. Entgegen der Rechtsauffassung des 2. Senats des LSG im Beschluss vom 29. August 2014, L 4 AS 226/14 B (juris) komme es zudem auf die verfahrensrechtliche Unterscheidung von Alt- oder Neuverfahren nicht an, so dass trotz eines sog. Altfalles im konkreten Fall § 73a SGG n.F. anzuwenden sei. Hiernach hätte zunächst der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle und nicht allein der Richter eine Entscheidung in dieser Sache treffen müssen. Die Beschwerdemöglichkeit sei daher in jedem Fall gegeben.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Im vorliegenden Fall geht es nicht um die Ablehnung der Bewilligung von PKH, sondern um die nachträgliche Aufhebung einer bewilligten PKH-Entscheidung, die vom Gesetzeswortlaut nicht umfasst wird. Eine entsprechende Anwendung einer den Rechtsschutz ausschließenden Ausnahmeverfahrensvorschrift ist nicht möglich (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. August 2014, L 2 AS 226/14 B juris; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. August 2015, L 11 AS 533/15 B PKH, juris). Gegen eine analoge Anwendung dieser Norm spricht bereits, dass keine planwidrige Regelungslücke vorliegt (vgl. hierzu BT-Drs. 811/12 S. 65; so Bayerisches Landessozialgericht a.a.O.). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die Beschwerde nur nach dem § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG ausgeschlossen werden. Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber neben der Ablehnung auch die Aufhebung einer PKH-Entscheidung von der Beschwerde ausschließen wollte, sind aus den Gesetzesmaterialien nicht abzuleiten (Straßfeld, SGb 2014, 236 (241)). Dem Gesetzgeber ist der der wesentliche Unterschied zwischen Ablehnung und Aufhebung von PKH sicherlich bewusst gewesen. Während die Ablehnung lediglich die Nichtgewährung einer erstrebten Rechtsposition bedeutet, führt die Aufhebung zu einem Entzug einer bereits erlangten Rechtsposition und stellt damit den deutlich gravierenden Eingriff dar (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 20. Februar 2014, L 3 AL 159/13 B PKH, juris).

Die Beschwerde ist auch nicht nach § 73a Abs. 8 SGG unstatthaft. Danach kann gegen die Entscheidung des Urkundsbeamten nach § 73a Abs. 4 und 5 SGG binnen einen Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden, welches endgültig entscheidet. § 73a SGG ist bei der Prüfung von PKH-Verfahren die spezieller Norm, was § 172 Abs. 1 SGG mit der Formulierung "soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist" auch ausdrücklich klarstellt.

Entnimmt man aus dem Wortlaut "endgültig" im Sinne des § 73a Abs. 8 SGG eine generelle Ausschlussnorm weiterer Rechtsmittel (so grundsätzlich Sächsisches Landessozialgericht im Beschluss vom 4. Februar 2015, L 8 AS 78/15 B PKH, juris), entstünde gerade mit Blick auf die Aufhebung von PKH-Entscheidungen im Vergleich zu § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG eine problematische Rechtsschutzlücke. Nach § 73a Abs. 8 SGG entscheidet das Gericht endgültig über die Erinnerung. Hat der Urkundsbeamte daher eine Entscheidung nach § 73a Abs. 4, 5 SGG getroffen, die auch die Aufhebung einer PKH nach § 124 ZPO betreffen kann, müsste eine Beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung des Sozialgerichtes "an sich" unstatthaft sein. Diese notwendige Konsequenz zieht das Sächsische LSG (a.a.O) bei PKH-Aufhebungen jedoch nicht, sondern verweist auf die beschränkte Prüfungskompetenz des Urkundsbeamten in diesen Fällen. Überzeugender ist es jedoch, eine teleologische Reduktion des § 73a Abs. 8 SGG vorzunehmen, um gesetzgeberisch ungewollte Wertungswidersprüche zu § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG auszuschließen. Der Beschwerdeausschluss des § 78a Abs. 8 SGG darf nicht weiter gehen als in § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG. Dies ergibt sich bereits aus den Gesetzesmaterialien (Straßfeld, SGb 2014, 236 (241) unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien in BT-Drs. 17/11472, S. 48). Dem folgt im Ergebnis zu Recht auch die sozialrechtliche Literatur (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer 11. Auflage, 2014 zu § 73a Rdn 12 b; Littmann in Lüdtke, SGG 4, Auflage 2012, zu § 73a Rdn 24 sowie Leopold in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014 zu § 73a Rdn 90) und hält die Beschwerde bei PKH-Aufhebungen generell für statthaft.

Diese Frage hat der 2. Senats des LSG Sachsen-Anhalt in seinem Beschluss vom 29. August 2014, L 2 AS 226/14 B (juris), noch offengelassen, aber die Ansicht vertreten, dass für Altverfahren (bis 31. Dezember 2013) sowohl materiell-rechtlich als auch verfahrensrechtlich stets das alte Recht anzuwenden sei. Gemäß § 40 ZPOEG finde auf laufende Verfahren noch das alte (bis zum 31. Dezember 2013 geltende) materielle Recht der §§ 114-127 ZPO Anwendung. Damit gälten nach dem gesetzgeberischen Willen auch die veränderten verfahrensrechtlichen Regelungen des § 73a Abs. 4 bis 9 SGG erst für Neuverfahren (so auch Straßfeld, SGb 2014 176 (177)). Die geänderten materiell-rechtlichen Regelungen und auch die neuen verfahrensrechtlichen Regelungen seien nur auf PKH-Anträge anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 2013 im jeweiligen Rechtszug gestellt worden seien.

Diese Auffassung führt verfahrensrechtlich zu erheblichen Verunsicherungen und unterläuft den gesetzgeberischen Zweck der geschaffenen Neureglungen in § 73a SGG. Der Kostenbeamte der Geschäftsstelle muss schließlich bei Altverfahren – entgegen der an sich geltenden neuen Regelungen in § 73a SGG – keine eigene, mit der Erinnerung angreifbare Entscheidung treffen. Dies zeigt exemplarisch gerade der vorliegende Fall. Das gesetzgeberische Ziel war es, mit der Neuregelung des § 73a SGG gerade in den Fällen der Absätze 4 bis 9 den Richter zu entlasten (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer 11. Auflage, 2014 zu § 73a Rdn 6i). Dieses Ziel würde für sog. Altfälle unterlaufen. Der Rechtsprechung des 2. Senats des LSG Sachsen-Anhalt kann daher nicht gefolgt werden.

Die Übergangsregelung des § 40 ZPOEG hat im sozialgerichtlichen Verfahren keine verfahrensrechtliche Bedeutung. Denn der Gesetzgeber hat zwischen den materiell-rechtlichen, in den §§ 114 bis 127 ZPO verankerten Regelungen (wohl nur hierauf bezieht sich der in der o. g. Entscheidung herangezogene Hinweis bei Straßfeld, SGb 2014, 176) und den verfahrensrechtlichen Neuerungen (hier vor allem die Übertragung bestimmter Entscheidungen auf den Urkundsbeamten nach § 73a Abs. 4 und 5 SGG) sehr wohl unterschieden. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus der eigenen Regelung über das Inkrafttreten der Änderungen in Art. 20 PKH/BerHÄndG, die zudem ursprünglich ein abweichendes Inkrafttreten u.a. der Änderungen des SGG in Art. 20 Satz 2 PKH/BerHÄndG (vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 14.11.2012, BT-Drs. 17/11472, Seiten 15, 52) vorsah und erst auf Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages (vgl. den Bericht vom 15.05.2013, BT-Drs. 17/13538, Seiten 23, 29) vereinheitlicht wurde. Für einen Gleichlauf der materiell-rechtlichen und prozessualen Änderungen besteht daher weder in systematischer Hinsicht noch aus der den Gesetzesmaterialien abgeleiteten Intention des Gesetzgebers ein Bedürfnis (so auch Sächsisches Landessozialgerichts im Beschluss vom 4. Februar 2015, L 8 AS 78/15 B PKH, juris).

Der Ansicht des 2. Senats des LSG Sachsen-Anhalt a.a.O. ist weiter entgegenzuhalten, dass – wie er selbst ausführt – sich eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch auf alle anhängigen Verfahren auswirkt. Wird das Prozessrecht im laufenden gerichtlichen Verfahren geändert, so richtet sich das anzuwendende Recht nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts. Danach ist eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch auf anhängige Rechtsstreitigkeiten anzuwenden, sofern nicht ein verfassungskonform abweichender Geltungswille des Gesetzgebers festzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 14. April 2011, B 8 SO 18/09 R, juris). Nur in Fällen eines konkreten Rechtsnachteils der betroffenen Prozessbeteiligten darf aus Gründen der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes von diesem verfahrensrechtlichen Grundsatz abgewichen werden. Es ist hier nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit für eine Differenzierung von Alt- und Neufällen gesehen hat. Auch hat der 2. Senat des LSG Sachsen-Anhalt (a.a.O.) nicht nachvollziehbar begründet, worin der verfahrensrechtliche Rechtsnachteil bei Anwendung des § 73a SGG n.F. für Altfälle bestehen soll. Ein schutzwürdiger Nachteil der Prozessbeteiligten ist bei einer PKH-Aufhebung in sog. Altfällen auch nicht festzustellen. Die Neuregelung der §§ 73a Abs. 4 bis 9 SGG n.F. führt im Gegenteil sogar zu einer verfahrensrechtlich verbesserten Position, da jetzt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle eine eigenständige Entscheidung treffen muss. Der von einer PKH-Aufhebung Betroffene hat dann nicht nur das eigenständige Erinnerungsrecht, sondern gegen die richterliche Entscheidung auch das weitere Beschwerderecht. Die Neuregelung des § 73a SGG begründet daher verfahrensrechtlich bei PKH-Aufhebungen keinen Rechtsnachteil der Prozessbeteiligten bei Altfällen, so dass kein Grund besteht, von der verfahrensrechtlichen Grundregel abzuweichen. § 73a SGG n.F. ist daher auch auf sog. Altfälle anzuwenden. Der Rechtsprechung des 2. Senats des LSG Sachsen-Anhalt ist daher nicht zu folgen.

Die Beschwerde ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufgehoben.

Das SG hat einen beachtlichen und entscheidungserheblichen Verfahrensverstoß dadurch gegangen, dass es den Kläger vor der belastenden Aufhebungsentscheidung nicht angehört hat. Dies verstößt gegen die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und rechtfertigt bereits allein die Aufhebung des Beschlusses.

Auch sonst lagen die Voraussetzungen für eine Aufhebung nicht vor. Entgegen der Ansicht des SG darf nicht die Neuregelung des § 124 Nr. 3 ZPO n.F. ab dem 1. Januar 2014 durch das Gesetz zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts vom 31. August 2013 angewandt werden (§ 40 EGZPO). Nach dem vielmehr anzuwendenden § 124 Nr. 3 ZPO in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung (ab dem 1. Januar 2014 § 124 Nr. 3 ZPO n.F.) "kann" das Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufheben. In seiner Begründung ist das SG daher zu Unrecht von einer gebundenen Entscheidung im Sinne der Neufassung des Gesetzes ausgegangen und hat folgerichtig, jedoch fehlerhaft, keine Ermessenserwägungen angestellt. Auch dies rechtfertigt die Aufhebung des Beschlusses. Fraglich ist auch, ob ein bloßer Rechtsirrtum bzw. eine später abweichende Beurteilung des Gerichts bei unveränderten Tatsachen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen allein genügen kann, um eine PKH-Aufhebung zu rechtfertigen. Dagegen könnten gewichtige Vertrauensschutzinteressen sprechen, die einer denkbaren Aufhebungsentscheidung entgegenstehen.

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei (§ 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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