S 16 KA 658/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
16
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 16 KA 658/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Teilt eine Krankenkasse dem Vertragsarzt schriftlich und unter Bezugnahme auf eine konkrete Heilmittelverordnung für einen individuellen Patienten mit, dass sie die Therapiekosten auch außerhalb des Regelfalls übernehmen werde, ohne dass der Vertragsarzt hierfür bei einer evtl. Wirtschaftlichkeitsprüfung in Regress genommen werde, setzt er einen Vertrauenstatbestand. An diesen ist der Beschwerdeausschuss im Fall einer Richtgrößenprüfung gebunden. Er darf die betreffenden Verordnungskosten in die Berechnung einer evtl. Richtgrößenüberschreitungssumme nicht einbeziehen.
Der Bescheid des Beklagten vom 14.11.2013 auf den Beschluss vom 28.08.2013 wird aufgehoben.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten in diesem und drei weiteren Verfahren über die Berechtigung der Festsetzung einer individuellen Beratung gegenüber der Klägerin durch den Beklagten, vorliegend im Rahmen einer Heilmittel-Richtgrößenprüfung für das Jahr 2010.

Die Klägerin ist seit dem 03.01.2005 als Internistin in A-Stadt in einer Einzelpraxis niedergelassen und nimmt seitdem als hausärztlich tätige Internistin an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Praxis werde durch die Beigeladene zu 1) der Gruppe der (vollzugelassenen Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten) zugeordnet.

Im Jahr 2010 wies ihre Praxis eine Fallzahl von 3.676 auf, was seinerzeit einer im Verhältnis zur vorgenannten Vergleichsgruppe/Fachgruppe einer unterdurchschnittlichen Fallzahl entsprach. In der Fachgruppe waren in Hessen im Jahre 2010 (von Quartal zu Quartal schwankend) zwischen 2.832 und 2.880 Praxen tätig (mit zwischen 3.814,54 und 3.836,58 Ärzten).

Mit Schreiben vom 01.08.2012 teilte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Hessen (im Folgenden: Prüfungsstelle) der Klägerin die Eröffnung eines Verfahrens wegen Überschreitung der Richtgrößenvolumina für Heilmittel im Jahr 2010 mit. Bei der Klägerin liege eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens im Umfang von 35,85 % vor. Sie forderte die Klägerin zur substantiierten Stellungnahme auf.

Unter anderem mit Schreiben vom 11.09.2012 äußerte sich die Klägerin gegenüber der Prüfungsstelle. Sie wies hierbei unter anderem in Bezug auf bestimmte Patienten auf erfolgte Vorabgenehmigungen durch die Krankenkassen hin. Weiterhin vertrat sie im Hinblick auf einzelnen Patienten die Auffassung, dass Praxisbesonderheiten anzuerkennen seien.

Mit Bescheid vom 03.12.2012 setzte die Prüfungsstelle daraufhin eine individuelle Beratung gegenüber der Klägerin fest.

Im Rahmen ihrer Begründung erläuterte sie die Berechnung des Verordnungsvolumens der Klägerin sowie die Anerkennung von Praxisbesonderheiten und gelangte zum Ergebnis einer Richtgrößenüberschreitung im Umfang von 26,48 %. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte (Bl. 142 ff.) verwiesen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 02.01.2013 Widerspruch.

Zu dessen Begründung beklagte sie die fehlerhafte Anwendung der zwischen den Vertragspartnern am 12.06.2008 getroffenen Ergänzungsvereinbarung. Die Erkrankungen der Multiplen Sklerose und Parkinson seien unzureichend berücksichtigt worden. Die Prüfungsstelle führte einzelne Patienten und die in Bezug auf sie entstandenen Verordnungskosten an. Außerdem greife die Prüfungsstelle unrechtmäßig in die Grundrechte der Klägerin ein.

Am 02.02.2009 hatten auch die Verbände der Krankenkassen Widerspruch gegen den oben genannten Bescheid der Prüfungsstelle erhoben, den sie sodann am 06.07.2010 wieder zurücknahmen.

Mit Beschluss vom 20.03.2013 bot der Beklagte eine einvernehmliche Regelung an, die diese aber nicht annahm.

Nach persönlicher Anhörung der Klägerin wies der Beklagte mit Beschluss vom 28.08.2013 den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Begründung erfolgte mit Bescheid vom 14.11.2013.

Hierbei führte der Beklagte im Wesentlichen Folgendes aus:

Für die Klägerin ergebe sich für das Jahr 2010 ein (gegenüber den Berechnungen der Prüfungsstelle bereinigtes) Richtgrößenvolumen in Bezug auf Heilmittelverordnungen in Höhe von 28.385,14 Euro, was näher erläutert wird. Dieses sei durch das tatsächliche Verordnungsvolumen der Klägerin im Umfang von um 27.762,64 Euro überschritten worden. Unter Berücksichtigung der von der Prüfungsstelle bereits anerkannten Praxisbesonderheiten im Umfang von 20.245,71 Euro, die auch der Beklagte seiner Beurteilung zugrunde legte, verbleibe eine Richtgrößenüberschreitung von 7.516,93 Euro, was 26,48 % entspreche. Weitere anzuerkennende Praxisbesonderheiten habe der Beklagte aber auch nach umfassender Bewertung des vorliegenden Sachverhalts nicht feststellen können.

Hiergegen hat die Klägerin am 13.12.2013 Klage erhoben.

Zu deren Begründung trägt sie umfangreich vor, wobei die Begründungen in diesem und den Parallelverfahren S 16 KA 656/13, S 16 KA 657/13 und S 16 KA 659/13 sich teilweise überschneiden und teilweise miteinander verschwimmen.

Die Verordnungskosten für den Patienten C., seien vom Beklagten nicht anerkannt worden, obwohl vor Ausstellung der Verordnungen eine Genehmigung durch die Krankenkasse, die IKK Baden-Württemberg und Hessen, eingeholt worden sei. Damit liege nach Ansicht der Klägerin eine unbefristete Wirtschaftlichkeitserklärung der Krankenkasse mit regressbefreiender Wirkung vor.

Weiterhin seien die mit der Diagnose G 70.0 (Myasthenia gravis) in Zusammenhang stehenden Heilmittelverordnungen als Praxisbesonderheit anzuerkennen, was den Patienten E. betreffe. Ebenso seien Praxisbesonderheiten im Hinblick auf die Patientin F. anzuerkennen. Zudem seien, wie bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragen wurde, alle Verlaufsformen der Multiplen Sklerose anzuerkennen. Zu diesen Praxisbesonderheiten trägt die Klägerin im Einzelnen breit vor.

Auch rügt sie die Verletzung von Amtsermittlungspflichten. Der Beklagte hätte bereits von Amts wegen Praxisbesonderheiten erkennen und in der Folge anerkennen müssen, was näher ausgeführt wird.

Außerdem meint sie, den Vertragspartnern hätte nicht das Recht zugestanden, ihre Vereinbarungen im Hinblick auf Richtgrößenprüfungen rückwirkend anzuwenden. Stattdessen hätte der Beklagte den später geschaffenen bundeseinheitlichen Katalog anwenden müssen, was näher erläutert wird.

Zudem seien die Patientenzuzahlungen nicht in ausreichendem Umfang vom Verordnungsvolumen abgezogen worden, was näher dargelegt wird.

Schließlich seien die Richtgrößen fehlerhaft ermittelt, weil sie nicht altersmäßig gegliedert seien.

Letztlich sieht sich die Klägerin, wie bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragen, in ihren Grundrechten verletzt.

Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Beklagten vom 28.08.2013 für das Prüfungsjahr 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er vertieft und verbreitert die Begründung aus dem angefochtenen Bescheid

Seine Amtsermittlungspflichten habe er ebenso zutreffend ausgeübt, wie er die Rechtsvorschiften und die Vereinbarungen der Vertragspartner korrekt ausgeübt habe. Die Richtgrößen seien zutreffend ermittelt und Patientenzuzahlungen seien rechtskonform berücksichtigt worden. Andere Praxisbesonderheiten, als die von ihm anerkannten, kämen nicht in Betracht.

Es handele sich bei den Diagnosen von Herrn C. nicht um solche, die in der Ergänzungsvereinbarung genannt sind. An Schreiben der IKK Baden-Württemberg und Hessen fühle er sich nicht gebunden.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Behördenvorgänge sowie der Gerichtsakten. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat gem. § 12 Abs. 3 Satz 1 SGG in der Besetzung mit je einem Vertreter der Vertragsärzte und Psychotherapeuten sowie der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt.

Die Entscheidung konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen und gem. § 110 Abs. 1 SGG auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt worden, auch ist das Sozialgericht Marburg zuständig.

Die Klage ist auch begründet. Denn der Bescheid des Beklagten vom 14.11.2013 auf den Beschluss vom 28.08.2013 hin ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Beklagten, gegenüber der Klägerin eine individuelle Beratung festzusetzen, ist § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V in der Fassung vom 19.10.2012, der wortgleich mit der aktuellen Fassung ist. Diese Rechtsgrundlage trägt aber die Entscheidung des Beklagten nicht.

Nach § 84 Abs. 6 i.V.m. Abs. 8 SGB V (in der Fassung vom 22.12.2011, die wortgleich mit der aktuellen Fassung ist) vereinbaren die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung bis zum 15. November für das jeweils folgende Kalenderjahr zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung für das auf das Kalenderjahr bezogene Volumen der je Arzt verordneten Leistungen nach § 31 SGB V (Richtgrößenvolumen) arztgruppenspezifische fallbezogene Richtgrößen als Durchschnittswerte unter Berücksichtigung der nach Abs. 1 der Vorschrift getroffenen Heilmittelvereinbarung. Zusätzlich sollen die Vertragspartner die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten bestimmen. Diese Richtgrößen leiten den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Leistungen nach § 31 nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot.

Die Überschreitung des Richtgrößenvolumens löst nach § 84 Abs. 6 Satz 4 i.V.m. Abs. 8 SGB V eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 Abs. 5a SGB V, zunächst durch die Prüfungsstelle und ggf. nach Anrufung des Beschwerdeausschuss durch den Beklagten aus. Hiermit korrespondierend bestimmt § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V, dass die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung (unter anderem) durch eine arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumina nach § 84 (Auffälligkeitsprüfung) erfolgt.

In § 106 Abs. 1 bis 7 SGB V sind die einzelnen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Wirtschaftlichkeitsprüfung benannt. Insbesondere gilt nach Abs. 5a Satz 3, dass der Vertragsarzt bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25% nach Feststellung durch die Prüfungsstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten hat, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Nach Abs. 5e Satz 1 gilt jedoch hiervon abweichend, dass bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % zunächst eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1 festzusetzen ist.

Die genannten Vertragspartner bestimmen weiterhin in Vereinbarungen gem. § 106 Abs. 3, Abs. 5a Satz 5 SGB V die Maßstäbe zur Prüfung der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten.

Dies ist vorliegend geschehen.

Die in § 106 Abs. 1 SGB V gennannten Vertragspartner haben am 12.06.2008 für die Zeit ab dem 01.01.2008 die Prüfvereinbarung gem. § 106 Abs. 3 SGB V geschlossen. Einzelheiten der Prüfung nach Richtgrößen werden in Anlage 4, für die Heilmittel-Richtgrößen in Anlage 4/I geregelt. Für das Prüfjahr 2010 findet die Prüfvereinbarung vom 19.12.2006 Anwendung. Nach deren § 3 werden die hessischen Vertragsärzte durch die Kassenärztliche Vereinigung Hessen unverzüglich nach Abschluss dieser Vereinbarung und jeweils vor dem Wirksamwerden etwaiger Änderungen über Höhe und Wirkung der Richtgrößen informiert.

Auf dieser Grundlage ist für das Jahr 2010 bei der Fachgruppe der Allgemeinmediziner/hausärztlich tätigen Internisten eine Heilmittel-Richtgröße von 4,56 Euro für Mitglieder und Familienmitglieder und von 12,85 Euro für Rentner vorgesehen und in info.pharm Nr. 1 – April – 2010 veröffentlicht worden.

Unbedenklich ist die teilweise rückwirkende Anwendung der hier relevanten Richtgrößen. Zwar ist eine solche Rückwirkung nur ausnahmsweise zulässig (vgl. etwa BSG, Urteil vom 23.03.2011 – B 6 KA 9/10 R). Vorliegend bestehen diesbezüglich aber keine Bedenken, weil die angewandten Richtgrößen des Jahres 2009 günstiger für den Kläger sind, als die vorherigen des Jahres 2009 (6,19% höher, vgl. info.pharm Nr. 1 – April – 2010, Seite 5).

Unbedenklich ist weiterhin, in welcher zweifelhaften Ausprägung die Vertragspartner die Vorgabe des § 84 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. Abs. 8 SGB V befolgen, die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten zu bestimmen. Das Bundesozialgericht hat entsprechende Bedenken mit der Begründung verworfen, dies sei hinzunehmen (BSG, Urteil vom 22.10.2014, B 6 KA 8/14 R; a.A.: SG Dresden, Urteil vom 11.12.2013, S 18 KA 31/10).

Die Festsetzung der individuellen Beratung war allerdings dennoch unzulässig, weil der Beklagte unzutreffend von einer Überschreitung im Umfang von über 25 % ausgegangen ist. Tatsächlich betrug die Überschreitung allenfalls 23,39 %.

Aus der Multiplikation der Fallzahlen der Klägerin mit den entsprechenden, vorgenannten Werten, ergibt sich ihr individueller Richtgrößenwert von 28.385,14 Euro. Die entsprechende Berechnung im Bescheid (Bl. 189 der Verwaltungsakte) sind nachvollziehbar und auch von der Klägerin rechnerisch nicht angegriffen. Ihr Verordnungsvolumen für Heilmittel im Jahr 2010 hingegen betrug 56.147,78 Euro und überschritt damit das Richtgrößenvolumen um 27.762,64 Euro.

Der Beklagte hat, wie oben dargelegt, in Übereinstimmung mit der Prüfungsstelle, Praxisbesonderheit im Umfang von 20.245,71 Euro anerkannt, was die Überschreitung der Richtgrößen auf 7.516,93 Euro reduziert. Die entspricht einer Überschreitung der Richtgröße um 26,48 %.

Von dem vorgenannten Überschreitungsbetrag sind allerdings noch die Verordnungskosten im Bereich Heilmittel für den Patienten C. im Umfang von 878,60 Euro abzuziehen.

Die IKK Baden-Württemberg und Hessen schrieb der Klägerin unter dem 19.02.2009 mit dem Betreff "Heilmittelverordnung außerhalb des Regelbedarfs für C., *1995" folgenden Text: "Guten Tag, sehr geehrte Frau Dr. A.,

wir können Ihnen mitteilen, dass wir im Rahmen einer Einzelfallentscheidung die Kosten für die erforderliche Ergotherapie mit Hausbesuch auch außerhalb des Regelfalls bei C. übernehmen, ohne dass Sie hierfür bei einer evtl. Wirtschaftlichkeitsprüfung in Regreß genommen werden.

Wir weisen aber darauf hin, dass es sich um eine reine Einzelfallentscheidung handelt, aus der keine Allgemeinverbindlichkeit für ähnlich gelagerte Fälle abgeleitet werden kann.

Sollten Sie noch Fragen haben, rufen sie uns an. Wir sind gerne für Sie da." (Kursivstellung durch die Kammer, Originaltext auf Bl. 23 der Gerichtsakte).

Der Beklagten war aufgrund dieses Schreibens versperrt, die Verordnungskosten für Herrn C. zur Begründung unwirtschaftlicher Verordnungsweise in die Richtgrößenüberschreitungssumme hinzuzurechnen. Die Krankenkasse hat mit ihrer Aussage einen Vertrauenstatbestand gesetzt, an den der Beklagte im vorliegenden Fall aufgrund seiner Genese und der konkreten Formulierung durch die Krankenkasse gebunden ist.

In der Rechtsprechung ist im Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfungen die Setzung von Vertrauenstatbeständen gegenüber dem Vertragsarzt grundsätzlich anerkannt (vgl. etwa BSG, Urteil vom 20.03.2013, B 6 KA 27/12 R und Beschluss vom 14.12.2011, B 6 KA 57/11 B). Voraussetzung ist allerdings einerseits eine auf verbindliche Festlegung zielende behördliche Äußerung des Entscheidungs- bzw. Kostenträgers, explizit die für die vom betroffenen Arzt praktizierte oder beabsichtigte Verordnungsweise zu billigen und andererseits die Fortsetzung oder Aufnahme der Verordnungsweise durch den Arzt in Kenntnis dieser Auskunft. Beides ist vorliegend ersichtlich der Fall.

Ob das Verhalten der Krankenkasse indes rechtmäßig ist, mithin die Frage, ob die IKK Baden-Württemberg und Hessen überhaupt Heilmittelverordnungen innerhalb des Regelfalls genehmigen darf (vgl. hierzu § 30 Abs. 4 Bundesmantelvertrag – Ärzte (BM-Ä)) kann nach Rechtsauffassung der Kammer ebenso dahinstehen, wie die Rechtsnatur des Schreibens vom 19.02.2009. Denn im Gegensatz zur Einräumung einer normierten Rechtsposition, etwa durch Verwaltungsakt, entspricht es gerade dem Wesen des Vertrauenstatbestands, dass dem Begünstigten wegen dem Rechtsschein eine normabweichende Position zugebilligt wird.

Aufgrund seiner Genese muss sich auch der Beklagte an diesem Vertrauenstatbestand, den ein vermeintlich Dritter gesetzt hat, festhalten lassen, ohne dass die Klägerin auf das Staatshaftungsrecht gegenüber der Krankenkassen zu verweisen wäre.

Die Existenz des Beklagten geht nämlich zurück auf § 106 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Die in Absatz 2 Satz 4 genannten Vertragspartner, also die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen sowie die Kassenärztliche Vereinigung bilden bei der Kassenärztlichen Vereinigung oder bei einem der Landesverbände einen gemeinsamen Beschwerdeausschuss. Der Beschwerdeausschuss besteht aus Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen in gleicher Zahl sowie einem unparteiischen Vorsitzenden, vgl. § 106 Abs. 4 Satz 2 SGB V. Die Kosten der Prüfungsstelle und des Beschwerdeausschusses tragen die Kassenärztliche Vereinigung und die beteiligten Krankenkassen je zur Hälfte, vgl. § 106 Abs. 4 Satz 7 SGB V.

Bei der Richtgrößenprüfung führt die Überschreitung dieser Größe in einem bestimmten Umfang ohne Vorliegend von Praxisbesonderheiten (und vorbehaltlich einer vorherigen individuellen Beratung) zu einer Erstattung durch den Vertragsarzt gegenüber den Krankenkassen. Dies wird deutlich unter anderem in § 106 Abs. 5c Satz 1 SGB V (den den Krankenkassen zustehenden Betrag), Satz 6 ("Rückforderung" der Krankenkasse) und Abs. 5d Satz 2 ("Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten").

Wenn allerdings eine Krankenkasse, deren unberechtigte Aufwandssteigerung zu verhindern der Beklagte berufen ist, gegenüber einem Vertragsarzt im Hinblick auf eine konkrete Heilmitteltherapie eines Patienten erklärt, sie werde die Kosten hierfür übernehmen, sowie explizit, der Vertragsarzt werde bei einer eventuellen Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht in Regress genommen, entfällt für den Beklagten die Berechtigung diese konkreten Kosten noch als unwirtschaftlich einzuordnen.

Dabei übersieht die Kammer nicht, dass der Beschwerdeausschuss nach § 106 Abs. 4a Satz 1 SGB V sowie nach § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zur Geschäftsführung der Prüfungsstellen und der Beschwerdeausschüsse nach § 106c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Wirtschaftlichkeitsprüfungs-Verordnung - WiPrüfVO) vom 05.01.2004, (BGBl. I S. 29), zuletzt geändert am 16.07.2015 (BGBl. I S. 1211) seine Aufgaben eigenverantwortlich wahrnimmt.

Diesem Ergebnis steht auch nicht, wie der Beklagte meint, entgegen, dass die Diagnosen von Herrn C. nicht in der Ergänzungsvereinbarung genannt sind. Grund für die Nichtberücksichtigung dieser Verordnungen ist, wie dargelegt, die Setzung eines Vertrauenstatbestands statt normierten Praxisbesonderheiten.

Dem Ergebnis steht weiterhin nicht entgegen, dass das Schreiben der Krankenkasse aus dem Jahr 2009 stammt, während vorliegend die Richtgrößenprüfung 2010 streitgegenständlich ist. Die neben dem Vorsitzenden mit einer Vertragsärztin und einem approbierten Arzt besetzte Kammer ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nämlich davon überzeugt, dass es sich bei den Verordnungen im Jahr 2010 um die Fortsetzung der bereits im Jahr 2009 durchgeführten Therapie des Patienten handelt.

Die Überschreitung der Richtgröße um sodann lediglich 6.638,33 Euro stellt allerdings eine prozentuale Überschreitung von 23,39 % dar. Es fehlt an einer Rechtsgrundlage zur Festsetzung einer individuellen Beratung bei diesem Befund.

Es bedurfte angesichts dieses Befunds auch keiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine Verpflichtung zur Neubescheidung als Tenor in Betracht kommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
Saved