S 17 AS 2115/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
17
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 17 AS 2115/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens nach § 2 Abs. 3 Satu 1 AlG-II-VO für die vorläufige Bewilligung von Leistungen ist das zu erwartende Einkommen im Wege einer Prognose zu ermitteln. Wesentliche Veränderungen der zu er-wartenden Einkommenssituation sind dabei zu berücksichtigen.
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflich-tet, den Antragstellern vorläufig weitere Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 27.06.2016 bis zum 31.12.2016, längstens jedoch bis zur Bestandskraft der Entscheidungen des Antragsgegners vom 12.05.2016 in der Fassung der Bescheide vom 30.06.2016, unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens für den Antragsteller zu 1) in Höhe von 676,34 EUR zu bewilligen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. 2. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren höhere Leistungen nach dem SGB II.

Die Antragsteller beziehen ergänzende Leistungen nach dem SGB II von dem An-tragsgegner. Der Antragsteller zu 1) ist seit dem 01.04.2014 in der Gastronomie in B. im Tennisclub tätig. Die Antragstellerin zu 3) ist die minderjährige Tochter der An-tragsteller zu 1) und 2).

Mit Bescheiden vom 12.05.2016 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.12.2015 bis 31.08.2016. Dabei legte er ein Durchschnittseinkommen von monatlich 803,76 EUR bei dem Antragsteller zu 1) zugrunde. Dies errechnete sich aus den nachgewiesenen durchschnittlichen Bruttoeinkünften von Oktober 2015 bis März 2016 (10/15: 934,47 EUR; 11/15: 931,46 EUR; 12/15:934,47 EUR; 01/16: 686,45 EUR; 02/16: 649,24 EUR; 03/16: 686,45 EUR). Ab dem 27.04.2016 berücksichtigte der Antragsgegner keinen Bedarf für die Antragstellerin zu 3).

Hiergegen erhoben die Antragsteller am 03.06.2016 Widerspruch. Zur Begründung trugen sie vor, die Antragstellerin zu 3) verfüge auch über den 27.04.2016 hinaus über einen Aufenthaltstitel. Das Einkommen des Antragstellers zu 1) betrage seit dem 01.01.2016 durchschnittlich ca. 685,- EUR brutto. Die Abrechnungen seien mehr-fach vorgelegt.

Am 27.06.2016 haben die Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zum Sozialgericht Karlsruhe gestellt. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, bei dem Antragsteller zu 1) habe sich das monatliche Bruttoeinkommen zum 01.01.2016 reduziert. Er erhalte nur noch ein durchschnittliches Bruttogehalt in Höhe von 685,- EUR. Dies sei bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens zu berück-sichtigen. Die Differenz betrage (seit Mai 2016) monatlich 129,27 EUR. Die Antragstelle-rin zu 3) habe im Frühjahr einen Reisepass bekommen. Der Aufenthaltstitel liege mittlerweile vor. Daher ergäbe sich ein zusätzlicher monatlicher Bedarf in Höhe von 458,- EUR. Die von den Antragstellern bewohnte Wohnung werde mit einem Elektroboi-ler mit Warmwasser versorgt. Die Heizung werde mit Gas betrieben. Es bestehe ein zusätzlicher monatlicher Anspruch in Höhe von 18,64 EUR. Ferner bestünde ein höherer Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung. Die Wohnung, bei der die Kaltmie-te 550,- EUR betrage, sei angemessen, da die Antragstellerin zu 2) schwanger sei und im November entbinde. Die Differenz der Kaltmiete betrage 75,- EUR.

Mit Bescheiden vom 30.06.2016 setzte der Antragsgegner die Leistungen der An-tragsteller neu fest.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen wei-tere Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 681,01 EUR monatlich zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, mit Bescheiden vom 30.06.2016 seien die Leistungen aufgrund der eingereichten Unterlagen für den Zeitraum ab April 2016 neu festgesetzt worden. Der Antragsteller zu 1) habe schwankendes Einkommen, welches entsprechend § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung in den Bescheiden vom 12.05.2016 zulässigerweise und richtig berechnet worden sei. Insoweit sei keine Än-derung in den Bescheiden vom 30.06.2016 veranlasst gewesen. Ab 21.04.2016 sei ein Wohnraumbedarf für vier Personen und eine Kaltmiete in Höhe von 550,- EUR be-rücksichtigt worden. Der verlängerte Aufenthaltstitel der Antragstellerin zu 3) sei am 02.06.2016 eingereicht worden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie den der Gerichtsakte Bezug genommen.

I.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist im Hinblick auf die Berücksichtigung des schwankenden Einkommens des Antragstellers zu 1) begründet (dazu 2.a.). Im Übrigen teilweise unzulässig (dazu 1.) und teilweise unbegründet (dazu 2.b.).

1. Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf höheren monatlichen Bedarf für die Antragstellerin zu 3) sowie eines höheren Zuschusses zu der Kaltmiete ist der Antrag bereits unzulässig. Es fehlt für den Antrag im einstweiligen Rechtsschutz das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine allgemeine Sachurteilsvoraussetzung, die bei jeder Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung gegeben sein muss. Der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses bedeutet, dass nur derjenige, der mit dem von ihm ange-strengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung hat. Ein Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung fehlt u. a. in der Regel, wenn die gerichtliche Entscheidung nutzlos ist, d. h. dem Rechtsschutzsuchenden offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringt (Sächsisches LSG, B. v. 22.4.2013 - L 3 AS 1310712 B-PKH - juris).

So liegen die Dinge hier:

Mit Bescheiden vom 30.06.2016 ist der Antragsgegner den insoweit geltend gemach-ten Forderungen nachgekommen. Die Antragstellerin zu 3 ist in der Bedarfsberech-nung mitberücksichtigt. Ferner hat der Antragsgegner die Kaltmiete nunmehr in voller Höhe berücksichtigt.

2. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes könnte die Verwirklichung eines Rechts des Antragstel-lers vereitelt oder wesentlich erschwert werden. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhält-nis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Ein-zelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b, Rn. 28). Die Erfolgs-aussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftig-keit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu ma-chen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Da-bei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summari-schen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, B.v. 2.5.2005 - 1 BvR 569/05 - BVerfGE 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaub-haftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden An-forderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechts-schutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grund-rechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG, 25.7.1996 - 1 BvR 638/96 - NJW 1997, 479). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer men-schenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effek-tiven Rechtsschutz u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenab-wägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vor-zunehmen.

Nach diesem Maßstab haben die Antragsteller einen Anspruch auf vorläufige Bewilli-gung von höheren SGB-Leistungen, da die ablehnende Entscheidung des Antrags-gegners nach summarischer Prüfung teilweise rechtswidrig ist.

a. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Alg II-Verordnung (i.V.m. § 13 SGB II) kann, wenn bei lau-fenden Einnahmen im Bewilligungszeitraum zu erwarten ist, dass diese in unter-schiedlicher Höhe zufließen, ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde ge-legt werden.

Dem Antragsteller zu 1) fließt Einkommen in unterschiedlicher Höhe zu, so dass die Bildung eines Durchschnittseinkommens nach § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung grund-sätzlich zulässig ist. Bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens ist jedoch von dem zu erwartenden Einkommen auszugehen (vgl. Pewestorf Alg II-V/Adrian Pewestorf Alg II-V § 2 Rn.3). Die Behörde hat folglich eine Prognose anzustellen. Dabei ist es grundsätzlich praktisch sinnvoll, die Einkünfte vergangener Zeiträume bei der Prognose mit zu berücksichtigen. Jedoch sind wesentliche Veränderungen der zu erwartenden Einkommenssituation mit zu berücksichtigen. In der Alg II-Verordnung findet sich keine Regelung, nach welcher stets sechs Monate bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens zugrunde zu legen sind. Dies erscheint auch wenig sinnvoll, wenn sich - wie hier - Einkommen innerhalb der letzten sechs Monate wesentlich verändert hat.

So liegen die Dinge hier: Das Einkommen des Antragstellers zu 1) hat sich seit 01.01.2016 wesentlich reduziert. Zwar liegen schriftliche Arbeitsverträge weder über die Einkünfte im Jahr 2015 noch über die Einkünfte im Jahr 2016 vor. Die Antragstel-ler haben jedoch die Einkommensnachweise der (abgerechneten) Monate Januar bis April 2016 vorgelegt. Diese bestätigen die Veränderung im Einkommen des Antrag-stellers. Zudem hat der Antragsteller zu 1) im Rahmen einer eidesstattlichen Versi-cherung angegeben, ab 01.01.2016 aufgrund einer Stundenreduzierung nunmehr weniger Einkommen erzielen zu können. Daher sind bei der Berechnung des Durch-schnittseinkommens lediglich die Einkommen ab Januar 2016 bei der Bildung des Durchschnittseinkommens zugrunde zu legen.

Nach alledem beträgt das zu berücksichtigende Durchschnittseinkommen des An-tragstellers zu 1) hier 676,34 EUR (01/16: 686,45 EUR; 02/16: 649,24 EUR; 03/16: 686,45 EUR; 04/16: 683,33 EUR).

b. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet. Die Antragsteller begehren noch höhere SGB II-Leistungen für Stromkosten für die Warmwasseraufbereitung.

Die Haushaltsenergie ist grundsätzlich mit dem Regelbedarf abgedeckt. Bei Leis-tungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtung erzeugt wird (dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser nach § 22 aner-kannt werden (§ 21 Abs. 7 SGB II). Die Antragsteller haben nicht nachgewiesen, ob durch eine dezentrale Warmwasserversorgung ein erhöhter Energieverbrauch be-steht. Aus dem Mietvertrag ist ein solcher Mehrbedarf nicht ersichtlich, ebenfalls nicht aus den Abschlagsinformationen der Stadtwerke über Strom und Gas. Die Antragsteller sind im November 2015 in die derzeitige Wohnung umgezogen. Weder bei persönlichen Vorsprachen, noch im Weiterbewilligungsantrag haben die Antragsteller Angaben zu einem Mehrbedarf für die Erzeugung von Warmwasser geltend gemacht. Erstmals mit Widerspruchsschreiben vom 03.06.2016 haben sie einen Mehrbedarf vorgetragen. Nachweise liegen nicht vor. Insoweit ist ein Bedarf folglich nicht glaubhaft gemacht.

Nach alledem war wie tenoriert über die Sache zu entscheiden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG.

Der Antragsgegner hat die gesamten außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu tragen. Maßgeblich ist dabei für das Gericht, dass die Antragsteller mit ihren Begeh-ren in der Sache weit überwiegend (nämlich mit Ausnahme des Mehrbedarfs für Warmwasseraufbereitung) erfolgreich gewesen sind. Wenngleich der Eilantrag teil-weise abgelehnt worden ist, ist die volle Kostentragung durch den Antragsgegner gleichwohl billig, da er - trotz Kenntnis aller für die Änderung maßgeblichen Tatsa-chen am 03.06.2016 - erst am 30.06.2016 (und damit nach Antragstellung beim So-zialgericht) den Begehren der Antragsteller nachgekommen ist.
Rechtskraft
Aus
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