S 2 AL 58/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 2 AL 58/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AL 66/16
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein wichtiger Grund zur Vermeidung einer Sperrzeit muss dem Arbeitslosen bereits bei seinem versicherungswidrigen Verhalten zur Seite gestanden haben. Liegt dieses im Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung, sind damit nur die Verhältnisse zur Zeit des Vertragsschlusses relevant. Ein späteres Verhalten des Arbeitslosen ist insofern nur zu berücksichtigen, soweit es als Indiz für seine damaligen Absichten aussagekräftig wäre.

2. Wollte der Arbeitslose bei Abschluss des Vertrags endgültig aus dem Erwerbsleben ausscheiden und ändert er diesen Entschluss im Hinblick auf eine erst durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz geschaffene Möglichkeit, eine abschlagsfreie Altersrente in Anspruch zu nehmen, bleibt sein Verhalten durch einen wichtigen Grund gerechtfertigt.
1. Der Sperrzeitbescheid der Beklagten vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird unter dementsprechender Abänderung ihres Bewilligungsbescheids vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014 verurteilt, an die Klägerin auch für die Zeit vom 01.10.2014 bis 23.12.2014 Arbeitslosengeld in Höhe von 14,09 Euro täglich zu zahlen.

3. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Eintritt einer Sperrzeit.

Die 1952 geborene Klägerin war seit dem 01.01.1991 als kaufmännische Angestellte tätig. Im Jahre 2006 wurde ihr von ihrer Arbeitgeberin der Abschluss einer Altersteilzeit-Vereinbarung nach dem sog. Blockmodell angeboten. Da die Klägerin nach ihren Angaben seinerzeit beabsichtigte, nach dem Ende der Freistellungsphase Altersrente in Anspruch zu nehmen, unterzeichnete sie am 24.10.2006 einen "Vertrag über Altersteilzeit" mit ihrer Arbeitgeberin. Darin wurde eine Arbeitsphase vom 01.10.2009 bis 31.03.2012 und eine Freistellungsphase vom 01.04.2012 bis 30.09.2014 vereinbart.

Im Frühjahr 2014 wurde das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung parlamentarisch beraten und verabschiedet (Verkündung im Bundesgesetzblatt I Nr. 27 v. 26.06.2014, S. 787). Daraufhin entschied sich die Klägerin, sich nach der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zunächst dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, um später eine abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte in Anspruch nehmen zu können. Am 05.06.2014 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten persönlich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld ab 01.10.2014. Dieses wurde ihr mit Bescheid vom 03.07.2014 für die Zeit vom 24.12.2014 bis 22.06.2016 in Höhe von 14,09 Euro kalendertäglich bewilligt. Mit Bescheid vom gleichen Tag stellte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit vom 01.10.2014 bis 23.12.2014 fest. In diesem Zeitraum ruhe der klägerische Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zugleich werde die Anspruchsdauer um 180 Tage gemindert. Zur Begründung verwies die Beklagte auf den Umstand, dass die Klägerin ihre Beschäftigung freiwillig aufgegeben habe, um in Rente zu gehen. Statt diese planmäßig zu beantragen, habe sie sich nun arbeitslos gemeldet. Dass sie dadurch einen höheren Rentenanspruch erwerben könne, stelle keinen wichtigen Grund dar.

Dagegen erhob die Klägerin, vertreten durch ihre Bevollmächtigten, fristgerecht Widerspruch. Die Feststellung der Sperrzeit sei unrechtmäßig. In der Sache stützte sie sich auf die Entscheidung des BSG vom 21.07.2009 (Az. B 7 AL 6/08 R), die auf den vorliegenden Fall übertragbar sei. Danach sei der Abschluss der Altersteilzeit-Vereinbarung durch einen wichtigen Grund gerechtfertigt, weil die Klägerin fest entschlossen gewesen sei, nach dem Ende der Freistellungsphase Altersrente zu beziehen. Erst durch die nicht vorhersehbare, auf dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung beruhende Möglichkeit, zum 01.10.2015 eine abschlagsfreie Altersrente in Anspruch zu nehmen, habe sie sich entschlossen, doch nicht schon zum 01.10.2014 in Rente zu gehen. Wegen der Einzelheiten verwies die Klägerin auf eine beigefügte Rentenauskunft vom 03.09.2014.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.09.2014 wurde der Widerspruch von der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Der Vortrag der Klägerin führe auch unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht zur Anerkennung eines wichtigen Grunds. Die Klägerin habe bei Abschluss des Altersteilzeitvertrages gewusst, dass sie zum 01.10.2014 nur eine Altersrente mit Abschlägen erhalten könne. Daran habe sich nichts geändert.

Dagegen hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten, am 26.09.2014 Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben.

Sie ist der Ansicht, sie habe sich bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags nicht versicherungswidrig verhalten. Seinerzeit sei prognostisch davon auszugehen gewesen, dass sie zum 01.10.2014 nahtlos in Rente gehen würde. Erst als sich durch das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit ergeben habe, zum 01.10.2015 eine abschlagsfreie Rente zu beziehen, habe sie sich entschlossen, erst zu diesem späteren Zeitpunkt aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Denn dadurch bekomme sie eine um etwa 13,5 % höhere monatliche Rentenzahlung.

Die Klägerin beantragt,
den Sperrzeitbescheid der Beklagten vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014 aufzuheben und die Beklagte unter dementsprechender Abänderung ihres Bewilligungsbescheids vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014 zu verurteilen, an die Klägerin auch für die Zeit vom 01.10.2014 bis 23.12.2014 Arbeitslosengeld in Höhe von 14,09 Euro täglich zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die Klägerin habe keinen wichtigen Grund für den Abschluss der Altersteilzeit-Vereinbarung gehabt. Es fehle an einer Verschlechterung der Situation, die es rechtfertigen könnte, von den ursprünglichen Plänen abzuweichen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Sperrzeitbescheid der Beklagten vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014 war aufzuheben, da er rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Die Beklagte hat zu Unrecht den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe festgestellt. Demzufolge war der ebenfalls mitangefochtene Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 03.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2014, der mit dem Sperrzeitbescheid eine untrennbare rechtliche Einheit bildet, abzuändern. Die Anspruchsdauer des klägerischen Anspruchs auf Arbeitslosengeld hat sich nicht um 180 Tage vermindert. Der Anspruch auf Auszahlung von Arbeitslosengeld ist auch nicht zum Ruhen gekommen. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld in Höhe von 14,09 Euro täglich auch für den Zeitraum vom 01.10.2014 bis zum 23.12.2014. Vor diesem Hintergrund war auch der mit der Anfechtungsklage verbundenen Leistungsklage in vollem Umfang stattzugeben.

Als Rechtsgrundlage für den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe kommt im vorliegenden Fall allein die Regelung des § 159 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III) in Betracht. Danach ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer einer Sperrzeit, wenn sich ein Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Ein solches versicherungswidriges Verhalten liegt etwa vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst hat und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat.

Ein solches versicherungswidriges Verhalten der Klägerin ist hier gegeben. Die Klägerin hat am 24.10.2006 einen Vertrag über Altersteilzeit mit ihrer früheren Arbeitgeberin geschlossen. Seinerzeit stand sie in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als kaufmännische Angestellte. Ihre frühere Arbeitgeberin hatte dieses Arbeitsverhältnis nicht gekündigt und hätte nach ihren Angaben in der Arbeitsbescheinigung nach § 312 SGB III auch keine Kündigung ausgesprochen, wenn es nicht zum Abschluss des Altersteilzeitvertrags gekommen wäre. Mit diesem Vertrag, der ohne die Zustimmung der Klägerin (als aktives Verhalten) nicht zustande gekommen wäre, wurde eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.09.2014 vereinbart. Am 01.10.2014 ist die Klägerin dann auch tatsächlich arbeitslos geworden, so dass sie durch ihr Verhalten die Arbeitslosigkeit kausal herbeigeführt hat. Bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags war der Klägerin auch bewusst, dass das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Arbeitsphase und der Freistellungsphase endgültig enden würde und dass sie auch nicht stattdessen nahtlos in ein anderes Arbeitsverhältnis wechseln können würde. Sie wollte diese sich abzeichnende Arbeitslosigkeit auch herbeiführen, um ab 01.10.2014 eine Altersrente in Anspruch zu nehmen. Damit hat die Klägerin vorsätzlich gehandelt.

Die Kammer ist jedoch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin ein wichtiger Grund für dieses Verhalten zur Seite stand. Gemäß § 159 Abs. 1 S. 3 SGB III hat eine Person, die sich versicherungswidrig verhalten hat, die für die Beurteilung eines wichtigen Grunds maßgebenden Tatsachen darzulegen und nachzuweisen, wenn diese Tatsachen in ihrer Sphäre oder in ihrem Verantwortungsbereich liegen. Dieser Nachweis ist der Klägerin gelungen. Sie hat bei ihrer persönlichen Anhörung durch das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung gemäß § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) glaubhaft versichert, dass sie bei Abschluss des Altersteilzeitvertrages im Oktober 2006 fest davon überzeugt war, zum 01.10.2014 endgültig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Dies deckt sich mit ihren Angaben im Verwaltungsverfahren. Von diesem Sachverhalt geht anscheinend auch die Beklagte aus, wenn sie der Klägerin in dem angefochtenen Bescheid vorhält, sie habe sich "arbeitslos gemeldet, anstatt planmäßig Altersrente zu beantragen" (Hervorhebung durch das Gericht). Zwar hat die Klägerin erklärt, sie habe sich 2006 nicht eigens beim Rentenversicherungsträger beraten lassen, um die Höhe der ihr ab 01.10.2014 zustehenden Altersrente ermitteln zu lassen. Sie habe sich insofern jedoch an den jährlichen Rentenmitteilungen orientiert. Ihr sei klar gewesen, dass der Renteneintritt zum 01.10.2014 mit Abschlägen in Höhe von 10,8% einhergegangen sei. Diese habe sie jedoch in Kauf nehmen wollen. Da sie die älteste Mitarbeiterin im Büro ihrer früheren Arbeitgeberin gewesen sei, habe sie von dieser auch einen gewissen Druck verspürt, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Aus diesem Grund habe sie auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt ihre Arbeitszeit von 40 auf 27,5 Wochenstunden reduziert.

Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten stellt diese Motivation einen wichtigen Grund im Sinne von § 159 Abs. 1 S. 1 SGB III dar. Ein solcher wichtiger Grund muss dem Arbeitslosen bereits bei seinem versicherungswidrigen Verhalten zur Seite gestanden haben. Im vorliegenden Fall sind damit nur die Verhältnisse zur Zeit des Abschlusses der Altersteilzeitvereinbarung (hier also im Oktober 2006) relevant (ebenso schon BSG, Urteil vom 21. Juli 2009 – B 7 AL 6/08 RBSGE 104, 90 ff. = SozR 4-4300 § 144 Nr. 18 = juris Rn. 12 unter Hinweis auf BSGE 95, 232 ff. = SozR 4-4300 § 144 Nr. 11, jeweils Rn. 16; zustimmend damals Gagel, jurisPR-SozR 26/2009 Anm. 2; ebenso aus jüngerer Zeit: SG Kassel, Urteil vom 30. November 2015 – S 3 AL 10/15 – juris und SG Karlsruhe, Urteil vom 6. Juli 2015 – S 5 AL 3838/14 – juris; rechtlich wie hier bei abweichender Würdigung des dortigen tatsächlichen Sachverhalts: Bayerisches LSG, Urteil vom 2. Dezember 2015 – L 10 AL 52/15 – juris und SG Stade, Urteil vom 26. November 2015 – S 16 AL 94/14 – juris; anderer Rechtsansicht: SG Karlsruhe, Urteil vom 28. August 2015 – S 7 AL 1978/14 – juris und SG Speyer, Urteil vom 13. Mai 2015 – S 1 AL 311/14 – juris). Ein späteres Verhalten der Klägerin ist insofern nur zu berücksichtigen, soweit es als Indiz für ihre damaligen Absichten aussagekräftig wäre. Davon ist im vorliegenden Fall jedoch schon wegen des erheblichen Zeitablaufs von nahezu acht Jahren nicht auszugehen. Entgegen der Ansicht der Klägerin kommt es deswegen insbesondere nicht darauf an, ob sie sich im Nachhinein um eine Verlängerung ihres aufgegebenen Beschäftigungsverhältnisses oder um einen anderen Arbeitsplatz bemüht hat, so dass hierüber auch nicht Beweis zu erheben war. Ist ein Sperrzeittatbestand bereits vollständig verwirklicht, so lassen sich seine Folgen nicht durch ein nachträgliches Verhalten abwenden. War es dagegen gerechtfertigt, sich versicherungswidrig zu verhalten, kann daran später auch bei einer Änderung der Verhältnisse keine Sperrzeit anknüpfen.

Ein wichtiger Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses, der den Eintritt einer Sperrzeit verhindert, liegt im Falle des Abschlusses einer Altersteilzeitvereinbarung dann vor, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss der Vereinbarung beabsichtigt, aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und diese Annahme prognostisch auch gerechtfertigt ist (so der Leitsatz des Sächsischen LSG, Urteil vom 13. Februar 2014 – L 3 AL 100/12 – juris). Das hat das BSG in einem Fall angenommen, in dem sich die rentenrechtliche Situation zwischen Abschluss und Auslaufen des Altersteilzeitvertrags verschlechtert hatte (Urteil vom 21. Juli 2009 – B 7 AL 6/08 RBSGE 104, 90 ff. = SozR 4-4300 § 144 Nr. 18). Es ist davon ausgegangen, dass dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft kein anderes Verhalten zugemutet werden konnte. Zur Begründung hat es ausgeführt: "Mit der Einführung der Altersteilzeit hat der Gesetzgeber nämlich das Ziel verfolgt, die Praxis der Frühverrentung durch eine neue sozialverträgliche Möglichkeit eines gleitenden Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand (Altersteilzeitarbeit) abzulösen (BR-Drucks 208/96, S 1, 22). Anlass für die Regelung war die gängige Praxis, dass viele ältere Beschäftigte weit vor Erreichen der (regulären) Altersgrenze in den Ruhestand versetzt wurden, um auf diese Weise die Belegschaft der Betriebe zu verkleinern und/oder zu verjüngen. Dies führte zu einer erheblichen Belastung der Sozialversicherung und des Bundeshaushalts, weil sich die Entlassenen in der Regel arbeitslos meldeten, Alg bezogen und im Anschluss daran mit Vollendung des 60. Lebensjahres die vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Anspruch nahmen. Mit der Frühverrentungspraxis wurde von den Vorschriften der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung in einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Weise Gebrauch gemacht (BR-Drucks, aaO). Insbesondere für die Bundesanstalt (jetzt: Bundesagentur) für Arbeit (BA) führte diese Frühverrentungspraxis zu erheblichen Mehrkosten (BR Drucks, aaO, S 23). Im Ergebnis wurden damit die finanziellen Lasten der Frühverrentungen über notwendigerweise höhere Beitragssätze zur Sozialversicherung von den Klein- und Mittelbetrieben und ihren Arbeitnehmern getragen. Durch den Einsatz der Altersteilzeit sollten sich demgegenüber unumgängliche betriebliche Personalanpassungsmaßnahmen durchführen lassen, ohne dass dies auf Kosten der Solidargemeinschaft der Versicherten geschieht (BR-Drucks, aaO). Es war damit das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Sozialversicherung und insbesondere die BA durch die Einführung der Altersteilzeit zu entlasten. Einem Arbeitnehmer, der sich entsprechend dieser Gesetzesintention verhält, kann dann aber der Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung nicht vorgeworfen werden."

Daher sei – so das BSG weiter – zu prüfen, ob aus der ex-ante-Perspektive "nach der Altersteilzeit auch tatsächlich eine Rente beantragt werden" sollte. "Denn das Ziel des Altersteilzeitgesetzes" sei es – so das BSG weiter – "eine Nahtlosigkeit zwischen Altersteilzeitbeschäftigung und Rentenbeginn zu erreichen und einen Zwischenschritt über die Arbeitslosigkeit und den Leistungsbezug bei der Beklagten gerade zu vermeiden (BR-Drucks, aaO, S 27). Sollte der Kläger zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die Absicht gehabt haben, direkt nach Abschluss der Altersteilzeit ohne "Umweg" über die Beantragung von Alg Altersrente beziehen zu wollen, wäre ihm dieses Verhalten unter Abwägung seiner Interessen mit denen der Versichertengemeinschaft nicht vorwerfbar, wenn prognostisch von einem Ausscheiden des Klägers aus dem Arbeitsleben nach der Freistellungsphase der Altersteilzeit auszugehen gewesen wäre."

Dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung schließt sich die Kammer an. Sie versteht sie – wie Gagel, a.a.O. – so,
"- dass der Arbeitslose bei Abschluss des Vertrages die ernsthafte Absicht gehabt haben muss, nach Auslaufen des Vertrages in Rente zu gehen, und
- dass er sich hinreichend darüber informiert haben muss, dass dies rentenrechtlich möglich war und welche Rente er zu erwarten hatte.
Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist ein späterer Entschluss, keine Rente zu beantragen, hinzunehmen, da es nur auf den Zeitpunkt der Handlung, die die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Vertragsabschluss), ankommt."

Beide Voraussetzungen sind hier nach dem oben Gesagten zur Überzeugung der Kammer erfüllt. Die Klägerin war bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags zutreffend davon ausgegangen, dass sie zum 01.10.2014 eine Altersrente mit Abschlägen von 10,8 % in Anspruch nehmen kann. Wegen der Verhältnisse an ihrem damaligen Arbeitsplatz hat sie sich dazu entschlossen, dies in Kauf zu nehmen, um von der ihr angebotenen Altersteilzeit Gebrauch machen zu können. Eine abschlagsfreie Rente hätte ihr nach damaligem Rechtszustand ohnehin mittelfristig nicht zur Verfügung gestanden. Erst durch die auf das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgehenden Änderungen im Rentenrecht hat sich der Klägerin diese Gelegenheit zum 01.10.2015 eröffnet. Die 2014 geschaffene "Rente mit 63" stellt zwar keine eigenständige neue Rentenart dar (näher dazu etwa B. Schmidt, jurisPR-SozR 18/2014 Anm. 1). Sie ist vielmehr eine besondere Ausprägung der bereits mit Wirkung zum 01.01.2012 eingeführten Rente für besonders langjährig Versicherte gemäß § 38 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Während zuvor für die Inanspruchnahme einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte gemäß § 38 SGB VI eine einheitliche Altersgrenze von 65 Jahren galt, ist nunmehr durch die Sonderregelung des § 236b SGB VI deren vorübergehende Herabsetzung auf bis zu 63 Jahre angeordnet worden. Diese Vergünstigung kommt gerade dem Geburtsjahrgang 1952, dem die Klägerin angehört, noch in vollem Ausmaß zugute.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Kammer davon überzeugen können, dass die Entscheidung der Klägerin, zum 01.10.2014 keine Altersrente zu beantragen, sondern sich den Vermittlungsbemühungen der Beklagten zur Verfügung zu stellen, auf einem nachträglichen Entschluss beruht. Sie hat sich erst umentschieden, als sie 2014 von der geplanten "Rente mit 63" erfahren hat. Dieser Meinungswandel ist ihr sperrzeitrechtlich nicht vorzuhalten, weil bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags prognostisch von einem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auszugehen war (vgl. auch Schmitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2014, § 159 Rn. 32.1).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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