L 31 AS 1158/16 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 167 AS 4706/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 1158/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Von einem verfestigten Aufenthalt in Deutschland kann auch nach Ablauf von 6 Monaten nicht ausgegangen werden, wenn der Antragsteller zu den Weihnachtsfeiertagen zu seinen Eltern eingereist ist und bereits einen Monat später Leistungen nach dem SGB II beantragt hat.
2. Ein Eingriff in die Menschenwürde in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip durch die Versagung von Leistungen in Deutschland auf Dauer kann vor dem Hintergrund der sicheren Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins in der gesamten EU nicht angenommen werden.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2016 aufgehoben. Die Beschwerde der Antragstellerin wird zurückgewiesen. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt M K, Fstraße , B, bewilligt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG ) des Antragsgegners ist begründet, da die Antragstellerin keinen Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) hat, da sie als EU Ausländerin (Bulgarin), die ihr Freizügigkeitsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiten kann, von Leistungen ausgeschlossen ist (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes unterfällt die Antragstellerin dem europarechtskonformen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (vgl. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes – EuGH - in der Rechtssache Dano vom 11. November 2014 C-333/13 und Alimanovic vom 15. September 2015 C-67/14). Denn sie kann ihr Freizügigkeitsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiten. Zu Unrecht hat das Sozialgericht angenommen, dass daneben ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU besteht, was in der Tat die Nichtanwendung des Leistungsausschlusses zur Folge gehabt hätte.

Da die 1993 geborene Antragstellerin das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, kann sich ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige nur dann ergeben, wenn sie als solche von ihren Verwandten – hier den Eltern – Unterhalt erhält (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU). Entgegen der Annahme des Sozialgerichts erhält die Antragstellerin aber keinen Unterhalt von ihren Eltern, da sie diese Unterhaltsleistungen im hier zu entscheidenden Verfahren gerade geltend macht. Soweit das Sozialgericht angenommen hat, die Zurverfügungstellung einer Wohngelegenheit in der Wohnung der Eltern der Antragstellerin stelle bereits eine Unterhaltsgewährung dar, da der Antragsgegner im Hinblick auf den Aufenthalt der Antragstellerin in dieser Wohnung nur 2/3 der Unterkunftskosten den Eltern bewilligt hat, folgt der Senat dieser Rechtsauffassung ausdrücklich nicht. Denn es wird allein durch das vorliegende Verfahren deutlich, dass es sich bei der Unterkunftsgewährung gerade nicht um eine Unterhaltsleistung der Eltern handeln soll, da die Kosten der Unterkunft im hiesigen Verfahren gerade geltend gemacht werden. Es schließt sich aus, einerseits geltend zu machen, man erhalte Unterhaltsleistungen von dritter Seite und diese andererseits im vorliegenden Verfahren gegen den Antragsgegner einzufordern, weil man bedürftig sei. Im Übrigen dürfte das Sozialgericht verkannt haben, dass bei Anerkennung der tatsächlichen Unterhaltsgewährung durch die Eltern auch die Bedürftigkeit der Antragstellerin im selben Umfang entfiele, so dass schon deshalb Leistungen nicht bewilligt werden könnten.

Soweit das Sozialgericht gemeint haben sollte, die tatsächliche Gewährung von Unterkunft bis zum Eintreten des Antragsgegners für gerade diesen Bedarf erfülle die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals Unterhaltsgewährung im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU, hält der Senat dies für nicht vertretbar. Das Regelungskonzept des § 3 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 4 des Freizügigkeitsgesetzes/EU zeigt überdeutlich, dass ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nur dann bestehen soll, wenn der Unterhalt der betreffenden Person durch die Verwandten gesichert ist. Vorliegend ist nicht einmal von einer anteiligen Sicherung auszugehen, da die Antragstellerin sämtliche Kosten des Regelbedarfs und der Kosten der Unterkunft im vorliegenden Verfahren geltend macht.

Die Antragstellerin hat auch nicht bereits deshalb Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, weil sie nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gehört, da sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Zwar verkennt der Senat nicht, dass (minderjährige) Kinder von SGB II Beziehern, die als EU Ausländer nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sind, nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II im Regelfall einen Anspruch auf Leistungen haben. Dies ergibt sich aber lediglich daraus, dass diese Personen sich bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres auf ein vom gerade nicht ausgeschlossenen EU Ausländer abgeleitetes Freizügigkeitsrecht berufen können (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU). Leitet sich das Freizügigkeitsrecht allein von dem EU Ausländer ab, der nicht vom Leistungsausschluss betroffen ist, so macht es Sinn, seine sich auf dieses abgeleitete Freizügigkeitsrecht berufenden Familienangehörigen entsprechend zu behandeln.

Anders liegt der Fall hier. Denn die Antragstellerin kann sich gerade nicht auf ein von ihren nicht ausgeschlossenen Eltern abgeleitetes Freizügigkeitsrecht berufen, da sie das 21. Lebensjahr vollendet hat und keinen Unterhalt von ihnen erhält.

Daraus folgt, dass die Antragstellerin sich allein auf das Freizügigkeitsrecht zum Zweck der Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 a Freizügigkeitsgesetz/EU berufen kann und daher, wie oben ausgeführt, von Leistungen ausgeschlossen ist.

Die Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II bewirkt auch nicht etwa, dass individuelle Leistungsausschlüsse im Hinblick auf die Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft nicht mehr zu prüfen wären. Für eine solche Rechtsauffassung gibt es im SGB II keinen Anhalt. Allein die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft ist nicht geeignet, wie auch immer geartete individuelle Umstände, die zum Leistungsausschluss führen können (wie z. B. Einkommensanrechnung, Sanktionen), rechtlich bedeutungslos werden zu lassen. Da vorliegend kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehörige besteht, das neben dem Freizügigkeitsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche zum Tragen käme, und so zur Nichtanwendung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II führen könnte, verbleibt es für die Antragstellerin beim Leistungsausschluss.

Die Antragstellerin hat auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII), so dass auch der Sozialhilfeträger im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht beizuladen war. Der Senat folgt den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (Urteile vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 59/13 R; B 4 AS 43/15 R, B 4 AS 44/15 R, vom 16. Dezember 2015 B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R und vom 20. Januar 2016 B 14 AS 15/15 R, B 14 AS 35/15 R) zur vorliegenden Problematik jedenfalls nicht in vollem Umfang.

Zum einen verneint der hier erkennende Senat einen verfestigten Aufenthalt der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland auch im Sinne der genannten BSG-Rechtsprechung, der zu einem Anspruch nach dem SGB XII führen könnte, zum anderen hält er die Rückkehr nach Bulgarien mit Inanspruchnahme des dortigen Sozialhilfesystems im Rahmen einer die Bedürftigkeit verhindernden Selbsthilfe für ohne weiteres zumutbar.

Zwar ist dem BSG darin zuzustimmen, dass es im SGB XII an einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage fehlt, die einen Verweis auf die Rückkehr in das Heimatland unter Inanspruchnahme dortiger Sozialhilfe enthält (z.B. Urteil vom 20. Januar 2016, B 14 AS 35/15 R, Rn. 42 zitiert nach juris). Es fehlt aber auch an einer (verfassungsrechtlichen) Vorschrift, die es dem Gesetzgeber oder dem mit dem Verwaltungsvollzug befassten Instanzen verwehrt, auf einen in der Sache erfolglosen Anspruchsteller mittelbaren Ausreisedruck auszuüben, jedenfalls dann, wenn die Ausreise in einen EU-Mitgliedsstaat erreicht werden soll, in dem ohne weiteres Verhältnisse herrschen, die mit dem in Art. 1 Grundgesetz (GG) manifestierten Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein kompatibel sind. Derartige Verhältnisse herrschen in allen EU-Mitgliedsstaaten, da ohne eine solche Gewährleistung kaum die Aufnahme in die EU erfolgt wäre. Ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) kann vor dem europarechtlichen Hintergrund der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins in der gesamten EU nicht angenommen werden. Daran gemessen hat auch der in sich schlüssige Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. dem Erwerbsunfähigkeit voraussetzenden Anspruch nach dem SGB XII Bestand. Die Rechtsprechung des BSG überzeugt deshalb nicht, weil sie am Anfang der einfachgesetzlichen Prüfung bereits einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Versorgung auf Dauer postuliert. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11) vermittelt zur hier vorliegenden Problematik keine weiteren Erkenntnisse, da die Situation von Asylbewerbern und EU-Bürgern in keiner Weise vergleichbar ist. Die allermeisten Asylbewerber sind nämlich nicht in der Lage, in einen Staat zurückzukehren, der ein menschenwürdiges Dasein i.S. des in der EU geltenden Rechts gewährleistet.

Von einem verfestigten Aufenthalt i.S. der o.g. BSG-Rechtsprechung kann nicht ausgegangen werden, da die Antragstellerin nach eigener Angabe erst am 21. Dezember 2015 nach Deutschland eingereist ist. Weder besucht sie hier eine Schule noch hat sie eine Arbeitsstelle gefunden oder sonstige wirtschaftliche oder soziale Verbindungen geknüpft, die in irgendeiner Weise schützenswert erscheinen könnten. Solche sind weder vorgetragen noch ersichtlich. In diesem Zusammenhang ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU das Zusammenleben mit den Eltern nach dem 21. Lebensjahr ohne Unterhaltsleistung gerade nicht privilegiert. Dies ist auch im Rahmen der vom Bundessozialgericht kreierten Rechtsfigur des verfestigten Aufenthalts zu berücksichtigen. Hier wurde der Antrag auf Leistungen am 21. Januar 2016, also etwa einen Monat nach der Einreise, die zur Feier des Geburtstags am 23. Dezember und zur Begehung des anschließenden Weihnachtsfests erfolgt sein dürfte, gestellt. Von einer irgendwie gearteten Verfestigung ist daher auch im Sinne der o.g. BSG-Rechtsprechung nicht auszugehen.

Eine Ermessensreduzierung auf null kam erst recht nicht in Betracht, da das BSG dem Senat im zurück verwiesenen Berufungsverfahren zur Revisionssache B 14 AS 15/15 R (nicht veröffentlicht, siehe Terminsbericht vom 20. Januar 2016) Feststellungen zur Ermessensreduzierung aufgegeben hat, obwohl der dortige Kläger sich seit etwa 2 Jahren in der Bundesrepublik aufhielt. Soweit die Antragstellerin nun Anspruch auf diese Ermessensleistungen geltend machen will, steht es ihr frei, beim SGB XII-Träger einen entsprechenden Antrag zu stellen. Der Senat könnte sein Ermessen ohnehin nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen, sondern nur deren Entscheidung auf Ermessensfehler prüfen. Eine Beiladung war –auch wegen der eindeutigen Rechtslage- im einstweiligen Rechtsschutzverfahren deshalb verzichtbar.

Der Senat kann - anders als das Bundessozialgericht - auch nicht erkennen, dass im Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und nach dem SGB XII ein Eingriff in den Regelungsbereich des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz i. V. m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz gegeben ist (siehe bereits oben). Dies gilt auch hier. Denn vorliegend kann die Antragstellerin zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit in Deutschland ohne weiteres auf die Inanspruchnahme des Sozialleistungssystems in Bulgarien, und zwar in dortiger Ausprägung, verwiesen werden. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Hilfe Dritter als vorrangig vor der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in Deutschland angesehen werden muss, wenn diese Hilfe Dritter nicht rein freiwillig, sondern durch einen Anspruch begründet ist (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11 Rn. 65). Selbst das BSG räumt ein, dass aus dem Nachranggrundsatz (§ 2 Abs. 1 SGB XII) in (extremen) Ausnahmefällen ein Leistungsausschluss ohne Bezugnahme auf eine andere konkrete Norm abgeleitet werden kann (BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 B14 AS 15/15 R Rn. 32 zitiert nach juris). Der Senat sieht diese Voraussetzungen –wohl anders als das BSG- jedenfalls als gegeben an, wenn ein offensichtlich nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossener EU-Ausländer kurz nach der Einreise Ermessensleistungen nach dem SGB XII geltend macht.

Vorliegend steht daher im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes für den Senat fest, dass die Antragstellerin ohne weiteres das bulgarische Sozialleistungssystem in der dortigen Ausprägung in Anspruch nahmen kann, auch wenn dieses möglicherweise nicht Leistungen in einem Umfang zur Verfügung stellt, wie dies in der Bundesrepublik der Fall ist. Das deutsche Sozialleistungssystem steht nicht als "Ausfallbürge" für EU Ausländer zur Verfügung, die meinen, ihr dortiges Sozialleistungssystem sei nicht ausreichend. Das Freizügigkeitsgesetz/EU regelt gerade kein Aufenthaltsrecht zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen, sondern das Gegenteil.

Die Beschwerde der Antragstellerin war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war schon deshalb zu bewilligen, da die Antragstellerin im erstinstanzlichen Verfahren obsiegt hat (§ 73 a SGG i. V. m. § 119 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung – ZPO ).

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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