L 7 AS 288/16 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 80/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 288/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerden der Antragsteller und der Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 03.02.2016 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung von Januar 2016 bis Juni 2016, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag vom 02.11.2015, nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für Unterkunft und Heizung für November 2015 und Dezember 2015 zu zahlen. Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Verpflichtung des Antragsgegners bzw der Beigeladenen zur Zahlung von Leistungen für den Lebensunterhalt einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung.

Der 1962 geborene Antragsteller zu 1) und die 1972 geborene Antragstellerin zu 2) sind polnische Staatsangehörige und leben als Partner seit September 2013 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie wohnen seit dem 01.02.2014 in einer Mietwohnung im C-weg 00 in F. Die Grundmiete beträgt 300,65 EUR, für Betriebskosten sind 149 EUR und für Heizkosten 71 EUR zu zahlen.

Am 06.12.2013 beantragten die Antragsteller erstmals Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Im Hinblick auf die beim BSG anhängigen Verfahren zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bewilligte der Antragsgegner bis zum 31.10.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, zuletzt iHv 1240,65 EUR.

Im September 2015 beantragten die Antragsteller die Weiterzahlung der Leistungen. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 01.10.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Am 02.11.2015 beantragten die Antragsteller erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Der Antragsteller zu 1) steht seit dem 04.11.2015 in einem bis zum 30.04.2016 befristeten Beschäftigungsverhältnis bei der Gesellschaft für H GmbH (H) als Zeitungszusteller. Er hat mittwochs und samstags in 4,5 Wochenstunden ein Anzeigenblatt zu verteilen, der Stundenlohn liegt bei 6,38 EUR. Im November 2015 und Dezember 2015 verdiente der Antragsteller zu 1) jeweils 93,92 EUR, im Januar 2016 lag der Verdienst bei 118,53 EUR. Auch die Antragstellerin zu 2) arbeitet seit dem 14.11.2015 in diesem Rahmen bei der H, sie verdiente im November 2015 58,93 EUR, im Dezember 2015 70,80 EUR und im Januar 2016 81,62 EUR.

Am 22.12.2015 beantragten die Antragsgegner die Überprüfung des Bescheides vom 01.10.2015. Mit (zwei) Bescheiden vom 07.01.2016 lehnte der Antragsgegner die Rücknahme des Bescheides vom 01.10.2015 ab. Hiergegen legten die Antragsteller am 07.01.2016 Widerspruch ein.

Am 08.01.2016 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Duisburg beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ab Januar 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iHv insgesamt 1240,65 sowie Leistungen für Unterkunft und Heizung für November 2015 und Dezember 2015 iHv insgesamt 899,30 zu zahlen. Sie haben die Lohnabrechnungen der H für November 2015 bis Januar 2016 vorgelegt.

Mit Beschluss vom 03.02.2016 hat das Sozialgericht die Beigeladene verpflichtet, den Antragstellern ab dem 08.01.2016 bis zum 07.03.2016 vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in Höhe der Regelbedarfe abzüglich anzurechnenden Einkommens zu zahlen. Im Übrigen hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Die Antragsteller unterlägen dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, da die Tätigkeiten als Zeitungszusteller nur untergeordnet und unwesentlich seien und keine Arbeitnehmereigenschaft begründeten. Der Antragsgegner sei nicht nach § 43 SGB I als erstangegangener Leistungsträger zu verpflichten, da diese Vorschrift auf Ermessensleistungen, die nach dem SGB XII allenfalls in Frage kämen, nicht anzuwenden sei. Aufgrund der Rechtsprechung des BSG sei aber der Beigeladene zur Leistungszahlung verpflichtet, jedoch nicht von Kosten für Unterkunft und Heizung, da die Wohnung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht einmal gekündigt sei.

Gegen diesen Beschluss haben die Beigeladene am 15.02.2016 und die Antragsteller am 22.02.2016 Beschwerde eingelegt.

Die Beigeladene hält die Rechtsprechung des BSG zur Verpflichtung, Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen, für falsch, und ist nicht bereit, ihr zu folgen.

Die Antragsteller meinen, sie seien als Arbeitnehmer anzusehen und unterfielen deshalb nicht dem für Arbeitsuchende geltenden Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Außerdem sei aufgrund der Regelung des § 43 SGB I zunächst der Antragsgegner zur Leistungszahlung verpflichtet. Kosten für Unterkunft und Heizung seien auch im Eilverfahren zu erbringen. Schließlich seien die Leistungen aufgrund einstweiliger Anordnung für mindestens sechs Monate zu zahlen. Durch Vorlage eines Schreibens der B AG haben die Antragsteller dargelegt, dass am 11.02.2016 Mietrückstände iHv 1798 EUR bestanden haben. Mit Schreiben vom 11.02.2016 hat die Vermieterin das Mietverhältnis gem. § 543 Abs. 2 Nr. 3 b) BGB außerordentlich fristlos gekündigt und Räumungsklage angekündigt.

Der Antragsgegner hält jedenfalls die Ablehnung eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II für zutreffend.

II.

Die Beschwerden der Antragsteller und der Beigeladenen sind begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beigeladene und nicht den Antragsgegner zur Zahlung von Leistungen verpflichtet und Unterkunftskosten verweigert. Der Verpflichtungzeitraum war zudem bis zum 30.06.2016 zu erweitern. Die Antragsteller haben im tenorierten Umfang einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht.

1) Die Grundvoraussetzungen für einen Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind gegeben. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

2) Die Antragsteller sind nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen dürften (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R). Es spricht viel dafür, dass die Antragsteller nicht nur als Arbeitsuchende, sondern auch als Arbeitnehmer iSd § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU anzusehen sind. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts ist weit auszulegen. Der EuGH (Urteile vom 04.09.2009 - C-22/08 und C-23/08 - Vatsouras/Koupatanze und vom 04.02.2010 - C-14/09 - Genc) betont in ständiger Rechtsprechung, dass als Arbeitnehmer jeder anzusehen ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dass die Bezahlung einer unselbständigen Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer anzusehen, selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts, wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung, zu ergänzen sucht. Zudem führt hinsichtlich der Dauer der ausgeübten Tätigkeit der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit von kurzer Dauer ist, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG) ausgeschlossen ist. Folglich lässt sich nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit nicht ausschließen, dass diese aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann. Der EuGH hat in der Rechtssache Genc 5,5 Wochenstunden und eine Monatsvergütung von 175 EUR ausreichen lassen. Ob im Einzelfall eine Arbeitnehmereigenschaft zu bejahen ist, obliegt der Beurteilung der Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten.

Im vorliegenden Fall spricht gegen eine Bewertung der Tätigkeit des Antragstellers zu 1) als untergeordnet und unwesentlich bereits, dass er ab Januar 2016 einen Verdienst erzielt hat, der oberhalb der Freibetragsgrenze des § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II liegt. Zudem geht bei der Bewertung des Arbeitsverhältnisses als wesentlich nicht zu Lasten der Antragsteller, dass die Vergütung aufgrund einer Sonderregelung im Zustellergewerbe (§ 24 Abs. 2 Mindestlohngesetz - MiLoG) unterhalb des allgemeinen Mindestlohnes (8, 50 EUR, § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG) liegt. Schließlich ist hinsichtlich beider Antragsteller zu berücksichtigen und abschließend im Hauptsacheverfahren zu würdigen, dass sie ihre Tätigkeit möglicherweise im Wege des "Job-Sharing" untereinander aufgeteilt haben und deswegen bei der Beurteilung der Wesentlichkeit der Tätigkeit eine Gesamtbetrachtung erforderlich sein könnte.

3) Letztlich kann der Senat jedoch offen lassen, ob die Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als polnische Arbeitsuchende von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (vergl. Beschlüsse vom 16.12.2015 - L 7 AS 1466/15 B ER, vom 17.12.2015 - L 7 AS 1711/15 B ER, vom 04.03.2016 - L 7 AS 2143/15 B ER, vom 22.03.2016 - L 7 AS 354/16 B ER und vom 05.04.2016 - L 7 AS 453/16) ist der Antragsgegner als Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (§§ 6, 44 b Abs. 1 SGB II) nach § 43 SGB I zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet.

Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann gem. § 43 SGB I der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags.

Entgegen der Meinung der Beigeladenen sind der Antragsgegner und die Beigeladene als unterschiedliche Leistungsträger iSd 43 SGB I anzusehen (§ 6 b Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Die Antragsteller haben dem Grunde nach einen Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen (zur Notwendigkeit der Zweckidentität von vorgeleisteter und ggfs. endgültig zustehender Leistung Grube, in: JurisPK, § 102 SGB X Rn. 37). Sie sind mangels ausreichenden eigenen Einkommens und Vermögens hilfebedürftig und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern erfüllen sie sowohl die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 SGB II als auch die Voraussetzungen des §§ 19 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Sie bewegen sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; für Leistungen nach dem SGB XII sind Altersgrenzen nicht vorgegeben (lediglich die Leistungsart ist gem. § 19 Abs. 2 SGB XII altersabhängig). Der Umstand, dass nach Meinung des Antragsgegners und der Beigeladenen die Antragsteller sowohl nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt, von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen sind, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 B ER), vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R), vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R), vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R) sowie vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn - wie bei den Antragstellern - ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Das in der Norm vorgesehene Ermessen ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminium in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist.

Der Senat folgt der abweichenden Rechtsprechung einiger Instanzgerichte in Eilverfahren (vergl. ua LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 - L 29 AS 20/16 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 - L 3 AS 668/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 - L 12 SO 79/16 B ER) nicht. Auch für den Fall, dass ein Gericht der zitierten Rechtsprechung des BSG nicht zu folgen bereit ist, sind im einstweiligen Rechtsschutzverfahren dennoch Leistungen jedenfalls im Wege der Folgenabwägung zuzusprechen Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschlüsse des Senats vom 09.11.2015 - L 7 AS 1234/15 B ER, vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER, vom 22.01.2015 - L 7 AS 2162/14 und vom 10.09.2014 - L 7 AS 1385/14 B ER). Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange des Antragstellers einzustellen sind (BVerfG, Beschlüsse vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 - 1 BvR 2366/12; Beschluss des Senats vom 11.07.2014 - L 7 AS 1035/14 B ER). Die Abwägung führt hier zu Leistungsanspruch, da ein Obsiegen der Antragsteller im Hauptsacheverfahren jedenfalls gegenüber der Beigeladenen angesichts der zitierten feststehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mindestens wahrscheinlich ist.

Es liegt zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen ein negativer Kompetenzkonflikt iSd § 43 SGB I vor. Dies folgt aus § 21 Satz 1 SGB XII. Nach dieser Regelung erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Umstritten ist, ob das Tatbestandsmerkmal "dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II" nur allgemein die Leistungssysteme des SGB II einerseits und des SGB XII andererseits nach dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit abgrenzt mit der Folge, dass erwerbsfähige Personen keinen Anspruch nach dem SGB XII geltend machen können, auch nicht bei Eingreifen eines Leistungsausschlusses (so zB LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 - L 8 SO 129/14 BER mwN auch zur Gegenauffassung), oder ob die Vorschrift den Zugang zum SGB XII eröffnet, wenn Hilfebedürftige aufgrund eines negativen Tatbestandsmerkmals keinen Zugang zu SGB II-Leistungen haben (so u.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.11.2012 - L 19 AS 1917/12 B ER). Seit dem Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) ist höchstrichterlich entschieden, dass jedenfalls auch erwerbsfähige Personen mit einem verfestigten Aufenthalt Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben können. Damit ist die Frage, ob Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfallen, - ähnlich wie die Frage der Erwerbsfähigkeit iSd § 8 Abs. 1 SGB II (vergl. § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II) - (lediglich) maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegen die Antragsteller dem Leistungsausschluss nicht, weil sie - was hier wie ausgeführt nahe liegt - auch über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen, ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegen die Antragsteller hingegen dem Leistungsausschluss, ist die Beigeladene als Träger der Sozialhilfe bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig.

Der Umstand, dass die Beigeladene vor der Beiladung mit dem Leistungsfall noch nicht befasst war, steht der Anwendung von § 43 SGB I nicht entgegen. Ausreichend ist, dass ein Leistungsträger - hier der Antragsgegner - den Anspruch aus einem Grund ablehnt, der zur Zuständigkeit eines anderen Sozialleistungsträgers führt, wenn - wie hier - alle übrigen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch bestehen (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 26). Es ist nicht erforderlich, dass der zuerst angegangene Träger ausdrücklich auf die Einstandspflicht eines anderen Trägers verweist (Lilge, SGB I, § 43 SGB I Rn. 25).

Der Antragsgegner ist zuerst angegangener Leistungsträger iSd § 43 SGB I. Die Antragsteller haben bislang nur bei dem Antragsgegner existenzsichernde Leistungen geltend gemacht. Unbeachtlich ist, dass der Antragsgegner seine Leistungspflicht aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits mit Bescheid abgelehnt hat. Eine - der Sache nach wegen fehlender Zuständigkeit - bereits ergangene Ablehnungsentscheidung steht einer Vorleistungspflicht nach § 43 SGB I jedenfalls so lange die Ablehnungsentscheidung (wie hier) noch nicht bestandskräftig geworden ist, nicht entgegen. Vorläufigen Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt nach Zweck und Bindungswirkung allein die Funktion zu, eine (Zwischen-)Regelung bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Vorläufig bewilligte Leistungen sind daher als aliud gegenüber endgültigen Leistungen anzusehen, deren Bewilligung keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung entfaltet (BSG, Urteil vom 29.04.2015 - B 14 AS 31/14 R mwN) und die daher unabhängig von der Ablehnung endgültig zustehender Leistungen erbracht werden können.

In dem Leistungsantrag ist im Zweifel auch ein Antrag iSd § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I zu sehen, vorläufige Leistungen zu erbringen. Ein Antrag ist jede gegenüber dem erstangegangenen Leistungsträger abgegebene Willenserklärung, aus der - erforderlichenfalls durch Auslegung - zu entnehmen ist, dass der Berechtigte zumindest vorläufige Leistungen wünscht (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 40). Dies ist bei einem Antrag auf existenzsichernde Leistungen im Regelfall zu bejahen.

Entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts steht einer Anwendung von § 43 SGB I nicht entgegen, dass die Bewilligung von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII grundsätzlich im Ermessen des Sozialhilfeträgers steht. Zwar trifft zu, dass § 43 SGB I nach wohl herrschender Meinung nicht angewendet werden kann, wenn die Leistung des einen Trägers eine gebundene Leistung ist, während die Leistung des anderen Trägers in dessen Ermessen steht (Wagner, in: JurisPK, § 43 SGB I Rn 23 mit Hinweisen auf die Gegenauffassung). Vorliegend ist jedoch maßgeblich, dass nach der zitierten Rechtsprechung des BSG eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen ist. Insoweit ist der Anwendungsbereich von § 43 SGB I damit eröffnet.

Die Rechte des Antragsgegners sind gewahrt, weil er für den Fall, dass die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist, einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen die Beigeladene geltend machen kann. Der aus der Anwendung von § 43 SGB I folgende Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X erfordert die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der vorläufig erbrachten Leistungen (allg. Meinung, vergl. nur LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.04.2013 - L 20 SO 453/11 mwN). Sie ist gegeben, weil es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift, in Folge der zitierten Rechtsprechung des BSG nicht um den Streit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung, sondern um die Eröffnung eines Kompetenzkonfliktes handelt. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den Antragsgegner geltenden Rechtsvorschriften (§ 102 Abs. 2 SGB X). Die Beigeladene kann diese evtl. erweiterte Erstattungspflicht vermeiden, indem sie den Leistungsfall übernimmt und den negativen Kompetenzkonflikt damit beendet.

4) Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund nicht nur hinsichtlich der Regelleistung, sondern auch hinsichtlich der Unterkunftskosten iSd § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II glaubhaft gemacht (ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER). Nur die volle Übernahme der Unterkunftskosten ist im Hinblick auf die Regelung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB geeignet, die Unterkunft der Antragsteller zu sichern (hierzu Beschluss des Senats vom 25.11.2015 - L 7 AS 1882/15). Der hierdurch bedingte Nachholbedarf (hierzu Sächsisches LSG, Beschluss vom 16.04.2013 - L 3 AS 1311/12 B; Keller, in: Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn 35a) rechtfertigt die Übernahme der Unterkunftskosten auch für November 2015 und Dezember 2015, weshalb der Senat im vorliegenden Fall von dem Grundsatz abweicht, dass die Zubilligung von Leistungen für eine Zeit vor Stellung des Eilantrags nicht in Betracht kommt und auch insoweit der Beschwerde stattgibt (vergl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.10.2015 - L 19 AS 1365/15 B ER).

5) Der Zeitraum der Verpflichtung des Antragsgegners zu Leistungszahlung orientiert sich an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Von dem die (auch ua zur Entfaltung von Integrationsbemühungen) erforderliche Rechtssicherheit gebenden Sechs-Monatszeitraum abzuweichen bietet der vorliegende Fall keinen Anlass. Der Ausspruch lediglich dem Grunde nach folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 130 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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