S 30 R 5253/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 30 R 5253/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Der 1940 geborene Kläger beantragte im Mai 2013 die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG. Er sei von 1941 bis 1944 im Ghetto in Petschora gewesen. Dort habe er von 1942 bis 1944 gearbeitet. Als seine Mutter beim Brückenbau gearbeitet hat, habe er "leichte Reinigungsarbeiten" ausgeführt. Dies sei an 6 Tagen die Woche von morgens bis abends erfolgt. Er habe für seine Arbeit täglich Lebensmittel erhalten.

Die Beklagte zog einen Vorgang der Claims Conference bei. Darin findet sich die Angabe des Klägers, er sei von 1943 bis 1944 mit seiner Mutter bei der Arbeit zusammen gewesen und habe dort verschiedene Reinigungsarbeiten ausgeführt und u. a. Wasser gebracht.

Im September 2013 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie seinen Antrag ablehnen müsse. Der Kläger habe eine Beschäftigung im Ghetto nicht glaubhaft gemacht. Er sei ein Kind und erst 4 Jahre alt gewesen. Er sei keiner eigenständigen Beschäftigung nachgegangen.

Der Kläger nahm im Oktober 2013 hierzu Stellung. Zuerst habe seine Mutter ihn zur Arbeit mitgenommen. Als jedoch sein älterer Bruder verhungert sei, habe er wie die anderen Kinder im Ghetto angefangen zu arbeiten. Er habe für seine Arbeit "ein Stück Brot zusätzlich" erhalten.

Auf Nachfrage der Beklagten reichte der Kläger mehrere schriftliche Aussagen von Zeugen ein. Unter anderem bestätigten diese, dass der Kläger von 1941 bis Frühjahr 1944 im Ghetto Petschora gewesen sei und dort, wie alle minderjährigen Kinder im Ghetto, gearbeitet hätten. Für die Arbeit hätten sie Essen bekommen. Der Kläger habe kleine Steine geschleppt und Müll weggeräumt. Er habe Suppe, Brot und Kartoffeln bekommen.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 20. Februar 2014). Ghetto-Beitragszeiten setzten kein Mindestalter, aber eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt voraus. Bei Kindern in dem damaligen Lebensalter des Klägers mangele es regelmäßig an den hierfür erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 20. März 2014 wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2014). Der Kläger sei im Alter von nur 2 bis 4 Jahren zusammen mit seiner Mutter im Ghetto gewesen. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger der Mutter ohne eigene Entlohnung bei der Arbeit geholfen habe. Der Kläger habe keine eigenständige, von der Arbeit der Mutter abgrenzbare Tätigkeit ausgeübt.

Mit der am 26. September 2014 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Kläger behauptet, er habe ab Ende des Jahres 1942 bis März 1944 im Ghetto Petschora Reinigungsarbeiten durchgeführt und hierfür "ein Stück Brot" erhalten zu haben.

Der Kläger hat keinen förmlichen Klageantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, die Klage sei wegen Nichteinhaltung der Klagefrist unzulässig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die der Kammer bei Entscheidung vorlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten haben hierfür ihr Einverständnis erteilt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die Kläger erhebt der Sache nach (§ 123 SGG) einen Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG.

Die so verstandene Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 4 SGG) statthaft und zulässig.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Klage fristgerecht erhoben worden. Die Klagefrist beträgt wegen der Bekanntgabe im Ausland drei Monate (§ 87 Abs 1 S 2 SGG) ab Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (§ 87 Abs 2 SGG). Da nicht festgestellt werden konnte, wann dem Kläger der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014 bekanntgegeben worden ist, kann dem Kläger keine Versäumnis der Klagefrist vorgeworfen werden. Die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 S 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) findet keine Anwendung, da sie nur für schriftliche Verwaltungsakte gilt, die "im Inland durch die Post übermittelt" werden. Bei Übermittlung durch die Post ins Ausland mit einfachem Brief ist im Regelfall daher der Tag des Zugangs für die Bekanntgabe maßgeblich (Engelmann, in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 37 Rn 11). § 14 Satz 2 SGB X greift entgegen der Ansicht der Beklagten ebenfalls nicht sein, da dies unter anderem voraussetzt, dass der Betroffene dem Verlangen der Behörde nach Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten im Inland nicht nachgekommen ist (vgl. Engelmann, aaO). Ein solches Verlangen hat die Beklagte nicht gestellt.

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 15. Mai 2014 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger daher nicht (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten im Sinne von § 2 Abs. 1 ZRBG.

Voraussetzung für die Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten ist eine Zeit der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben Erforderlich ist, dass die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und sich das Ghetto in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war (§ 1 Abs. 1 ZRBG).

Es ist nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Kläger im Ghetto in Petschora einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss nachgegangen ist.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), der auch im Anwendungsbereich des ZRBG gilt, ist eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn sie "überwiegend wahrscheinlich" ist (BSG, Urt. v. 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R, Rn. 116). Es reicht die gute Möglichkeit aus, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (BSG, aaO). Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände im Vergleich mit den anderen ernsthaften Möglichkeiten mehr für diese als für die anderen Möglichkeiten spricht (BSG, aaO). Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht hingegen nicht aus (BSG, aaO).

Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger im Ghetto einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss nachgegangen ist.

Der Gesetzgeber hat den Begriff der "Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss" nicht näher definiert, sondern auf die vorherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts rekurriert und die "Kriterien" übernommen (BT-Drs 14/8583, S 4). Hiernach ist Rechtsgrundlage für Arbeit das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (BSG, 18.06.1997 – 5 RJ 66/95SozR 3-2200 § 1248 Nr 15). Zustande kommt das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten (BSG, aaO). Typisch ist mithin, dass auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsschluss geäußert werden (BSG, aaO).

Es ist unwahrscheinlich, dass der Kläger im damaligen Zeitraum ein Beschäftigungsverhältnis aus eigenem Willensentschluss eingegangen ist, da er keinen eigenen Geschäftswillen haben konnte.

Der Kläger war zu der Zeit, in der im Ghetto einer Beschäftigung nachgegangen sein will, 2 bis 4 Jahre alt.

Zwar besteht eine Altersuntergrenze für die Berücksichtigung der Beschäftigung eines Verfolgten in einem Ghetto in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich nicht (BSG, 02.06.2009 – B 13 R 139/08 RSozR 4-5075 § 1 Nr 5). Damit hat das Bundessozialgericht in erster Linie aber nur deutlich gemacht, dass keine Lebensalter-Untergrenze von 14 Jahren besteht (vgl LSG Berlin-Brandenburg, 07.04.2016 – L 27 R 802/15 – juris Rn 50).

Eine rechtliche Untergrenze bildet jedoch die auch damals gültige Vorschrift des § 104 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Danach ist geschäftsunfähig, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat.

Der in § 104 Nr. 1 BGB getroffenen Regelung liegt die Erwägung zugrunde, dass dem Menschen in den ersten Lebensjahren die verstandes- und willensmäßige Fähigkeit, die von der Rechtsordnung für die Wirksamkeit rechtsgeschäftlichen Handelns zu fordern ist (natürliche Willensfähigkeit), noch abgeht (vgl Knothe in Staudinger, BGB, § 104 Rn 3, Neubearbeitung 2012). Die Grenze des vollendeten 7. Lebensjahres wurde aus dem römisch-gemeinen Recht und den wichtigsten deutschen Partikularrechten übernommen (Knothe, aaO).

Da der Kläger im fraglichen Zeitraum erst 2 bis 4 Jahre alt gewesen ist, war er nicht geschäftsfähig und konnte somit keine Rechtsgeschäfte selbständig vornehmen. Er konnte somit keine Beschäftigung "aus eigenem Willensentschluss" aufnehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Rechtskraft
Aus
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