L 4 AS 196/15

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 2 AS 995/13
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 196/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2015 wird abgeändert, soweit er dem Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 29. Januar 2015 entgegensteht.

Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte und Berufungskläger (im Weiteren: Beklagter) wendet sich im Berufungsverfahren gegen das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 29. Januar 2015, soweit er zur Gewährung eines Mehrbedarfs gemäß § 21 Abs. 6 SGB II an die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Weiteren: Klägerin) für den Bewilligungszeitraum von März bis August 2013 verurteilt worden ist.

Die 1954 geborene Klägerin und ihr 1952 geborener Ehemann bewohnten eine 65 m² große Wohnung in R., für die eine monatliche Gesamtmiete in Höhe von 504 EUR zu zahlen war (Kaltmiete: 240 EUR, Betriebskosten: 132 EUR, Heizkosten: 132 EUR). Die drei gemeinsamen Kinder leben nicht im elterlichen Haushalt. Mit dem am ... 2000 geboren Sohn J. finden nach der Bescheinigung des Familienzentrums D. vom 27. März 2012 seit Oktober 2006 einmal wöchentlich Umgangstermine statt. Dafür erhält die Klägerin seit März 2012 monatliche Mehrbedarfsleistungen in Höhe von 12,00 EUR (Fahrtkosten von je 3,00 EUR für vier Kontakte monatlich).

Die Klägerin erzielte aus einer Nebentätigkeit ein monatliches Einkommen von zumeist 30 EUR bis maximal 40 EUR. Ihr Ehemann hatte kein Einkommen. Als Bedarfsgemeinschaft bezogen sie und ihr Ehemann vom Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Mit Veränderungsanzeige vom 19. März 2012 informierte die Klägerin den Beklagten, ihr Ehemann sei am 14. März 2012 in Haft genommen worden. Unter dem 22. März 2012 bestätigte die S. gGmbH, Landeskrankenhaus U., der Ehemann befinde sich seit 14. März 2012 gemäß § 63 Strafgesetzbuch (StGB) zur stationären Behandlung im Landeskrankenhaus für Forensische Psychiatrie U. Über die Dauer der Behandlung könnten keine Angaben gemacht werden. Im Zeitraum vom 3. Mai 2012 bis zum 13. Juni 2013 war der Ehemann in der Außenstelle der Einrichtung in L. untergebracht, im Übrigen in der Zentrale in U.

Die Klägerin beantragte beim Beklagten die Erstattung von Fahrtkosten nach U. Bei der Festnahme habe der Ehemann weder Wechselkleidung noch Waschzeug mitnehmen können. Das habe sie ihm gebracht und für ein "Sachsen-Anhalt-Ticket" der Bahn 23,00 EUR sowie für zwei Bus-Einzelfahrscheine je 1,50 EUR aufwenden müssen. Am 2. April 2012 beantragte sie Fahrtkosten nach U. zur Wahrnehmung eines Gesprächstermins mit der Therapeutin des Ehemanns. Am 10. April 2012 beantragte sie die Übernahme von Fahrtkosten zur Wahrnehmung von Besuchstagen am Wochenende. Zur Begründung führte sie aus, sie wolle ihren Ehemann einmal pro Woche sehen und könne die Kosten für die Fahrten nicht aus der Regelleistung aufbringen. Sie seien schon lange verheiratet und brauchten einander.

Mit gesonderten Bescheiden aus Mai und August 2012 lehnte der Beklagte die Anträge auf Fahrtkostenerstattung ab und führte aus, die Besuche des Ehemanns in der stationären Einrichtung seien kein unabweisbarer Bedarf. Sie seien nicht mit der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit minderjährigen Kindern gleichzustellen. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 27. Juli und 13. November 2012 zurück. Dagegen erhob die Klägerin fristgerecht Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG, Az.: S 2 AS 2044/12) für den Zeitraum von März bis August 2012.

Im Bewilligungsbescheid für den Folgezeitraum von September 2012 bis Februar 2013 gewährte der Beklagte der Klägerin Leistungen für den Regelbedarf und für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU), aber keine Mehrbedarfsleistungen. Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens (Widerspruchsbescheid vom 22. November 2012) erhob die Klägerin fristgerecht Klage beim SG, mit der sie höhere Leistungen im Bewilligungszeitraum, insbesondere für die KdU und den Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 6 SGB II für die Fahrten zum Ehemann geltend machte (Az.: S 2 AS 3043/12).

Auf den Weiterbewilligungsantrag der Klägerin gewährte der Beklagte mit Bewilligungsbescheid vom 22. Februar 2013 für den Zeitraum von März bis August 2013 monatliche SGB II-Leistungen in einer Gesamthöhe von 807,00 EUR. Die Leistungen setzten sich zusammen aus dem Regelbedarf für Alleinstehende in Höhe von 382,00 EUR, dem Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 6 SGB II für die Wahrnehmung des Umgangsrechts mit dem Sohn in Höhe von 12,00 EUR und Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) in Höhe von 413,00 EUR. Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. April 2013 zurückwies.

Am 25. April 2013 hat die Klägerin Klage beim SG (Az.: S 2 AS 995/13) erhoben, mit der sie weitere Leistungen für die KdU in Höhe von 33,00 EUR monatlich sowie die Erstattung der Fahrkosten für zwei Besuche monatlich beim dauerhaft im Maßregelvollzug untergebrachten Ehemann in Höhe von 41,06 EUR geltend gemacht hat. Zur Begründung der Klage hat sie ausgeführt, sie habe gemäß § 21 Abs. 6 SGB II einen Rechtsanspruch auf Mehrbedarfsleistungen zur Ausübung des in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) geschützten Umgangs mit ihrem Ehemann.

Nach den in den Klageverfahren vorgelegten Bescheinigungen der S. gGmbH erfolgten durch die Klägerin den Jahren 2012 und 2013 monatlich durchschnittlich fünf Besuche.

Mit Urteil vom 29. Februar 2015 hat das SG den Beklagten unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, der Klägerin im Zeitraum von März bis August 2013 die beantragten weiteren KdU sowie weitere Fahrtkosten von monatlich 41,06 EUR gemäß § 21 Abs. 6 SGB II zu bewilligen. Es hat die Berufung zugelassen und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe Anspruch auf höhere Leistungen für die KdU sowie auf Mehrbedarfsleistungen. Die für die Besuche des in der forensischen Psychiatrie untergebrachten Ehemanns aufgewendeten Fahrtkosten begründeten einen besonderen Bedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 SGB II. Dieser sei dauerhaft, regelmäßig und längerfristig. Zudem sei er unabweisbar, weil er nicht durch die Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt sei und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweiche. Ihr Umgangs- und Besuchsrecht sei verfassungsrechtlich geschützt. Zwar folge aus Art. 6 GG zunächst ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates in Ehe und Familie. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Institutsgarantie und die verbindliche Wertentscheidung für Ehe und Familie, die das eheliche Zusammenleben schütze, sei bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu beachten. Die rechtmäßige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts des Ehemanns bedeute einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG für die Klägerin. Die beantragten Mehrbedarfsleistungen für zwei Besuchsfahrten pro Monat erachte die Kammer als angemessen und ausreichend. Der Bedarf sei erheblich und könne nicht anderweitig gedeckt werden. Die entstehenden Kosten überstiegen den Regelsatzanteil für Mobilität deutlich. Einsparmöglichkeiten seien nicht ersichtlich. Die Klägerin nutze den öffentlichen Personennahverkehr unter Inanspruchnahme von Fahrpreisvergünstigungen.

Auch in den beiden anderen Klageverfahren hat das SG den Beklagten mit Urteil vom selben Tag verurteilt, Mehrbedarfsleistungen für zwei Fahrten monatlich zu gewähren.

Gegen das ihm am 5. März 2015 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 1. April 2015 – zunächst unbeschränkt – Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 3. Juni 2015 hat er das Rechtsmittel auf den zuerkannten Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II beschränkt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Die Voraussetzungen von § 21 Abs. 6 SGB II lägen bei den Besuchen des Ehemanns in der Einrichtung nicht vor. Der Bedarf sei nicht unabweisbar. Die eheliche Lebensgemeinschaft könne wegen der Unterbringung des Ehemanns im Maßregelvollzug nicht aufrechterhalten werden. Damit entspreche die Ehe der Klägerin nicht dem Bild des Grundgesetzes und sei nicht in gleicher Weise förderungs- bzw. schutzwürdig. Aus Art. 6 Abs. 1 GG könnten keine Sozialleistungsansprüche abgeleitet werden. Der Staat sei nicht verpflichtet, finanzielle Belastungen zur Aufrechterhaltung des Ehelebens auszugleichen. Die Rechtsprechung des BSG zum Umgangsrechts zwischen Eltern und minderjährigen Kindern sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Gehe man von einem besonderen Bedarf aus, könne die Klägerin ihn aus der Regelleistung bestreiten, indem sie den Mobilitätsanteil der Regelleistung für die Teilnahme am öffentlichen Personennahverkehr für die Fahrtkosten verwende. Ein Besuch monatlich reiche aus; weiteren Kontakt könne die Klägerin zumutbar telefonisch pflegen. Zudem erhalte sie bereits zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit ihrem Sohn zusätzliche Leistungen von 12,00 EUR monatlich. Auch sei es dem Ehemann zuzumuten, das ihm in der Einrichtung zur Verfügung gestellte Taschengeld von 102 EUR monatlich sowie eine etwaige Arbeitstherapieentlohnung zur Finanzierung der Fahrten einzusetzen. Weil die Klägerin den Ehemann seit März 2012 fortlaufend, zum Teil mehrmals wöchentlich besucht habe, sei davon auszugehen, dass sie die Fahrten selbst finanzieren könne und Mehrbedarfsleistungen nicht erforderlich seien.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 29. Januar 2015 aufzuheben, soweit der Beklagte zur Zahlung eines Mehrbedarfs von 41,06 EUR monatlich für die Zeit von März bis August 2013 verurteilt worden ist, und die Klage insoweit abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil für zutreffend. Es liege eine besondere Bedarfslage gemäß § 21 Abs. 6 SGB II vor. Bereits in einer Entscheidung zu Fahrtkosten in Ausübung des Umgangsrechts bei Kindern habe das BSG festgestellt (Urteil vom 4. Juni 2014, Az.: B 14 AS 30/13 R), dass dieser besondere Bedarf nicht aus dem Regelsatzanteil für Mobilität bestritten werden könne. Sie sei bereits mehr als 30 Jahren mit ihrem Ehemann verheiratet und wolle die eheliche Gemeinschaft fortführen. Die Aufrechterhaltung der Beziehung durch regelmäßige Besuchskontakte führe zu einem unabweisbaren zusätzlichen Bedarf.

Der Beklagte hat während des Berufungsverfahrens mit Änderungsbescheid vom 26. Mai 2015 das sozialgerichtliche Urteil insoweit umgesetzt, als er für den Zeitraum von März bis August 2013 weitere KdU in Höhe 33,00 EUR monatlich (KdU nunmehr insgesamt: 446,00 EUR) gewährt hat.

Am 1. April 2015 hat der Beklagte auch gegen die Urteile in den Parallelverfahren Berufung eingelegt, die auf die Mehrbedarfsleistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II beschränkt ist. In den unter den Aktenzeichen L 4 AS 194/15 und L 4 AS 195/15 geführten Verfahren haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung der Entscheidung des fortgeführten hier streitigen Verfahrens (Az.: L 4 AS 196/15) unterworfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Die genannten Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Der Senat ist an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren ist das Urteil des SG, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, der Klägerin in den Monaten März bis August 2013 weitere SGB II-Leistungen gemäß § 21 Abs. 6 SGB II in Höhe von 41,06 EUR monatlich für die Besuchsfahrten zum Ehemann zu gewähren. Nicht streitgegenständlich ist die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung weiterer KdU-Leistungen. Insoweit ist das Urteil des SG rechtskräftig. Ebenso ist ein weitergehender, d.h. über die erstinstanzliche Verurteilung hinausgehender SGB II-Leistungsanspruch nicht Gegenstand des Verfahrens, denn die Klägerin hat kein Rechtsmittel eingelegt. In das Berufungsverfahren einbezogen ist der weitere Änderungsbescheid des Beklagten vom 26. Mai 2015, mit dem er das erstinstanzliche Urteil teilweise – in Bezug auf die KdU – umgesetzt hat.

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des SG ist nicht zu beanstanden. Denn die Klägerin hat im streitbefangenen Zeitraum einen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II.

Die Klägerin ist dem Grunde nach anspruchsberechtigt. Nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen KdU. Berechtigt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erhalten, sind nach § 7 Abs. 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. In diesem Sinne ist sie auch hilfebedürftig gewesen. Sie hat im streitgegenständlichen Zeitraum kein anrechenbares Einkommen oder Vermögen.

Die Klägerin hat im streitbefangenen Zeitraum Anspruch auf Leistungen für die KdU, die Regelleistung in Höhe von 382,00 EUR sowie Mehrbedarfsleistungen zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit ihrem Sohn und darüber hinaus für Fahrten zum Besuch des Ehemanns in der beantragten und vom SG zuerkannten Höhe.

Nach § 21 Abs. 6 SGB II erhalten Leistungsberechtigte einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Bei den Aufwendungen für die Besuchsfahrten handelt es sich zunächst um einen laufenden Mehrbedarf im Einzelfall, weil die Bedarfslage der Klägerin eine andere ist, als sie typischerweise bei verheirateten SGB II-Leistungsberechtigten besteht. Aufgrund der unterschiedlichen Wohnorte der Ehegatten, die durch die stationäre Unterbringung des Ehemanns verursacht ist, ergibt sich ein Mehrbedarf im Verhältnis zum "normalen" Regelbedarf, der gemäß § 24 Abs. 1 SGB II für alle SGB II-Empfänger gleichermaßen gilt, die einen zum Regelbedarf gehörenden Bedarf ausnahmsweise nicht decken können. Ungeachtet der Tatsache, dass im Regelbedarf ein Anteil für Fahrtkosten (Mobilität) enthalten ist, handelt es sich um einen besonderen Bedarf, weil er nicht die üblichen Fahrten im Alltag betrifft, sondern eine spezielle Situation abbildet. Aufgrund der richterlich angeordneten dauerhaften Unterbringung des Ehemanns der Klägerin im Maßregelvollzug ist ein übliches eheliches Zusammenleben nicht möglich. Persönliche Kontakte der Eheleute und ein Fortführen des ehelichen Zusammenlebens können nur durch Besuche der Klägerin in der Einrichtung aufrechterhalten werden. Insoweit begegnet der eheliche Umgang überdurchschnittlichen Schwierigkeiten und ist mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden, weil der Wohnort der Klägerin (R.) und der Unterbringungsort des Ehemanns (in U. bzw. L.) räumlich voneinander entfernt liegen.

Aus dem Umstand, dass die Klägerin mit ihrem Ehemann nicht zusammen (in einer Wohnung) lebt, obwohl die Eheleute nicht getrennt leben wollen, ergibt sich eine atypische Sachlage iSv § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Insoweit hat das BSG im Urteil vom 11. Februar 2015 (Az.: B 4 AS 27/14 R, juris), in dem es um getrennte Wohnsitze von Eheleuten mit minderjährigen Kindern aus beruflichen Gründen bzw. aufgrund von autonomen Entscheidungen der Ehegatten ging, ausgeführt, dass ein unabweisbarer Bedarf auch in Betracht komme, wenn miteinander verheiratete Eltern, ohne sich im familienrechtlichen Sinne getrennt zu haben, wegen verschiedener Haushalte nicht zusammen (mit ihren Kindern) leben (a.a.O., RN 21). In der Eltern-Kind-Konstellation entstünden Mehrkosten durch die Wahrnehmung des Umgangs, die unabhängig seien von der familienrechtlichen Beurteilung des Getrenntlebens. In diesem Fall sei die Unabweisbarkeit der Kosten der Höhe nach zu überprüfen. SGB II-Leistungsberechtigte müssen im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schutz des Umgangsrechts verhältnismäßige und zumutbare Varianten zur Bedarfsdeckung wählen und gegebenenfalls die kostengünstigste Möglichkeit in Anspruch nehmen. Nur insoweit bestehe ein Leistungsanspruch (vgl. a.a.O., RN 24; BSG, Urteil vom 18. November 2014, Az.: B 4 AS 4/14 R, juris RN 23). Bei familienrechtlich nicht getrenntlebenden Eheleuten sei zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen fortbestehende familienrechtliche Pflichten der Begründung oder Aufrechterhaltung getrennter Wohnsitze entgegenstünden. Sei ein Zusammenleben zumutbar, liege hierin ebenfalls eine Einsparmöglichkeit, durch die besondere Bedarfe als Folge des Getrenntlebens vollständig vermieden werden könnten. Ausgangspunkt außerhalb der Trennungssituation im familienrechtlichen Sinne sei insoweit die fortbestehende Rechtfertigung für die Begründung von zwei Wohnsitzen durch Eheleute (BSG a.a.O. RN 26). Denn grundsätzlich bestehe bei nicht dauerhaft getrenntlebenden Eheleuten nach § 1353 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft, die im Grunde auch die Verpflichtung zum Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft beinhalte.

Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies: Zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann besteht eine eheliche Lebensgemeinschaft, denn sie leben nicht getrennt im familienrechtlichen Sinne, sondern lediglich nicht in häuslicher Gemeinschaft zusammen. Diese fehlende häusliche Gemeinschaft beruht nicht auf autonomen Willensentscheidungen der Ehegatten, sondern resultiert aus der richterlichen Entscheidung, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Ehemanns der Klägerin beschränkt. Die Eheleute können aus eigenem Entschluss die häusliche Gemeinschaft nicht wiederherstellen. Diese atypische Form der ehelichen Lebensgemeinschaft können die Beteiligten nicht ändern.

Diese besondere Lebenssituation erfordert zur Aufrechterhaltung der Ehe nach der Überzeugung des Senats auch regelmäßige (persönliche) Besuchskontakte. Deren gerichtlich geltend gemachter Umfang in zeitlicher Hinsicht, zweimal monatlich, ist nach Überzeugung des Senats verhältnismäßig und angemessen. Es ist der Klägerin nicht zuzumuten, ihren Ehemann nur einmal monatlich zu besuchen. Insoweit besteht keine Einsparmöglichkeit. Es handelt sich um einen laufenden Bedarf in dem Sinne, dass es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften, längerfristigen Bedarf handelt. Der durch die Fahrtaufwendungen ausgelöste Sonderbedarf besteht auf unabsehbare Zeit, weil die Unterbringung des Ehemanns nicht befristet ist.

Der Mehrbedarf für die Ausübung des ehelichen Umgangs ist auch unabweisbar. Nach § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II darf er nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt sein und muss seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichen. Insoweit enthält § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II keine abschließende Aufzählung, sondern nennt Regelbeispiele (vgl. S. Knickrehm/ Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 21 RN 69). Der Begriff der Unabweisbarkeit enthält zudem eine zeitliche Komponente dergestalt, dass der Bedarf nicht aufschiebbar sein darf, d.h. dem Leistungsberechtigten darf es nicht zuzumuten sein, die Bedarfsdeckung hinauszuschieben. Es muss eine Geringfügigkeitsgrenze überschritten sein und der Bedarf darf nicht auf anderer Seite gedeckt werden.

Die Möglichkeit der Bedarfsdeckung durch Zuwendungen Dritter ist nicht ersichtlich. Soweit der Beklagte im Berufungsverfahren die Auffassung vertreten hat, es sei dem Ehemann zuzumuten, der Klägerin Teile des Taschengelds, das er als Betrag zur persönlichen Verfügung in der Einrichtung erhält, zur Finanzierung der Besuchsfahrten zuzuwenden, begegnet dieser Auffassung rechtlichen Bedenken, weil sie ein freiwilliges Verhalten eines Dritten einbezieht, das rechtlich nicht durchsetzbar ist und faktisch im streitgegenständlichen Zeitraum nicht erfolgte. Die Klägerin hatte selbst im streitgegenständlichen Zeitraum keine weiteren Einkommenszuflüsse (vgl. auch S. Knickrehm/Hahn, a.a.O., RN 71). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin Einsparmöglichkeiten hatte. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass sie Fahrten hätte kostengünstiger absolvieren können. Sie ist bereits im öffentlichen Personennahverkehr mit dem im Vergleich zum Normalpreis vergünstigten "Sachsen-Anhalt-Ticket" gereist. Weitere Einsparpotentiale hat auch der Beklagte nicht dargelegt.

Die vom Beklagten für zumutbar erachtete Einsparmöglichkeit durch "Umschichtung", also einer Präferenzentscheidung (im Rahmen der Regelleistung) dahingehend, einen höheren Bedarf in einen Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen auszugleichen, scheidet aus Rechtsgründen aus, weil eine Umschichtung nur möglich ist bei Bedarfen, die dem Grunde nach von der Regelleistung umfasst sind. Dies trifft auf den hier streitigen Mehrbedarf nicht zu (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 25). Auch der im Regelbedarf enthaltene Ansparbetrag für notwendige Anschaffungen ist nicht heranzuziehen, weil dieser dazu dient, einmalige Bedarfe abzufangen (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 26).

Das Merkmal der Erheblichkeit gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ist ebenfalls erfüllt. Der Bedarf der Klägerin an Aufwendungen für Besuchsfahrten weicht seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf ab. Es handelt sich nicht um Bagatellbeträge. Das BSG hat insoweit bei einer Regelleistung von 359 EUR monatliche Fahrtkosten in Höhe von 20 EUR bereits für erheblich gehalten (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 28). Die monatlichen Aufwendungen der Klägerin sind mehr als doppelt so hoch.

Der Sonderbedarf ist nach der gebotenen Einzelfallbetrachtung (vgl. S. Knickrehm/ Hahn, a.a.O., § 21 RN 73) unabweisbar. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II eine verfassungsrechtlich gebotene Härtefallklausel darstellt, sodass in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob angesichts des (ansonsten) zugemuteten Verzichts das soziokulturelle Existenzminimum und damit die Menschenwürde des Leistungsberechtigten nach Art. 1 Abs. 1 GG noch gewahrt ist (vgl. von Boetticher/Münder in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2014, § 21 RN 39). Dabei ist einzubeziehen, dass die Besuche und die daraus entstehenden Fahrtkosten für die Klägerin aufgrund der dauerhaften Unterbringung des Ehemanns im Maßregelvollzug die einzige Möglichkeit sind, das in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben – zumindest annährend – zu erhalten bzw. die bereits langjährig bestehende Ehe fortzuführen. Grundsätzlich garantiert Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des ehelichen Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Vorliegend liegt aufgrund der richterlich angeordneten Unterbringung des Ehemanns im Maßregelvollzug bereits ein gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG vor. Da derzeit ein eheliches Zusammenleben nur eingeschränkt durch Besuche der Klägerin am Aufenthaltsort des Ehemanns möglich sind, berührt die Entscheidung über eine Gewährung von Sonderbedarfen zur Realisierung dieser Besuchskontakte den Schutzbereich ihres Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG.

Grundsätzlich hat der Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber, auf welche Weise er den aus Art. 6 Abs. 1 GG zu gewährleisteten Schutz der Ehe nachkommt, einen weiten Gestaltungsspielraum. Aus Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip lassen sich grundsätzlich konkrete Ansprüche auf staatliche Leistungen nicht herleiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010, Az.: 1 BvL 14/09, BVerfGE 127, Seite 263-292 RN 39). Dieser Gestaltungsspielraum ist jedoch im Fall der Klägerin aufgrund des staatlichen Eingriffs in den Schutzbereich ihres Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 GG eingeschränkt. Da das Nichtbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne einer Haushaltsgemeinschaft nicht auf einer autonomen Entscheidung der Ehepartner zurückzuführen ist, ist es nach Auffassung des Senats verfassungsrechtlich geboten, im vorliegenden Fall von § 21 Abs. 6 SGB II Gebrauch zu machen und Mehrbedarfsleistungen zu gewähren. Denn die Härtefallklausel wurde gerade für Fälle wie den vorliegenden aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG in das SGB II aufgenommen. Dieses hatte entschieden, dass die menschenwürdige Existenz gefährdet ist, wenn ein SGB II-Leistungsberechtigter in bestimmten Situationen allein auf die Regelleistung verwiesen wird, und er damit nicht in der Lage ist, einen weiteren anerkannten zwingenden Bedarf zu decken (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2014, Az.: B 4 AS 4/14 R, juris RN 22 unter Verweis auf BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., juris RN 207 f.).

Demgegenüber verfangen die Argumente des Beklagten zur Begründung seiner Berufung nicht. Der Senat teilt nicht die Auffassung, die Ehe der Klägerin sei aufgrund des staatlichen Eingriffs in das nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte eheliche Zusammenleben, nicht mehr in gleicher Weise förderungs- und schutzwürdig wie Ehen, in denen die Ehepartner zusammenleben. Insbesondere rechtfertigt auch der Umstand, dass die Klägerin bislang auch ohne zusätzliche SGB II-Leistungen in der Lage war, regelmäßige Fahrten zum Ehemann zu finanzieren, keine Versagung des bestehenden Leistungsanspruchs. Der Senat hält es – entgegen der Auffassung des Beklagten – für unzumutbar, die Klägerin zur Senkung der Kosten auf einen Besuchskontakt im Monat und im Übrigen auf telefonische Kontakte zu verweisen.

Das SG hat daher den Beklagten zu Recht gemäß § 21 Abs. 6 SGB II zur Gewährung von weiteren Mehrbedarfsleistungen in der beantragten Höhe (41,06 EUR monatlich) im streitbefangenen Zeitraum von März bis August 2013 verurteilt und den dem entgegenstehenden Bescheid vom 22. Februar 2013 und den Widerspruchsbescheid vom 5. April 2013 geändert. Zusätzlich war der erst im Berufungsverfahren von dem Beklagten erlassene Änderungsbescheid vom 26. Mai 2015, mit dem dieser das sozialgerichtliche Urteil teilweise – im Hinblick auf die KdU-Leistungen – umgesetzt hat, abzuändern. Denn er steht wegen der Beschränkung der zuerkannten Regelleistung auf insgesamt 394,00 EUR (382,00 EUR und 12,00 EUR) der Gewährung von weiteren Mehrbedarfsleistungen entgegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die grundsätzlichen Rechtsfragen des § 21 Abs. 6 SGB II sind durch das BSG bereits geklärt. Zudem handelt es sich bei diesem Mehrbedarf bereits nach der gesetzlichen Formulierung um Einzelfallentscheidungen.
Rechtskraft
Aus
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