L 2 SO 1902/16 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 22 SO 1719/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1902/16 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für die Frage, ob Personen, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII haben, ist bei der Prüfung, ob ein Anordnungsanspruch besteht, von der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 59/13 R) auszugehen.


L 2 SO 1902/16 ER-B

S 22 SO 1719/16 ER

Beschluss

Der 2. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart hat durch Beschluss vom 06.06.2016 für Recht erkannt:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts F. vom 29. April 2016 aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 20. April 2016 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids in dem Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 8. April 2016 - längstens bis 31. Juli 2016 - Leistungen der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe von monatlich 653,20 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Auf die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe im Beschluss des Sozialgerichts F. vom 29. April 2016 wird dem Antragsteller Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung für das Antragsverfahren vor dem Sozialgericht F. bewilligt und Rechtsanwalt F., F., beigeordnet. Die Antragsgegnerin trägt vier Fünftel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwalt F., F., beigeordnet.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und in der Sache auch zum Teil begründet. Im Rahmen der vom Senat vorzunehmenden Folgenabwägung sind dem Antragsteller Leistungen der Sozialhilfe in Höhe von 80% des Regelsatzes nach Regelbedarfsstufe I nach dem SGB XII und seine tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens gegen den Ablehnungsbescheid vom 8. April 2016 - längstens bis 31. Juli 2016 - vorläufig zu gewähren.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bildet das Begehren des Antragstellers auf vorläufige Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in Höhe des für ihn maßgeblichen Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe I (derzeit monatlich 404,00 EUR) für die Zeit ab Antragstellung am 20. April 2016 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, nachdem die Antragsgegnerin den entsprechenden Leistungsantrag mit Bescheid vom 8. April 2016, der Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens und damit nicht für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG) geworden ist, abgelehnt hat. Geltend gemacht sind auch die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 330,00 EUR (vgl. dazu § 35 SGB XII).

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).

Vorliegend kommt, wie das SG zutreffend erkannt hat, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NVwZ 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803). Wird im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt, ist die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, weil etwa eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden unter Berücksichtigung insbesondere der grundrechtlichen Belange der Antragsteller. Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rn. 42).

Der Senat vermag im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu entscheiden, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe dem Antragsteller ein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach Maßgabe des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zusteht.

Es spricht viel dafür, dass der Antragsteller nicht nach § 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen ist (vgl. dazu Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -; Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -). Zwar dürfte der Antragsteller zum Kreis der Leistungsberechtigten im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gehören. Er ist 1952 geboren (vgl. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 7a SGB II), erwerbsfähig (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II), nämlich in F., wo er auch eine Wohnung angemietet hat. Schließlich hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass er über kein eigenes zu berücksichtigendes Einkommen (§§ 11 ff. SGB II) und zu berücksichtigendes Vermögen (§ 12 SGB II) verfügt, er mithin hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II ist. Er bezog vom 2. September 2013 bis 30. Dezember 2015 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Diese Leistungen wurden ihm aber zuletzt mit Bescheid vom 24. März 2016 vom Jobcenter F. mit Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II abgelehnt. Allerdings spricht nach derzeitigem Sachstand viel dafür, dass ein Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist. Danach sind vom grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis diejenigen Ausländer ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 20156 a.a.O.). Denn der Antragsteller dürfte nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, nachdem er seinen Angaben zufolge lediglich vom 15. Juli bis 30. September 2013 eine geringfügige, nicht versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat. Er verfügt ferner nicht über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel (vgl. § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU) und auch über kein Daueraufenthaltsrecht (vgl.§ 4a Freizügigkeitsgesetz/EU).

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II stellt sich auch als europarechts- und verfassungskonform dar (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, a.a.O.).

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 3. Dezember 2015 und 20. Januar 2016, a.a.O.) kann der Antragsteller jedoch einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII haben. Nach dieser Rechtsprechung, die eine Kontroverse ausgelöst hat (vgl. dazu Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Mai 2016 - L 7 SO 1150/16 ER-B) ist ein Anspruch auf Sozialhilfe zwar nach § 21 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen; jedoch können in einem solchen Fall nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Dabei ist das Ermessen des Sozialhilfeträgers nach der Rechtsprechung des BSG aus verfassungsrechtlichen Gründen dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt auf Null reduziert, wenn sich das Aufenthaltsrecht des ausgeschlossenen Ausländers verfestigt hat, regelmäßig ab einem sechsmonatigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist weiterhin der Auffassung, dass der Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt im Sozialhilferecht weder nach dem Grund der Einreise noch nach Berechtigung oder Dauer des Aufenthalts fragt und es bei der Leistungsgewährung nach dem SGB XII in erster Linie auf die Tatsache einer gegenwärtigen Hilfebedürftigkeit ankommt. Der Umstand, dass es in Fällen wie dem vorliegenden an einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung oder einem anderen materiellen Aufenthaltsrecht fehlt, rechtfertigt es nach der Rechtsprechung des BSG im Hinblick auf den durch ein Vollzugsdefizit des Ausländerrechts nach Ablauf von regelmäßig sechs Monaten faktisch verfestigten tatsächlichen Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland und unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, die Entscheidung über die Gewährung existenzsichernder Leistungen dem Grunde und der Höhe nach in das Ermessen des Sozialhilfeträgers zu stellen. Nur unter besonderen tatsächlichen Umständen ist es nach dieser Rechtsprechung zulässig, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung trotz des Zeitablaufs abzusehen. Derartige Umstände können insbesondere vorliegen, wenn die tatsächlichen Lebensumstände des Unionsbürgers darauf schließen lassen, dass er nicht auf Dauer im Inland verweilen wird. Gleiches gilt, wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hat.

Die Einwendungen der Antragsgegnerin gegen die angeführte Rechtsprechung des BSG sind jedenfalls im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch des Antragstellers zu verneinen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen (so auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Mai 2016, a.a.O.). Der Antragsteller hält sich seit Juli 2013 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dass von Seiten der Ausländerbehörde konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet worden sind, hat die Antragsgegnerin nicht vorgetragen.

Bei der anzustellenden Folgenabwägung sind grundrechtliche Belange des Antragstellers mit in die Abwägung einzubeziehen. Zu beachten ist, dass die begehrten Leistungen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, was bereits nach dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland Pflicht des Staates ist (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG; BVerfG, NVwZ 2005, 927). Auf Seiten des Sozialhilfeträgers ist das Interesse zu beachten, dass nun gewährte Leistungen angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers voraussichtlich nicht erstattet werden können, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellen sollte, dass ein Anspruch tatsächlich nicht bestanden hat. Dem Antragsteller seinerseits würden für einen nicht absehbaren Zeitraum die Leistungen vorenthalten, die er zur Aufrechterhaltung seines Existenzminimums und damit für ein der Menschenwürde entsprechendes Leben benötigt. Er kann dabei nicht auf mildtätige Sachleistungen caritativer Organisationen verwiesen werden. Die damit verbundenen Einschränkungen während des Zeitraumes ohne existenzsichernde Leistungen sind auch im Falle einer Nachzahlung bei Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen. In Abwägung dieser Interessen erscheint es dem Senat angemessen, dass dem Antragsteller Sozialhilfeleistung in Höhe von 80% des für ihn maßgeblichen Regelsatzes (80% x 404,00 EUR = 323,20 EUR) und die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 330,00 EUR gewährt werden; für eine Unangemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung (vgl. § 35 Abs. 2 SGB XII) gibt es keine Anhaltspunkte. Weiterhin begrenzt der Senat die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistungserbringung auf den Zeitraum der Antragstellung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens - wie vom Antragsteller auch beantragt - längstens bis zum 31. Juli 2016.

Dem Antragsteller war auch für das Antragsverfahren beim SG gemäß § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114, 115, 121 Abs. 2 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen und Rechtsanwalt F. beizuordnen, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, die Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG bzw. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO und berücksichtigt das Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen.

Dem Antragsteller ist für das Beschwerdeverfahren gemäß § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114, 115, 121 Abs. 2 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen und Rechtsanwalt F. beizuordnen, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, die Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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