L 9 AS 427/16 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 185/15 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 427/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Konnte ein Familienangehöriger zu keinem Zeitpunkt seit seiner Einreise in den Mitgliedsstaat ein Aufenthaltsrecht von dem freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmer ableiten, kann er sich auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zur Fortsetzung einer Ausbildung aus Art. 10 der VO (EU) Nr. 492/2011 nicht berufen.

Ein Nachziehen im Sinne von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU liegt nicht vor, wenn ein familiäres Zusammenleben mit dem Familienangehörigen nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht bestanden hat und auch nicht geplant war.

Eine regelhafte Ermessensreduzierung auf Null nach Ablauf eines sechsmonatigen Aufenthalts im Rahmen des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII findet nicht statt (entgegen BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -, Urteil vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R -, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 15/15 R -, Urteil vom 17. Februar 2016 - B 4 AS 24/14 R-, Urteil vom 17. März 2016 - B 4 AS 32/15 R -).
Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 21. April 2016 aufgehoben, soweit der Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wurde, den Antragstellern für den Zeitraum ab Antragstellung am 11. März bis zum 30. Juni 2016 vorläufig Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Höhe von monatlich 891 Euro zu gewähren.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird auch insoweit abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) streitig.

Die 1976 geborene Antragstellerin zu 1. reiste u.a. mit ihren beiden 2006 und 2011 geborenen Söhnen, den Antragstellern zu 2. und 3. im Juli 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und lebt seitdem mit den Kindern in A-Stadt. Für die angemietete Wohnung müssen die Antragsteller 320 Euro Nettokaltmiete zuzüglich 160 Euro für Neben- und Heizkosten monatlich zahlen. Seit dem 16. September 2015 besucht der Antragsteller zu 2. eine Grundschule in A-Stadt. Die Antragstellerin zu 1. ist zu keinem Zeitpunkt nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik einer Beschäftigung nachgegangen.

Alle Antragsteller haben die polnische Staatsbürgerschaft. Der Ehemann der Antragstellerin zu 1., der auch der Vater der Antragsteller zu 2. und 3. ist, lebt bereits seit ca. zwei Jahren in E-Stadt in Nordrhein-Westfalen und geht nach Angaben der Antragsteller einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Die Antragstellerin zu 1. hatte sich von ihrem Ehemann bereits vor der Einreise nach Deutschland getrennt, ein gemeinsames Zusammenleben war zu keinem Zeitpunkt geplant. Der Vater der Antragsteller zu 2. und 3. gewährt diesen einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 500 Euro. Darüber hinaus trugen die Antragsteller vor, dass der Vater seine Söhne in A Stadt einmal besucht habe und die Antragsteller zu 2. und 3. einmal in E-Stadt gewesen seien.

Am 21. Dezember 2015 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Am 11. März 2016 beantragten sie beim Sozialgericht Gießen den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom 5. April 2016 hat das Sozialgericht den Lahn-Dill-Kreis als Träger der Leistungen nach dem SGB XII gemäß § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Verfahren beigeladen. Durch Beschluss vom 21. April 2016 verpflichtete das Sozialgericht sodann den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung, den Antragstellern für den Zeitraum 11. März bis 30. Juni 2016 vorläufig Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Höhe von monatlich 891 Euro zu gewähren. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab und verwies auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. Dezember 2015 (B 4 AS 44/15 R).

Gegen den Beschluss legte der Beigeladene am 18. Mai 2016 beim Sozialgericht Beschwerde ein. Zur Begründung verwies er auf Zweifel an der bestehenden Bedürftigkeit der Antragsteller im Hinblick auf mögliche Ansprüche auf Unterhalt und einen bisher nicht realisierten Kindergeldanspruch sowie deren vorrangigen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Von der Leistungsgewährung nach dem SGB XII seien die Antragsteller nach §§ 21 und 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen.

Der Beigeladene beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 21. April 2016 aufzuheben, soweit der Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wurde, den Antragstellern für den Zeitraum ab Antragstellung am 11. März bis zum 30. Juni 2016 vorläufig Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Höhe von monatlich 891,00 Euro zu gewähren und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch insoweit abzulehnen.

Die Antragsteller und der Antragsgegner beantragen jeweils,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Mit Bescheid vom 11. Mai 2016 lehnte der Antragsgegner sodann eine Leistungsgewährung nach dem SGB II aufgrund eines Antrags der Antragsteller vom 25. April 2016 unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Mit gleicher Begründung lehnte er mit Bescheid vom 13. Mai 2016 auch den Leistungsantrag der Antragsteller vom 21. Dezember 2015 ab. Beide Bescheide wurden bestandskräftig.

Auf Nachfrage des Senats teilte zudem die Ausländerbehörde des Lahn-Dill-Kreises mit Schriftsatz vom 8. August 2016 mit, dass die Prüfungen in Bezug auf das Vorliegen der Freizügigkeit der Antragsteller noch andauere. Auf telefonische Nachfrage der Berichterstatterin teilte die Behörde mit, dass bisher ein konkretes Verfahren im Hinblick auf eine mögliche Verlustfeststellung, etwa durch Versenden einer diesbezüglichen Anhörung, nicht eingeleitet worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie die Gerichtsakte verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist begründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts, den Beigeladenen vorläufig im Zeitraum 11. März bis 30. Juni 2016 zur Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII an die Antragsteller zu verpflichten, war aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch insoweit abzulehnen.

Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens sind nur Ansprüche der Antragsteller auf Leistungen nach dem SGB XII gegen den Beigeladenen, da nur dieser Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung des Sozialgerichts eingelegt hat. Dagegen haben die Antragsteller Beschwerde gegen den Leistungen nach dem SGB II ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts nicht erhoben.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Beigeladenen liegen nicht vor. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ZPO -).

Die Antragsteller haben vorliegend für den streitigen Zeitraum einen Anordnungsanspruch hinsichtlich der Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII nicht glaubhaft gemacht.

Der Anordnungsanspruch der Antragsteller scheitert nicht bereits deshalb, weil die Bescheide des Antragsgegners vom 11. und 13. Mai 2016 bestandskräftig geworden sind. Es kann nicht angenommen werden, dass der Antragsgegner mit den bestandskräftigen Bescheiden inzident auch eine Leistungsgewährung nach dem SGB XII abgelehnt hat. Hiergegen spricht nicht nur die fehlende sachliche Zuständigkeit des Antragsgegners und der Wortlaut der Bescheide, sondern auch der zeitliche Ablauf. Denn der Antragsgegner hat die ablehnenden Bescheide erst nach dem Beschluss des Sozialgerichts vom 21. April 2016 und damit in Kenntnis der erstinstanzlichen Einschätzung, dass der Beigeladene und nicht er leistungsverpflichtet sei, erlassen. Mit den Bescheiden vom 11. und 13. Mai 2016 ist damit lediglich eine Leistungsgewährung nach dem SGB II bestandskräftig abgelehnt worden.

Ein Anspruch der Antragsteller auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII scheitert auch nicht an einer Leistungsberechtigung der Antragsteller nach dem SGB II, da dessen Leistungsvoraussetzungen nicht vorliegen.

Zwar erfüllt die Antragstellerin zu 1. die Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II und ist erwerbsfähig im Sinne der Nr. 2 der Vorschrift. Auch bestand nach den vorliegenden Unterlagen Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 9 SGB II. Die Antragsteller verfügten in dem hier streitigen Zeitraum lediglich über Einkommen aus Unterhalt in Höhe von 500 Euro. Weshalb die Antragsteller zu 2. und 3. kein Kindergeld erhalten, erschließt sich dem Senat zwar nicht. Jedoch ist nach der vorliegenden Verwaltungsakte und auch den Angaben der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren nicht ersichtlich, dass den Antragstellern in dem hier streitigen Zeitraum vom 11. März 2016 bis 30. Juni 2016 Kindergeld sowie auch die von dem Beigeladenen in der Beschwerdeschrift genannten anderen möglichen Unterhaltsleistungen tatsächlich zur Bedarfsdeckung zur Verfügung standen. Nur dies ist jedoch für die Frage der Existenzsicherung im Wege der einstweiligen Anordnung relevant. Eine Anrechnung von tatsächlich nicht vorhandenem (fiktivem) Einkommen scheidet im Rahmen des SGB II aus. Die Antragsteller haben darüber hinaus ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Jedoch hat das Sozialgericht zu Recht festgestellt, dass sie dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfallen.

Nach dieser Vorschrift sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von der Leistungsgewährung nach dem SGB II ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Der Senat kann dabei im vorliegenden Fall offen lassen, ob der Antragstellerin zu 1. im streitigen Zeitraum ein materielles Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitssuche zustand, sie also tatsächlich Arbeit gesucht hat und begründete Aussicht hatte, eingestellt zu werden. Denn auch wenn die Antragstellerin zu 1. über kein materielles Aufenthaltsrecht verfügt, unterfällt sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R - ZfSH/SGB 2016, 126; Urteil vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R -; Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 15/15 R -; Urteil vom 17. Februar 2016 - B 4 AS 24/14 R -; Urteil vom 17. März 2016 - B 4 AS 32/15 R -).

Die Antragstellerin zu 1. konnte sich im streitigen Zeitraum auch nicht auf eine materielle Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmerin oder Selbstständige berufen, da sie keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Auch eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1, 2 Nr. 6 i. V. m. § 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) hat das Sozialgericht zu Recht verneint. Die Antragsteller sind zwar Familienangehörige des Ehemanns der Antragstellerin zu 1. und des Vaters der Antragsteller zu 2. und 3 im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Sofern der Ehemann bzw. Vater der Antragsteller - wie von den Antragstellern vorgetragen - einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht, wäre er als Arbeitnehmer auch freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Diesen Umstand haben die Antragsteller im Verfahren allerdings nicht glaubhaft gemacht. Der Senat musste diesbezüglich aber keine weiteren Ermittlungen anstellen, da auch bei der Annahme von dessen Freizügigkeitsberechtigung eine solche für die Antragsteller nicht besteht. Die Antragsteller haben den Ehemann bzw. Vater nämlich bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik weder begleitet noch sind sie ihm nachgezogen im Sinne von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU.

Der Ehemann der Antragstellerin zu 1. lebt nach deren Auskunft bereits seit zwei Jahren in Deutschland, allerdings nicht am Wohnort der Antragsteller, sondern im etwa 230 km entfernten E-Stadt. Die Antragsteller sind erst im Juni 2015 in die Bundesrepublik eingereist. Eine gemeinsame Einreise liegt somit nicht vor. Auch ein "Nachziehen" im Sinne von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ist zu verneinen, da die Antragsteller zu keinem Zeitpunkt mit dem Ehemann und Vater zusammenziehen wollten, die Antragstellerin zu 1. sich vielmehr von ihrem Ehemann getrennt hatte. Zwar kann nach der Rechtsprechung aus den Worten "begleiten" bzw. "nachziehen" in § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nicht der Schluss gezogen werden, dass das Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nur besteht, wenn der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und der Familienangehörige auf Dauer in einer gemeinsamen Wohnung wohnen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 2012 - B 14 AS 138/11 R - m. w. N.). Das Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU kann demnach auch nach einem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung erhalten bleiben. Im vorliegenden Fall jedoch bestand zu keinem Zeitpunkt nach der Einreise der Antragsteller in die Bundesrepublik ein familiäres Zusammenleben mit dem Ehemann bzw. Vater und dieses war auch nicht geplant. Ein "Nachziehen" im Sinne von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU kann somit vorliegend nicht bejaht werden. Auch der Vortrag der Antragsteller, der Ehemann und Vater habe die Antragsteller nach deren Einreise in die Bundesrepublik einmal besucht und die Antragsteller zu 2. und 3. seien einmal bei ihm in E-Stadt gewesen, genügt nicht, um die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU zu erfüllen.

Ebenso scheidet eine Freizügigkeitsberechtigung der Antragsteller nach § 4 FreizügG/EU aus, da die Antragstellerin zu 1. zwar eine nicht erwerbstätige Unionsbürgerin ist, die Vorschrift jedoch voraussetzt, dass sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt, was aufgrund der beantragten Sozialleistungen gerade nicht der Fall ist.

Der Antragsteller zu 2. kann auch kein Aufenthaltsrecht aus der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 (VO (EU) Nr. 492/2011) herleiten. Nach Artikel 10 dieser Verordnung können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Der Erwerb des Ausbildungsrechts ist dabei an den Status als Kind eines Arbeitnehmers gebunden (vgl. hierzu bereits Beschluss des Senats vom 23. Juni 2016 - L 9 AS 407/16 B ER -; BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 B 4 AS 43/15 R - mit Verweis auf Europäischen Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 21. Juni 1988 - Rs C-197/86 (Brown) -; EuGH, Urteil vom 4. Mai 1995 - Rs C-7/94 (Gaal) -; EuGH, Urteil vom 14. Juni 2012 - Rs C-542/09 (Europäische Kommission/Königreich der Niederlande) -; EuGH, Urteil vom 6. September 2012 Rs C 147/11 und C-148/11 (Czop und Punakova) -).

Zwar ist der Vater des Antragstellers zu 2. nach dem Vortrag im Eilverfahren Arbeitnehmer im Sinne der VO (EU) Nr. 492/11 und der Antragsteller zu 2. ist seit September 2015 Schüler einer Grundschule in A-Stadt und damit in das nationale Schulsystem eingegliedert (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2013 - Rs C-45/12 (Hadj Ahmed) ). Jedoch greift die VO (EU) Nr. 492/11 im vorliegenden Fall nach ihrem Sinn und Zweck nicht zugunsten des Antragstellers zu 2.

Artikel 10 der VO (EU) Nr. 492/11 knüpft an den Status des Kindes als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers an (vgl. BSG, a.a.O.; EuGH, Urteil vom 21. Juni 1988, a.a.O.). Der Antragsteller zu 2. ist zwar Familienangehöriger im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU des in E-Stadt lebenden Vaters (siehe hierzu bereits oben). Jedoch genügt dies nach Auffassung des Senats nicht, um aus Artikel 10 der VO (EU) Nr. 492/11 ein Ausbildungs- und davon abgeleitet ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bejahen zu können. Nach dem Sinn und Zweck der Norm ist es vielmehr erforderlich, dass das Kind aus seiner Stellung zum Arbeitnehmer aktuell oder zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit während seines Aufenthalts in dem Aufnahmestaat ein Aufenthaltsrecht ableiten kann oder konnte. Ist dies nicht der Fall, kann es sich auch nicht auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zur Fortführung der Ausbildung nach Artikel 10 der Verordnung berufen.

Artikel 10 VO (EU) Nr. 492/11 schafft für das Kind eines Arbeitnehmers ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, damit das Kind im Fall des Verlustes des Arbeitsplatzes durch den (früheren) Arbeitnehmer und in der Folge ggf. des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung oder auch des Wegzugs des Arbeitnehmers aus dem Mitgliedstaat sein Recht auf Fortsetzung der Ausbildung in dem Aufnahmestaat ausüben kann. Die Vorschrift schafft damit kein originäres Aufenthaltsrecht, sondern will lediglich im Falle des Wegfalls des vom Arbeitnehmer abgeleiteten Aufenthaltsrechts eine Möglichkeit zur weiteren Ausübung der Freizügigkeit zur Fortsetzung der begonnenen Ausbildung schaffen. Damit impliziert Artikel 10 der VO (EU) Nr. 492/11, dass das Kind von dem Arbeitnehmer zu irgendeinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht ableiten konnte.

Vorliegend konnte der Antragsteller zu 2. zu keinem Zeitpunkt seit seiner Einreise in die Bundesrepublik von seinem Vater ein Aufenthaltsrecht ableiten (vgl. hierzu das oben zu § 3 Abs. 1 FreizügG/EU Ausgeführte). Damit kann sich der Antragsteller zu 2. auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zur Fortsetzung seiner Schulausbildung aus Artikel 10 der VO (EU) Nr. 492/11 nicht berufen, so dass auch ein hieraus abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1. als Elternteil, der die elterliche Sorge für das Kind tatsächlich ausübt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - Rs C-413/99 (Baumbast und R) -; EuGH, Urteil vom 23. Februar 2002 - Rs C-480/08 (Teixeira) -) ausscheidet.

Da Anhaltspunkte für das Vorliegen eines anderen Aufenthaltsrechts der Antragsteller nicht ersichtlich sind, bleibt der Antragstellerin zu 1. lediglich das Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche. Dieses wie auch die Alternative, dass ihr kein materielles Aufenthaltsrecht zusteht, schließt jedoch die Antragstellerin zu 1. und die Antragsteller zu 2. und 3. als ihre Familienangehörigen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von der Leistungsgewährung nach dem SGB II aus (vgl. hierzu bereits das oben Gesagte).

Diese Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 11. November 2014 - Rs C-333/13 (Dano) - und Urteil vom 15. September 2015 - Rs C-67/14 ( Alimanovic) -) auch europarechtskonform (vgl. hierzu bereits den Beschluss des Senats vom 26. September 2016 - L 9 AS 643/16 B ER ).

Liegen damit die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II nicht vor, fehlt es auch an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Nach § 19 Abs. 1 SGB XII ist Personen Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Dies ist bei den Antragstellern, wie bereits oben ausgeführt, in dem hier streitigen Zeitraum vom 11. März 2016 bis 30. Juni 2016 der Fall gewesen. Das Sozialgericht hat auch unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG (Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -) zu Recht ausgeführt, dass die mangelnde Kenntnis des Beigeladenen von der Bedürftigkeit der Antragsteller einem Leistungsanspruch nicht entgegensteht, da der Beigeladene sich nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die Kenntnis des Antragsgegners aufgrund des SGB II-Antrags zurechnen lassen muss (BSG, a.a.O., m.w.N.). Die bestandskräftige Ablehnung der von den Antragstellern gestellten SGB II-Anträge vom 21. Dezember 2015 und 25. April 2016 ändert dabei nichts an der Kenntnis des Beigeladenen von der Bedürftigkeit der Antragsteller.

Einer Anwendung der Vorschriften des Dritten Kapitels des SGB XII, die die Hilfe zum Lebensunterhalt regeln, steht jedoch der Wortlaut des § 21 Satz 1 SGB XII entgegen.

Nach dieser Vorschrift erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Sowohl der Wortlaut der Vorschrift wie auch die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sprechen dabei im Ergebnis dafür, dass anspruchsberechtigt dem Grunde nach im Sinne des § 21 Satz 1 SGB XII bereits derjenige sein soll, der die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 SGB II erfüllt oder dessen Angehöriger ist (vgl. hierzu mit ausführlicher Begründung Beschluss des Senats vom 26. September 2016, a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des BSG soll die "Systemabgrenzung" zwischen SGB II und SGB XII aber nicht auf das schlichte Kriterium der Erwerbsfähigkeit reduziert werden, sondern sei differenzierter (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -; BSG, Urteil vom 16. Dezember 2015, a.a.O., jeweils m. w. N.). Selbst unter Zugrundelegung der Auffassung des BSG, dass § 21 Satz 1 SGB XII in einer derartigen Fallkonstellation nicht eingreife, fehlt es aber vorliegend an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, da sich aus § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII im vorliegenden Fall ein weiterer Ausschlussgrund ergibt.

Nach dieser Vorschrift besteht eine § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entsprechende Ausschlussregelung. Danach haben Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Der Gesetzgeber ist dabei davon ausgegangen, dass bei einem Eingreifen der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII ausgeschlossen sein sollen (so auch BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 B 4 AS 44/15 R -). Die Antragsteller haben damit nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII keinen Rechtsanspruch auf Sozialhilfeleistungen.

Ein Anspruch der Antragsteller auf Hilfe zum Lebensunterhalt ergibt sich auch nicht aus der Ermessensnorm des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Hinsichtlich bestehender Zweifel bezüglich der Anwendbarkeit der Bestimmung auf Fallkonstellationen wie der vorliegenden verweist der Senat dabei auf die Ausführungen in seinem Beschluss vom 26. September 2016 (a.a.O.). Die Norm bezieht sich zudem nicht auf die von den Antragstellern begehrte Hilfe zum Lebensunterhalt, so dass allenfalls eine entsprechende Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII im Wege verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift in Betracht kommt (vgl. auch hierzu ausführlich den Senatsbeschluss vom 26. September 2016, a.a.O.).

Es kann im vorliegenden Beschwerdeverfahren offen bleiben, ob § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII entsprechend anwendbar ist. Denn auch bei Bejahung dieser Frage fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt.

Nicht anzuschließen vermag sich der Senat dabei der Auffassung des BSG (Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -; Urteil vom 16. Dezember 2015, a.a.O.; Urteil vom 20. Januar 2016, a.a.O.; Urteil vom 17. Februar 2016, a.a.O.; Urteil vom 17. März 2016, a.a.O.), dass der zuständige Sozialhilfeträger bedürftigen EU-Bürgern, die nach Ablauf eines sechsmonatigen Aufenthalts nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung zur Arbeitssuche verfügen, aufgrund einer Reduzierung des ihm nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII eingeräumten Ermessens auf Null im Regelfall dem Grunde und der Höhe nach ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe des Dritten Kapitels SGB XII zu gewähren hat. Zum einen spricht der ausdrückliche Wortlaut der Norm gegen eine solche Auslegung. Zum anderen überzeugen die Ausführungen des BSG zu einer "Verfestigung" des Aufenthaltsrechts nach Ablauf von sechs Monaten nicht (vgl. hierzu die ausführliche Begründung im Senatsbeschluss vom 26. September 2016, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. März 2016 - L 15 AS 185/15 B ER -).

Im Ergebnis kann damit eine regelhaft nach sechs Monaten Aufenthalt eintretende Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nicht angenommen werden. Auch ergeben sich aus dem zugrundeliegenden Sachverhalt keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass jede andere Entscheidung, als eine dem Grunde und der Höhe nach ungekürzte Bewilligung laufender Leistungen nach dem SGB XII gegenüber den Antragstellern ermessensfehlerhaft wäre. Den Antragstellern steht damit gegenüber dem Beigeladenen lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung im Hinblick auf ihr Begehren auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt zu. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung hat der Beigeladene die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und auch die Frage des Umfangs der Hilfebedürftigkeit abschließend zu klären.

Die Antragsteller haben somit einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Einer Entscheidung hinsichtlich eines möglichen Anordnungsgrundes bedurfte es in der Folge nicht.

Auf die Beschwerde des Beigeladenen war der Beschluss des Sozialgerichts Gießen somit im Hinblick auf die ausgesprochene Verpflichtung des Beigeladenen zur Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch insoweit abzulehnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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