L 19 AS 1541/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 AS 22/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1541/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 83/17 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 29.06.2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Der 1959 geborenen Klägerin waren zuletzt mit Bescheid vom 03.01.2014 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.02.2014 bis zum 31.07.2014 i.H.v. 692,10 EUR monatlich bewilligt worden. Zur Begründung war ausgeführt, die vorläufige Bewilligung erfolge aufgrund der noch ausstehenden Entscheidungen über vorrangige Leistungen (Rente). Nachdem das Sozialgericht Aachen der Klägerin mit Urteil vom 30.10.2013 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zugesprochen hatte, bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) der Klägerin mit Bescheid vom 05.02.2014 rückwirkend eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 01.02.2010 bis längstens 30.06.2025, deren monatlicher Zahlbetrag sich ab dem 01.07.2013 auf 619,60 EUR belief. Der Beklagte hob daraufhin die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Bescheid vom 07.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.04.2014 für die Zeit ab dem 01.04.2014 auf. Die dagegen seitens der Klägerin vor dem Sozialgericht Aachen erhobene Klage wurde mit Urteil vom 23.07.2014 (S 4 AS 433/14) abgewiesen, die anschließende Berufung mit Urteil des Landessozialgerichts vom 03.11.2015 (L 2 AS 1761/14) zurückgewiesen.

Den Antrag der Klägerin vom 20.03.2014 auf (erneute) Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 01.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2014 ab. Ergänzend teilte der Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 19.04.2014 mit, dass sie sich wegen eines möglicherweise bestehenden Anspruchs auf Grundsicherung an die Stadt B wenden könne.

Mit Bescheid vom 18.06.2014 lehnte der Beklagte weitere Anträge der Klägerin vom 27.05.2014 und vom 16.06.2014 auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2014 unter Hinweis auf die durch die DRV Bund festgestellte Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ab. Die Feststellungen der DRV Bund seien für ihn nach § 44a Abs. 2 SGB II bindend.

Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, das Verfahren mit der DRV Bund sei noch nicht abgeschlossen. Sie habe die Rentennachzahlung abgelehnt, da der Entscheidung der DRV Bund ein Falschgutachten durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zugrunde gelegen habe. Für die Feststellung, ob sie erwerbsfähig sei, beantrage sie die Einleitung einer persönlichen Begutachtung durch einen Dienst- oder Amtsarzt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.12.2015 als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 08.01.2016 vor dem Sozialgericht Aachen Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II weiter verfolgt hat.

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

den Bescheid vom 18.06.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2015 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr rückwirkend die ihr zustehenden Leistungen zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29.06.2016 abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II lägen mangels Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht vor, denn die DRV Bund gewähre der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Zuständigkeit des Beklagten sei erloschen, da für diesen die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsfähigkeit nach § 44a Abs. 2 SGB II bindend sei.

Gegen den ihr am 02.07.2016 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin, die in der Sache keinen Antrag stellt, am 02.08.2016 Berufung eingelegt.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat die Klägerin zunächst mit Verfügung vom 31.08.2016 - ihr zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 02.09.2016 - unter Hinweis auf Ihre Mitwirkungspflicht nach § 103 SGG gebeten, einen Fragebogen über ärztliche Behandlungen und Untersuchungen auszufüllen sowie eine Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht zu unterschreiben. Unter dem 29.09.2016 hat der Senat an die Erledigung der Verfügung vom 31.08.2016 erinnert und eine Frist bis zum 14.10.2016 gesetzt. Mit einer weiteren Verfügung vom 24.10.2016, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 28.10.2016, ist der Klägerin letztmalig Gelegenheit gegeben worden, den Fragebogen über ärztliche Behandlungen sowie die Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht zu unterschreiben und zurückzusenden. Die Klägerin hat auf die Verfügungen jeweils mit Anträgen auf "Richtigstellung und Vervollständigung" reagiert.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die mit einem Niqab Erschienene, die angegeben hat, die Klägerin zu sein, nach Verkündung eines Beschlusses nach §§ 176, 177, den Sitzungssaal verlassen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der beigezogenen Akte des Sozialgerichts Aachen, S 4 AS 433/14 Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte die Streitsache verhandeln und entscheiden, obwohl die als Klägerin zur mündlichen Verhandlung Erschienene auf der Grundlage von §§ 176, 177 GVG aus dem Sitzungssaal entfernt worden ist. Der Erschienenen ist vor der Entfernung rechtliches Gehör gewährt geworden, denn sie ist darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit bestehe, sie aus dem Sitzungszimmer zu entfernen, falls sie der Anordnung der Vorsitzenden, den Vollgesichtsschleier abzulegen, nicht nachkommt. Der Senat konnte die Sitzung anschließend fortsetzen, zumal das persönliche Erscheinen der Klägerin ohnedies nicht angeordnet war. Die mit Postzustellungsurkunde geladene Klägerin hat ausreichend Gelegenheit gehabt, im schriftlichen Verfahren zum Sachverhalt Stellung zu nehmen und ihren Rechtsstandpunkt darzulegen.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 18.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2015, mit welchem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2014 abgelehnt hat.

Das Sozialgericht hat die dagegen erhobene Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig und beschwert die Klägerin nicht, § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2014.

Zur Überzeugung des Senats ist nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen, dass die Klägerin erwerbsfähig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 8 Abs. 1 SGB II ist. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist derjenige erwerbsfähig, der nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (BSG, Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201). Das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit bei der Klägerin ist nicht schon bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen. Die Klägerin kann sich nicht auf § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II berufen, wonach der Grundsicherungsträger bis zu einer Entscheidung des Rentenversicherungsträger über die Erwerbsfähigkeit Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen hat (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 05.08.2015 - B 4 AS 9/15 R - m.w.N. und vom 02.04.2014 - B 4 AS 26/13 R - BSGE 115, 210 zur Vorgängervorschrift des § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II). Denn der Rentenversicherungsträger hat vorliegend durch Bescheid vom 05.02.2014 die Feststellung getroffen, dass die Klägerin für die Zeit ab dem 01.02.2010 auf Dauer voll erwerbsgemindert ist.

Allein aus der Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab dem 01.02.2010 bis längstens zum 30.06.2025 (dem Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze) durch die DRV Bund (Bescheid vom 05.02.2014) kann aber weder geschlossen werden, dass das Leistungsvermögen der Klägerin für die Zeit ab dem 01.05.2014 unter drei Stunden täglich gesunken ist (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI), noch dass die Erwerbsminderung auf Dauer besteht. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts folgt dies nicht aus der Vorschrift des § 44a Abs. 2 SGB II. Zwar ist die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbs(un)fähigkeit der Klägerin für den Beklagten nach § 44a Abs. 2 SGB II bindend. Die Bindungswirkung nach § 44a Abs. 2 SGB II gilt mangels gesetzlicher Anordnung aber nicht für die Sozialgerichte (vgl. Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 44a Rn. 60, 98; Gagel/Bender, SGB II, § 44a Rn. 25). In einem sozialgerichtlichen Verfahren, in dem - wie hier - die Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers im Streit steht, ist diese aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes in vollem Umfang von Amts wegen zu ermitteln und aufzuklären (vgl. zur Ermittlungspflicht des Gerichts bei einer Feststellung des Rentenversicherungsträgers gemäß § 45 SGB XII: BSG, Urteile vom 25.08.2011 - B 8 SO 19/10 R - und vom 23.03.2010 - B 8 SO 17/09 R - BSGE 106, 62). Die Norm des § 44a Abs. 2 SGB II befreit die Sozialgerichte hiervon nicht.

Jedoch kann die Erwerbsfähigkeit der Klägerin angesichts ihrer mangelnden Mitwirkung nicht festgestellt werden. Die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer begründet zumindest Zweifel an der Erwerbsfähigkeit der Klägerin. Eine Erwerbsfähigkeit der Klägerin i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II kann nicht unterstellt werden. Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 103 S. 1 Halbs. 1 SGG), die Beteiligten sind hierzu mit heranzuziehen (§ 103 S. 1 Halbs. 2 SGG). Der Senat sieht sich an einer weiteren Aufklärung des Sachvershalts nach § 103 SGG gehindert. Die Klägerin ist der Aufforderung, den Fragebogen über ärztliche Behandlungen und Untersuchungen sowie eine Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht vorzulegen, trotz mehrfacher Aufforderung und des Hinweises, dass sie verpflichtet ist, an der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken, eine Aufklärung ohne ihre Mitwirkung nicht möglich ist und eine Verletzung der Mitwirkungspflicht für sie beweisnachteilig sein kann, nicht nachgekommen. Sie hat hierzu keinerlei relevante Gesichtspunkte vorgetragen. Sie trägt lediglich vor, sie habe einen Anspruch auf eine "neutrale" Begutachtung. Infolgedessen sieht sich der Senat nicht verpflichtet, den Sachverhalt durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens weiter aufzuklären. Denn die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhaltes endet dort, wo ein Beteiligter den ihm obliegenden Mitwirkungspflichten nicht nachkommt (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 09.01.2012 - L 17 U 190/10 m.w.N.). Die Einholung von Gutachten ist erst dann sachdienlich, wenn einem Gericht Erkenntnisse über Art und Umfang von gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen. Ein Gericht ist dagegen nicht gehalten, medizinische Ermittlungen ins Blaue zu veranlassen.

Die Klägerin trägt für die Feststellung ihrer Erwerbsfähigkeit die Beweislast. Denn die Unerweislichkeit einer Tatsache - vorliegend die Erwerbsfähigkeit i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II - geht zu Lasten desjenigen Beteiligten, der aus ihr eine günstige Rechtsfolge herleitet (vgl. BSG, Urteile vom 06.03.2012 - B 1 KR 14/11 R - SozR 4-2500 § 130 Nr. 2 und vom 24.05.2006 - B 11a AL 7/05 R - BSGE 96, 238; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 01.02.2010 - 1 BvR 20/10).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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