L 2 SO 5175/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 2118/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 5175/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 28 SGB X ist auf die Leistungen der Sozialhilfe, soweit sie antragsunabhängig ab Kenntnis des Sozialhilfeträgers einsetzen (§ 18 SGB XII), nicht anwendbar
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Oktober 2015 insoweit aufgehoben, als der Beklagte zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 21. August 2013 bis 4. September 2013 verurteilt worden ist.

Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist nur noch der Beginn der vom 5.9.2013 bis 31.1.2014 bewilligten Hilfe zum Lebensunterhalt.

Der am 26.7.1956 geborene Kläger hat bis 20.8.2013 von der AOK S. Krankengeld bezogen (Bl. 43 VA). Über Vermögen verfügt er nicht. Die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg bewilligte ihm rückwirkend ab 1.6.2013 bis 31.8.2015 (wegen bestehender Besserungsaussicht bei einer psychischen Erkrankung) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit i.H.v. 460,87 EUR, die sich ab 1.12.2013 auf 550,99 EUR erhöhte, nachdem feststand, dass der Kläger sich freiwillig krankenversichern muss und einen Zuschuss hierzu erhält (Bescheide der DRV vom 27.8.2013 und vom 16.10.2013, Bl. 45, 339 VA). Beginn der laufenden Zahlung jeweils für den Monat zum Monatsende war der 1.10.2013. Die Nachzahlung für die Zeit vom 1.6. bis 30.9.2013 wurde vorläufig bis zur Klärung von Ansprüchen anderer Stellen nicht ausgezahlt, ein kleiner Restbetrag kam erst im März 2014 zur Auszahlung.

Der Kläger bewohnt eine 57,50 m² große 3-Zimmer-Wohnung in T ... Hierfür hat er Aufwendungen in Höhe von 356,62 EUR (248,45 EUR Kaltmiete, 35 EUR Heizkosten, 70 EUR Nebenkosten, 3,17 EUR Müllgebühren), die vom Beklagten übernommen werden.

Nach seinen Angaben hat er am 16.8.2013 bei der Bundesagentur für Arbeit einen Antrag auf Arbeitslosengeld (Alg) I gestellt, der nach der Bewilligung von Erwerbsminderungsrente wegen der bestehenden Erwerbsminderung abgelehnt wurde.

Am 5.9.2013 (persönliche Vorsprache beim Bürgermeisteramt T., Eingang Formantrag am 6.9.2013) beantragte der Kläger beim Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) und bat am 18.9.2013 um ein Überbrückungsdarlehen für Oktober 2013 bis zum Eingang der Rentenzahlung am Monatsende (Bl. 15, 143, 161 VA). Mit Bescheid vom 30.10.2013 bewilligte der Beklagte dem Kläger ab 6.9.2013 bis 31.1.2014 HLU. Ausgehend von einem monatlichen Bedarf von 902,76 EUR (Kosten der Unterkunft 356,62 EUR, Regelbedarf 382 EUR, Mehrbedarf Warmwasserbereitung 8,79 EUR, Kranken- und Pflegeversicherung 155,35 EUR) betrug die HLU für den Monat September 2013 anteilig 752,30 EUR und in der Folge jeweils unter Anrechnung der Rente im Zuflussmonat für die Monate Oktober und November 2013 441,89 EUR und ab Dezember 2013 wegen der Rentenerhöhung 351,77 EUR. Die Leistungsgewährung erfolge in den Monaten September bis November 2013 als "Vorschuss auf die Rente". Zusätzlich gewährte die Beklagte "auf Antrag vom 16.8.2013" für den Monat Oktober 2013 ein Darlehen zur Überbrückung des notwendigen Lebensunterhalts bis zum Erhalt der ersten Rentenzahlung Ende Oktober 2013 i.H.v. 460,87 EUR. Absprachegemäß würden zur Tilgung des Darlehens ab dem 1.11.2013 monatlich 15 EUR von der HLU einbehalten (Bl. 363 VA).

Dagegen ließ der Kläger am 2.12.2013 Widerspruch einlegen (Bl. 465, 551 VA) und begehrte, für den Monat Dezember 2013 noch die geringere Rente in Höhe von 460,87 EUR anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Die zum Monatsende gezahlte höhere Rente stehe bedarfsdeckend erst im Folgemonat zur Verfügung. Weiter stünden ihm Leistungen bereits ab 21.8.2013 zu. Sein am 16.8.2013 bei der Bundesagentur für Arbeit gestellter Antrag wirke gem. § 16 Abs. 2 SGB I auch gegen den Sozialhilfeträger bzw. es greife die Rückwirkungsfunktion des § 28 SGB X. Der Beklagte habe den Antragseingang im Bescheid bestätigt. Die Aufrechnungsentscheidung sei mangels Rückforderungsanspruchs aufzuheben. Weiter habe der Kläger während des gesamten Zeitraums Anspruch auf laufende Leistungen als Zuschuss und nicht als Darlehen.

Der Beklagte hat dazu im Schreiben vom 13.1.2014 Stellung bezogen (Bl. 555 VA), die teilweise Abhilfe in Aussicht gestellt und den Kläger aufgefordert nachzuweisen, wann die Nachzahlung der Rente vom Rentenversicherungsträger an den Kläger erfolgt sei. Mit Schreiben vom 22.1.2014 half der Beklagte dem Widerspruch teilweise hinsichtlich der Einbehaltung in Höhe von 15 EUR ab und zahlte dem Kläger den bisher einbehaltenen Betrag von 45 EUR nach (Bl. 667, 747 VA).

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.3.2014 half der Beklagte dem Widerspruch insoweit ab, als die HLU auch für den 5.9.2013 gewährt wurde und dem Kläger für den Zeitraum 5.9.2013 bis 31.1.2014 insgesamt weitere 90,26 EUR HLU zuerkannt wurden. Die Leistungshöhe wurde für den bewilligten Zeitraum unter Berücksichtigung der tatsächlichen Krankenversicherungsbeiträge entsprechend der Fälligkeit und einer Haftpflichtversicherung neu festgesetzt. Danach ergaben sich in 2013 für die Zeit vom 5.9. bis 30.9. 704,71 EUR, für Oktober 512,66 EUR, für November 463,82 EUR und für Dezember 378,94 EUR sowie für Januar 2014 369,75 EUR. Im Übrigen wurde der Widerspruch - soweit ihm nicht bereits vorher hinsichtlich der Tilgungsrate von 15 EUR abgeholfen worden war - zurückgewiesen. Auch die zum Monatsende ausgezahlte höhere Rente für Dezember 2013 sei bereits in diesem Monat als zufließendes Einkommen anzurechnen gewesen. Für die Überbrückung einer Liquiditätslücke sei ein Darlehen zu gewähren. Im Zeitraum vom 21.8. bis 31.8.2013 habe der Beklagte von der Bedürftigkeit des Klägers keine Kenntnis gehabt. Der Antrag auf Alg I wirke nicht gegen den zuständigen Sozialhilfeträger. Soweit im Bescheid als Antragsdatum der 16.8.2013 aufgeführt worden sei, handele es sich offensichtlich um einen Schreibfehler.

Dagegen hat der Kläger am 2.5.2014 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erheben lassen und Sozialhilfeleistungen auch für den Zeitraum vom 21.8.2013 bis 4.9.2013 sowie die anspruchsmindernde Berücksichtigung des Renteneinkommens immer im Folgemonat, soweit es am Ende des Monats zugegangen sei, begehrt. Weiter hat er Klarstellung begehrt, dass der im angefochtenen Bescheid vom 30.10.2013 enthaltene Aufrechnungsbescheid aufgehoben werde. Der Kläger habe unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erkennen können, dass er ab 21.8.2013 nur noch Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe gehabt habe. Sein (Verlängerungs-)Antrag auf Krankengeld (gemeint wohl: Alg I), den er vor dem 21.8.2013 gestellt habe, sei als Antrag auf Leistungen zur Existenzsicherung auszulegen und wirke wegen § 16 Abs. 2 SGB I auch gegen den Beklagten bzw. sein am 5.9.2013 beim Beklagten gestellter Antrag wirke wegen § 28 SGB X auf den 21.8.2013 zurück. Renteneinkommen, das erst am Monatsende eingehe, stehe für den Monat bedarfsdeckend nicht zur Verfügung.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Er hat die Auffassung vertreten, dass es dem Kläger hinsichtlich des Zeitraums vom 21.8. bis 4.9.2013 zumutbar gewesen wäre, im Falle eines zu deckenden Bedarfes dies unverzüglich beim hierfür zuständigen Jobcenter Breisgau-Hochschwarzwald geltend zu machen. Hinsichtlich der Berücksichtigung des Renteneinkommens betrage der Bedarfszeitraum einen Kalendermonat, sodass Zuflüsse vom ersten bis zum letzten Tag eingeschlossen seien. Die Berücksichtigung des ersten Renteneinkommens noch im Monat Oktober 2013 sei bei tatsächlichem Zufluss am 30.10.2013 nicht zu beanstanden.

Das SG hat mit Urteil vom 15.10.2015 der Klage insoweit stattgegeben, als es den Beklagten verurteilt hat, dem Kläger HLU auch für den Zeitraum vom 21.8.2013 bis zum 4.9.2013 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass irgendwann im Bedarfszeitraum, also dem Kalendermonat, zufließendes Einkommen auch in diesem Monat zu berücksichtigen und zur Deckung bis dahin in diesem Monat entstehender Bedarfe lediglich eine darlehensweise Leistungsgewährung in Betracht zu ziehen sei. Der grundsätzlichen Anrechnung des Einkommens im Zuflussmonat stehe der spätere Zufluss im Bedarfszeitraum nicht entgegen. Dies sei höchstrichterlich geklärt (Hinweis auf BSG, Beschluss vom 23.11.2006 - B 11b AS 17/06 B). Hinsichtlich des Antrags auf Klarstellung, dass der Aufrechnungsbescheid aufgehoben werde, liege keine auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete Regelung im Sinne von § 31 S. 1 SGB X vor, die der Aufhebung bedürfe. Aus der ausdrücklichen Formulierung im Bescheid, dass die Einbehaltung zur Tilgung absprachegemäß erfolge, gehe für den Bescheidempfänger objektiv hervor, dass der Beklagte hiermit keine eigenständige Rechtswirkung herbeizuführen beabsichtige, sondern lediglich eine ihres Erachtens getroffene Vereinbarung wiederhole. Begründet sei die Klage auf Einsetzen des Anspruchs auf Sozialhilfe bereits vom 21.8.2013 an. Allerdings könne der Anspruch nicht auf § 16 Abs. 2 SGB I oder § 18 Abs. 2 SGB XII gestützt werden. Zwar gelte § 16 Abs. 2 SGB I entgegen seinem Wortlaut nach der Rechtsprechung des BSG auch für antragsunabhängige Sozialhilfeleistungen. Voraussetzung hierfür sei aber, dass die Notwendigkeit der Sozialhilfe bereits aufgrund des Antrags objektiv erkennbar sei. Der bei der unzuständigen Behörde gestellte Antrag müsse zumindest tatsächliche Angaben enthalten, aus denen auf das Vorliegen der Voraussetzungen des anderen Sozialleistungsanspruchs geschlossen werden könne. Dies sei für den unstreitig am 16.8.2013 bei der Agentur für Arbeit gestellten Antrag des Klägers auf Alg I bereits deshalb ausgeschlossen, da der Kläger nach seinen Angaben im Zeitpunkt dieser Antragstellung fest mit der Bewilligung des Alg I gerechnet habe und für ihn noch unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erkennbar gewesen sei, dass er einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe haben könne. Der Anspruch ergebe sich aber aus § 28 SGB X. Zwar scheine auch diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach nur für antragsabhängige Sozialleistungen zu gelten. Eine solche Auslegung würde jedoch der vom BSG im Urteil vom 26.8.2008 (Az. B 8/9b SO 18/07 R) erkannten möglichen Doppelnatur des Antrags nicht gerecht. Danach stelle ein Antrag nicht nur einen solchen im Rechtssinne dar. Er könne darüber hinaus eine Tatsachenerklärung beinhalten, welche die für die Kenntnis eines bei Kenntniserlangung von Amts wegen zum Tätigwerden verpflichteten Sozialleistungsträgers erforderlichen Informationen enthalte. In Konkurrenzsituationen antragsabhängiger Sozialleistungen mit nach dem Kenntnisgrundsatz zu gewährender Sozialhilfeleistungen sei daher § 28 SGB X so auszulegen, dass der Antrag sowohl die den Anspruch begründende Willenserklärung bei antragsabhängigen Sozialleistungen meine, als auch ein Leistungsbegehren, welches die das Einsetzen der Sozialhilfe begründende Kenntnis vom Hilfefall vermittele. Nur diese Auslegung verhindere sachlich nicht zu rechtfertigende Wertungswidersprüche. Würde § 28 SGB X auf antragsabhängige Sozialleistungen beschränkt, hinge in Konstellationen wie dieser seine Anwendung davon ab, ob dem Kläger eine Rente wegen Alters unbefristet oder lediglich befristet zugesprochen werde. Im letztgenannten Fall stehe dem Kläger ergänzende HLU nach dem Kenntnisgrundsatz zu, während im erstgenannten Fall ein Anspruch auf antragsabhängiger Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII bestehe. Danach seien die Voraussetzungen von § 28 S. 2 SGB X erfüllt. Der Kläger habe die rechtzeitige Geltendmachung von Sozialhilfeansprüchen aus Unkenntnis über deren Anspruchsvoraussetzungen unterlassen. Ihm sei bei der Vorsprache bei der Agentur für Arbeit am 16.8.2013 die seinen Anspruch auf Alg I ausschließende Erwerbsminderung sowie die daraus resultierende Hilfebedürftigkeit nicht bekannt gewesen. Bei Kenntnis hätte er statt dessen einen Antrag auf die nachrangige Sozialhilfe gestellt. Der Kläger habe den Antrag beim Sozialhilfeträger auch rechtzeitig innerhalb von 6 Monaten nach Ablehnung des Antrags auf Alg I nachgeholt. Der Antrag wirke deshalb bis zu einem Jahr zurück. Die seine Hilfebedürftigkeit begründenden Tatsachen hätten nicht dargetan werden müssen, weil gemäß § 28 SGB X nicht der frühere, insoweit unvollständige Antrag gegen den zuständigen Leistungsträger, sondern der spätere (nunmehr vollständige Antrag) beim zuständigen Leistungsträger Rückwirkung entfalte.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis am 25.11.2015 zugestellte Urteil hat er am 15.12.2015 schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Berufung eingelegt und für den Monat Oktober 2013 Leistungen der Sozialhilfe ohne anspruchsmindernde Berücksichtigung des Renteneinkommens in Höhe von 460,87 EUR begehrt. Der Klägervertreter hat an seiner Auffassung festgehalten, dass am Ultimo des Monats eingehendes Renteneinkommen nicht zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehe. Auf richterlichen Hinweis hin hat der Klägervertreter die Berufung für erledigt erklärt (Schriftsatz vom 18.2.2017).

Der Beklagte hat gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 25.11.2015 zugestellte Urteil mit Schreiben vom 18.12.2015, das am Mittwoch, den 23.12.2015 zur Post aufgegeben wurde und am Dienstag, den 29.12.2015 beim LSG einging, ebenfalls schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg hinsichtlich der Verurteilung durch das SG Berufung eingelegt. Das laut Sendebericht vorab gefaxte Berufungsschreiben liegt nicht vor (vgl. hierzu Bl. 1933 VA).

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass § 28 SGB X seinem Wortlaut nach lediglich für antragsabhängige Leistungen, nicht aber für Leistungen wie die HLU, die nach dem Kenntnisgrundsatz zu erbringen sei (§ 18 SGB XII), anwendbar sei. Die insofern "beauftragten Stellen" seien in § 18 Abs. 2 SGB XII konkret benannt. Demnach hätte sich der Kläger bei finanziellen Nöten bis zur Bewilligung von Alg I an eine Gemeindeverwaltung oder an einen anderen - nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe - aber nicht einfach nur an einen Sozialleistungsträger im Sinne von § 12 SGB I wenden müssen. § 18 SGB XII gehe als spezialgesetzliche Regelung der allgemeinen - und nur bei antragsabhängigen Leistungen anzuwendenden - Regelung in § 28 SGB X vor. Würde man der Rechtsauffassung des SG uneingeschränkt folgen, so bestünde für jeden Antragsteller, der dem Grunde nach dem Rechtskreis des Dritten Kapitels des SGB XII zuzuordnen wäre, im Nachhinein die Möglichkeit, mit den jeweiligen Ablehnungsbescheiden aus sämtlichen Leistungsbereichen der verschiedenen Sozialgesetzbücher zum zuständigen Sozialhilfeträger zu gehen und dort rückwirkend - analog des "Kenntnisgrundsatzes" - existenzsichernde Sozialhilfeleistungen zu beanspruchen. Dies sei weder mit dem Bedarfsdeckungsgrundsatz vereinbar, der auf die Beseitigung aktueller Notlagen ausgerichtet sei, noch könne dies vom Gesetzgeber so beabsichtigt gewesen sein, da sonst auf die eindeutige Regelung in § 18 Abs. 2 SGB XII hinsichtlich der "beauftragten Stellen" wohl verzichtet worden wäre.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Oktober 2015 insoweit aufzuheben, als der Beklagte zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt an den Kläger auch für den Zeitraum vom 21. August 2013 bis 4. September 2013 verurteilt worden ist.

Der Kläger beantragt sinngemäß noch,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil insoweit für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsatz des Klägervertreters vom 9.1.2017 und des Beklagten vom 13.12.2016).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (Bd. I - IV) sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung des Beklagten hat Erfolg.

Die vom SG zugelassene Berufung ist zulässig (§ 144 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 SGG). Sie ist auch durch den Beklagten trotz Zustellung des SG-Urteils an ihn am 25.11.2015 unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) am Dienstag, den 29.12.2015 unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 4 SGG) eingelegt worden. Der Beklagte war ohne Verschulden verhindert, die Monatsfrist für die Einlegung der Berufung einzuhalten. Bei ordnungsgemäßem Postlauf konnte bei der Aufgabe zur Post am 23.12.2015 auch über Weihnachten mit dem rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift am Montag, dem 28.12.2016 gerechnet werden, was im Hinblick auf den Fristablauf am Weihnachtsfeiertag und den darauf folgenden Sonntag die Frist gewahrt hätte (§ 64 Abs. 3 SGG). Es handelt sich daher um eine selbständige Berufung auch des Beklagten und nicht um eine unselbständige Anschlussberufung, die sich durch die Rücknahme der Berufung durch den Kläger erledigt hätte. Die Berufung des Beklagten ist auch begründet. Das SG hat den Beklagten zu Unrecht zur Gewährung von HLU auch für die Zeit vom 21.8.2013 bis zum 4.9.2013 verurteilt.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 30.10.2013 und der Teil-Abhilfebescheid vom 22.1.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3.2014, mit dem der Beklagte dem Kläger letztlich HLU für die Zeit vom 5.9.2013 bis 31.1.2014 als Zuschuss und für den Monat Oktober als Überbrückung bis zum Eingang der ersten Rentenzahlung am Monatsende teilweise - in Höhe der zu erwartenden Rente von 460,87 EUR - als Darlehen bewilligt hat. Dagegen hat sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage gewandt und einerseits Leistungen schon für die Zeit vom 21.8.2013 bis 4.9.2013 begehrt, die das SG zugesprochen hat. Die andererseits begehrte weitere Zuschussgewährung für den Monat Oktober 2013 verfolgt der Kläger nicht mehr. Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen seine Verurteilung zur Leistungsgewährung vor dem 5.9.2013.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf HLU für die Zeit vor dem 5.9.2013. Hilfe zum Lebensunterhalt ist Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Eigene Mittel sind insbesondere das eigene Einkommen und Vermögen (§ 27 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB XII). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger zwar, da er seinen Bedarf von 902,76 EUR auch nicht in der Zeit vom 21.8.2013 bis 4.9.2013 allein durch sein Renteneinkommen in Höhe von 460,87 EUR decken konnte und über Vermögen nicht verfügte. Die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, setzt aber erst ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen (§ 18 Abs. 1 SGB XII). Dem Beklagten ist die Hilfebedürftigkeit des Klägers erstmals durch die Vorsprache beim Bürgermeisteramt T. am 5.9.2013 bekannt geworden.

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass ein Anspruch nicht nach § 16 Abs. 2 SGB I (Antragstellung bei einem unzuständigen Leistungsträger) oder § 18 Abs. 2 SGB XII (Bekanntwerden bei einem unzuständigen Sozialhilfeträger oder Gemeinde) vermittelt wird. Denn der nach Angaben des Klägers bei der Bundesagentur für Arbeit gestellte Antrag auf Alg I (§§ 136 ff SGB III) hat gänzlich andere Voraussetzungen und lässt die Notwendigkeit von Sozialhilfe nicht objektiv erkennbar zu Tage treten. Bekanntwerden i.S. des § 18 SGB XII bedeutet, dass die Notwendigkeit einer Leistung der Sozialhilfe als solche dargetan oder sonstwie erkennbar ist (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider SGB XII, 5. Aufl. § 18 Rn. 7). Deshalb wird die für das Einsetzen der Sozialhilfe erforderliche Kenntnis vom Hilfefall (§ 18 Abs. 1 SGB XII) durch den Antrag auf Alg I nicht vermittelt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Begründung des SG hierzu ergänzend Bezug genommen. Es muss für die Anwendung des § 16 Abs. 2 SGB I vielmehr in aller Regel ein eindeutiges Leistungsbegehren mit der ausdrücklichen Zielrichtung der Erbringung von Sozialhilfe vorliegen (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, aaO. Rn. 18). Bei der Agentur für Arbeit handelt es sich auch nicht um eine beauftragte Stelle i.S. des § 18 Abs. 1 SGB XII (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.12.2005 - L 23 B 1087/05 SO PKH, juris Rn 16; BeckOK SozR/Groth SGB XII § 18 Rn. 6, beck-online). Zutreffend hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass der Kläger bei finanziellen Nöten sich an eine Gemeindeverwaltung oder an einen Träger der Sozialhilfe, aber nicht nur an einen Sozialleistungsträger i.S. von § 12 SGB I hätte wenden müssen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit als unzuständigem Leistungsträger einen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe gestellt hat. Entsprechendes ist auch nicht vorgetragen worden.

Entgegen der Rechtsauffassung des SG kann das Einsetzen der Hilfe vor dem 5.9.2013 auch nicht über § 28 SGB X vermittelt werden. Gemäß § 28 Satz 1 SGB X wirkt ein nachgeholter Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn ein Leistungsberechtigter von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen hat, weil ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und diese Leistung versagt wird oder sie zu erstatten ist. Nach Satz 2 gilt dies auch dann, wenn der rechtzeitige Antrag auf eine andere Leistung aus Unkenntnis über deren Anspruchsvoraussetzungen unterlassen wurde und die zweite Leistung gegenüber der ersten Leistung, wenn diese erbracht worden wäre, nachrangig gewesen wäre. Die Vorschrift des § 28 SGB X beinhaltet somit eine spezielle Form der materiellen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für den Fall der verspäteten Antragstellung auf eine Sozialleistung (Franz, in jurisPK-SGB X, § 28 SGB X, Rn. 9). Mit § 28 SGB X sollen Rechtsnachteile vermieden werden, wenn ein Berechtigter in Erwartung eines positiven Bescheides einen Antrag auf eine andere Sozialleistung – möglicherweise nach einem langen Verwaltungsverfahren – nicht gestellt hat (BT-Drucks 8/4022, S 81 f.; Siefert, in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 28 Rn. 3). Die Vorschrift verfolgt gleichzeitig prozessökonomische Gesichtspunkte und will die Verwaltung vor einer Vielzahl nur vorsorglich gestellter Anträge bewahren (BT-Drucks 8/2034, S. 48, vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.7.2014 – L 12 AS 4500/13 –, Rn. 20, juris).

Die Voraussetzungen könnten vorliegen, wenn man davon ausgeht, dass der Kläger bei Kenntnis vom Nichtbestehen des Anspruchs auf Alg I die nachrangige HLU bereits vor dem 5.9.2013 beantragt hätte. § 28 SGB X findet jedoch - anders als im Bereich der antragsabhängigen Leistungen des SGB II, für die das anerkannt ist (BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 16/09 R –, juris Rn. 22) - im Bereich der Sozialhilfe keine Anwendung. § 18 SGB XII geht vom Kenntnisgrundsatz und anders als § 37 SGB II für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht vom Antragsprinzip aus. Die Vorschrift dient zwar zum Schutze von Leistungsberechtigten der Sicherstellung eines niedrigschwelligen Zugangs zum Sozialhilfesystem. Es ist nicht vorrangige Aufgabe des § 18 SGB XII, Leistungen für die Vergangenheit auszuschließen, sondern ein rechtzeitiges Eingreifen des Sozialhilfeträgers auch ohne Antrag zu gewährleisten. Die Kenntnis braucht sich deshalb auch nicht auf die Höhe der zu erbringenden Leistung, sondern allein auf den Bedarf und die Hilfebedürftigkeit zu beziehen; der Sozialhilfeträger muss also lediglich Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem haben (BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 18/10 R –, juris Rn. 21 m.w. Nw.; Coseriu, in jurisPK-SGB XII, § 18 SGB, Rn. 15). Die Antragsunabhängigkeit der Sozialhilfe soll dazu dienen, dass sie ihre Funktion erfüllen kann, die Menschenwürde zu sichern.

Auf der anderen Seite kann sich der Kenntnisgrundsatz gegenüber dem Antragsprinzip aber auch nachteilig erweisen. Antragsabhängige Sozialleistungen werden regelmäßig rückwirkend ab Antragstellung (oder sogar weiterreichend rückwirkend) gewährt (siehe auch § 44 Abs. 1 S. 2 SGB XII), während die Sozialhilfe frühestens mit der Kenntnis von den Voraussetzungen für ihre Gewährung einsetzt (Grube in Grube/Wahrendorf, 5. Aufl. 2014, § 18 Rn. 3). § 28 SGB X, der eine Antragstellung mit Rückwirkung unter bestimmten Umständen ermöglicht, ist in der Sozialhilfe nicht anwendbar (Grube in Grube/Wahrendorf, aaO., Rn. 9). Die Nichtanwendbarkeit beruht darauf, dass hier der abweichende Grundsatz gilt, dass Leistungen für die Vergangenheit nicht zu gewähren sind und die Leistungen gemäß § 18 SGB XII zudem frühestens mit dem Bekanntwerden des Bedarfs beginnen (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl., § 18 Rn. 27; Grube in Grube/Wahrendorf, aaO., Rn. 9).

Kenntniserlangung ist zudem ein tatsächlicher Vorgang, der sich nicht für die Vergangenheit - wie bei einem Antrag oder der Versäumung einer Frist (§ 67 SGG) - fingieren lässt. § 28 SGB X bezieht sich nur auf die Rückwirkung eines wiederholten Antrags, sie ist dagegen nicht auf die Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen anzuwenden, wie für die Arbeitslosenmeldung und die Arbeitsunfähigkeitsmeldung entschieden worden ist (BSG v. 19.3.1986 - 7 RAr 17/84, SozR 1300 § 28 Nr. 1: Arbeitslosenmeldung nach §§ 118 Abs. 1 Nr. 2, 122 SGB III; BSG v. 22. 2. 1989 - 8 RKn 8/88, SozR 2200 § 216 Nr. 11: Arbeitsunfähigkeitsmeldung nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V). Sie gilt auch nicht für Verfahren, in denen die Behörde von Amts wegen tätig werden muss und auch nicht für das Vorverfahren, weil hier lediglich Anträge behandelt werden, mit denen erstinstanzliche Verwaltungsverfahren beginnen (Vogelgesang in: Hauck/Noftz, SGB, 06/12, § 28 SGB X, Rn. 3).

Die gegenteilige Auffassung, dass § 28 SGB X trotz des Kenntnisgrundsatzes auch für das SGB XII gelten müsse, da durch diese Vorschrift Rechtsnachteile ausgeglichen werden sollen, die dadurch entstanden sind, dass der Hilfesuchende zuerst vorrangige Ansprüche geltend gemacht hat, überzeugt nicht (so Dauber in Mergler/Zink SGB XII, Stand November 2012, § 18 Rn. 19; ebenso Sartorius, Der Antrag im Sozialrecht, ASR 6/2014, 247, 253). Eine nähere Begründung wird hierzu nicht gegeben und lediglich auf die Rechtsprechung zum SGB II verwiesen (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 19.10.2010- -B 14 AS 16/09 R). Die Leistungen sind jedoch, wie bereits oben dargestellt, insofern nicht vergleichbar, weil im SGB II der Antragsgrundsatz (§ 37 SGB II) gilt.

Zudem wäre es mit dem Wesen der HLU nicht vereinbar, dass je nach Dauer des Ausgangsverfahrens für Zeiträume bis zu einem Jahr zurück HLU geleistet werden müsste, ohne dass der Sozialhilfeträger die nach § 18 SGB XII erforderliche Kenntnis gehabt hätte.

Die Berufung des Beklagten hatte daher Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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