S 8 KR 779/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 779/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.5.2013 verurteilt, die Kosten für eine Unterkiefer-Protrusions-schiene nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu übernehmen. Der Beklagten werden die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einer Unterkiefer-Protrusions-schiene (Kostenübernahme in Höhe von ca. 1.800 Euro).

Bei der 1965 geborenen Klägerin besteht ein leichtgradiges Schlafapnoesyndrom mit klinisch-relevanter Tagessymptomatik mit Morgenmüdigkeit, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsstörungen, morgendlichem Kopfschmerz sowie depressiven Verstimmungen. Sie beantragte im März 2012 die Kostenübernahme für eine Unterkiefer-Protrusions-schiene unter Vorlage eines Heil- und Kostenplans und eines Kostenvoranschlags des Zahnarztes N sowie verschiedener weiterer Unterlagen (Stellungnahme des N, Aufsatz und Positionspapier der Deutschen Gesellschaft zahnärztlicher Zahnmedizin – DGZS -). Nach Vorlage dieser Unterlagen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 14.03.2012 ab: Bei der Unterkiefer-Protrusionsschiene handele es sich um kein gelistetes Hilfsmittel. Der Einsatz eines CPAP-Gerätes stehe als Therapie zur Verfügung, gegenüber dem laut Studien die Unterkiefer-Protrusionsschiene unterlegen sein solle. Es sei vorliegend keine fachärztliche Begründung gegen die Anwendung der CPAP-Therapie ersichtlich.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch, mit dem sie geltend machte, dass seit Oktober 2011 keine Anwendung der CPAP-Therapie bzw. der Maskentherapie mehr erfolge, da diese nicht mehr toleriert werde. Die Maske verrutsche nachts im Schlaf, wecke wiederholt durch entweichende Luft, verursache Wiedereinschlafstörungen und erweise sich als stark sozialstörend. Sie konnte maximal 4 Stunden genutzt werden. Sie nutze die Maske seit Oktober 2011 nicht mehr, weil die Nebenwirkungen zum Schluss ein Angstgefühl vor dem Schlafengehen entwickelt hätten. Im Gegensatz dazu könne sie bereits mit der Unterkiefer - test - schiene über 7 Stunden durchschlafen und brauche seitdem auch kein Schlafmittel mehr. Die Nasenschleimhäute seien deutlich erholt und sie fühle sich ausgeschlafener und gesünder. Nach erneuter Anhörung des MDK wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2013 zurück. Es handele sich bei der Therapie mit einer Unterkiefer-Protrusionsschiene um eine neue unkonventionelle Behandlungsmethode ohne die erforderliche Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Dies habe auch das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 4.1.2012 – S 112 KR 766/09 – so entschieden. Nach der Beurteilung des MDK sei die CPAP-Behandlung die Therapie der ersten Wahl. Die Klägerin hat gegen die ablehnenden Bescheide Klage erhoben, mit der sie die Übernahme der Kosten für eine Unterkiefer-Protrusionsschiene weiterverfolgt. Der geltend gemachte Anspruch sei begründet. Es handele sich nicht um eine neue Behandlungsmethode, da die Versorgung mit einer Protrusionsschiene zuvor im Hilfsmittelverzeichnis gelistet gewesen sei. Die vom MDK vorrangig als geeignet erachtete CPAP-Therapie werde nicht vertragen und sei zudem teurer und unwirtschaftlicher. Dieser Rechtsstandpunkt werde von den Sozialgerichten Lübeck, Hannover und Kiel bestätigt (Urteile vom 19.05.2011 – S 3 KR 982/08 -, vom 11.04.2013 – S 10 KR 349/10 -, richterlicher Hinweis des Sozialgerichts Hannover vom 15.03.2012 – S 76 KR 974/11 -). Bis August 2014 sei es ihr möglich gewesen, eine Testschiene zu nutzen, die zu einer erfolgreichen Behandlung geführt habe. Über diesen Zeitpunkt hinaus wäre dies nach der restlosen Abnutzung der Testschiene aus zahnmedizinischen bzw. kieferorthopädischen Gründen nicht mehr möglich gewesen. Seit dem sei sie erneut hinsichtlich ihres Schlafapnoesyndroms unversorgt und es hätten sich die ursprünglichen Beschwerden mit z.B. Tagesmüdigkeit und Kopfschmerzen wieder eingestellt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.3.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.5.2013 zu verurteilen, die Kosten für eine Unterkiefer-Protrusionsschiene zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide aus den dort ausgeführten Gründen für rechtmäßig und sieht sich zudem durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28.09.2006 – B 3 KR 28/05 R – bestätigt.

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze und Unterlagen der Beteiligten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit einer Unterkiefer-Protrusionsschiene zu, §§ 11, 27, 33 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V).

Bei der Versorgung der Klägerin mit einer Unterkiefer-Protrusionsschiene handelt es sich um die Versorgung mit einem Hilfsmittel als notwendige, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistung im Sinne des § 12 SGB V.

Medizinisch notwendig ist die Versorgung mit einer Unterkiefer-Protrusionsschiene, da die Klägerin nachweislich an einem Schlafapnoesyndrom leidet. Die polysomnographischen Untersuchungen haben insoweit eine Verbesserung der Frequenz der Atemaussetzer ergeben (ohne Therapie: 14 pro Stunde, mit Unterkieferprotrusionsschiene: 2,5 pro Stunde – siehe auch Polysomnographie-Auswertung, P/I, vom 18.2.2012 -). Die von den behandelnden Ärzten im Jahr 2011 zunächst und später von der Beklagten und dem MDK für angezeigt gehaltene CPAP-Therapie hat dagegen nicht den erforderlichen Behandlungserfolg ergeben, da unabhängig von dem insoweit messbaren Behandlungserfolg (vgl. Darstellung der Klägerin im Widerspruchsschreiben vom 28.3.2012: unter CPAP-Therapie ein AHI von 7,7 pro Stunde (?) ) wurde die CPAP-Therapie nicht toleriert, womit der vorliegende Fall keinen Einzelfall darstellt (vgl. S3–Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung & Schlafmedizin – DGSM - zu "Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen"; Somnologie – Schlafforschung und Schlafmedizin (Suppl 1). 2009, S. 65).

Der Versorgung mit einer Unterkiefer-Protrusionsschiene steht nicht der Umstand entgegen, dass die Unterkiefer-Protrusionsschiene im Hilfsmittelverzeichnis nicht mehr gelistet ist (seit Januar 2006: vgl. Gutachten des MDK vom 2.7.2012, S. 3). Insoweit folgt die Kammer nach eigener Prüfung der nachvollziehbaren und überzeugenden rechtskräftigen Entscheidung des Sozialgerichts Kiel vom 11.4.2013 (a.a.O.). Insbesondere haben die dort aufgeführten Umstände, dass die einschlägige S3-Leitlinie "Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen" bei Patienten mit leichter oder mittelgradiger obstruktiver Schlafapnoe die Unterkiefer-Protrusionsschiene als eine Therapieoption mit dem hohen Evidenzgrad "A" aufführt (vgl. Seite 19 der Kurzfassung der Leitlinie i.V.m. der Langfassung, a.a.O., S. 5), überzeugt; sowie der weitere zutreffende Hinweis, dass auch der Gemeinsame Bundesausschuss offensichtlich nicht von der Erforderlichkeit einer positiven Empfehlung gem. § 135 SGB V ausgeht (Zusammenfassender Bericht des Unterausschusses "Ärztliche Behandlung" des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beratungen von 1998 - 2004 zur Bewertung der Polygraphie und Polysomnographie im Rahmen der Differenzialdiagnostik und Therapie der schlafbezogenen Atmungsstörungen gem. § 135 Abs. 1 SGB V, vom 27.01.2006, S. 23). Darüber hinaus erachtete der Gemeinsame Bundesausschuss die Unterkiefer-Protrusionsschiene ("Esmarch–Orthese") offensichtlich nicht nur als wirksames Mittel, sondern im Verhältnis zur CPAP-Therapie als eine vorrangige Behandlungsmethode: "Reichen diese Maßnahmen (u.a. Unterkiefer-Protrusionsschiene; die Verfasserin) nicht aus und besteht weiterhin eine behandlungsbedürftige Schlafapnoe, hat sich der Einsatz der so genannten CPAP-Therapie bewährt (Zusammenfassender Bericht des Unterausschusses "Ärztliche Behandlung"; a.a.O. S. 23).

Auch das Bundessozialgericht hat in der von der Beklagten in Bezug genommenen Entscheidung vom 28.9.2006 – B 3 KR 28/05 R – (juris.de) ausgeführt, dass eine Anerkennung einer neuen Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 135 SGB V nicht herbeizuführen ist, wenn ein Hersteller ein neues Hilfsmittel auf den Markt bringt, das nicht der Anwendung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode dient, sondern im Rahmen einer eingeführten, anerkannten Behandlungsmethode zum Einsatz kommen soll (a.a.O., Rd. 32). Nichts anderes kann gelten, wenn die Anwendung des Hilfsmittels in der Vergangenheit bereits anerkannt war, sowie dies vorliegend ausweislich der bis 2006 (vgl. MDK–Gutachten vom 2.7.2012) geltenden Hilfsmittelliste der Fall war. Hinzu kommt, dass – wie bereits ausgeführt – jedenfalls seit 2009 erhebliche Evidenzen und eine entsprechende S3-Leitlinie existieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Rechtskraft
Aus
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