S 15 VJ 1/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 VJ 1/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Multiple Sklerose (ADEM)
Impfschadensfolge
IfSG
I. Der Beklagte wird verurteilt, die beim Kläger vorliegende Sonderform der Multiplen Sklerose (ADEM) ab 01.02.2003 als Impfschadensfolge im Wege der Kannversorgung anzuerkennen und ab diesem Zeitpunkt Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu gewähren.

II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in vollem Umfang.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Nervenerkrankung (Form der Multiplen Sklerose) als Folge von zwei Hepatitis-Impfungen.

Der am ...1954 geborene Kläger ist studierter Diplom-Agraringenieur und war bis zum Januar 2003 als Marketing-Manager bei einer Medizinzubehör-Lieferfirma, genannt "TycoHealthcare", in ... beschäftigt. Am 30.09.1997 und am 27.10.1997 wurden ihm zur Prophylaxe gegen Hepatitis A und B zwei Impfungen mit dem Impfstoff "Twinrix" (Hersteller: Fa. Glaxo-SmithKline) verabreicht. Zusätzlich erfolgte am 06.10.1997 eine Grippeimpfung. Laut Angaben des Klägers im Impfschadensantrag vom 19.02.2003 verspürte er erstmals am 13. oder 14. Januar 1998 eine Gefühllosigkeit der rechten Hand und des rechten Unterarmes. In Kernspintomogrammen des Schädels und der HWS vom Januar/Februar 1998 wurden erstmals verdächtige Herde im Hinblick auf das Vorliegen einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) festgestellt. Ende Februar 1998 befand sich der Kläger zur stationären Abklärung im Bezirksklinikum ... Trotz des unauffälligen Liquorbefundes bestätigte das Bezirksklinikum ... den Verdacht einer Multiplen Sklerose (Befundbericht vom 25.03.1998). Im vorgenannten Befundbericht wurde darauf hingewiesen dass nach einer Akupunkturbehandlung bereits Anfang 1997 ein Pelzigkeitsgefühl der linken Gesichtshälfte bestanden habe. Hierzu ergibt sich Folgendes aus der Akte: Der behandelnde Hausarzt des Klägers, Dr. S ..., hatte im Dezember 1996 bei diesem wegen einer Sinusitis maxillaris eine Akupunktur durchgeführt. Am 30.12.1996 dokumentierte Dr. S ... beim Kläger eine Hypästhesie der linken Gesichtshälfte, die seit 2 Wochen bestehe. Dr. S ... erklärte hierzu im ärztlichen Attest vom 07.03.2005, dass die Akupunkturnadel bei dieser Behandlung direkt am Nervenaustrittspunkt im Bereich des zweiten Trigeminus-Astes beidseits gestochen wird. Hierbei kann es zu Nebenwirkungen in der Form kommen, dass Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des entsprechenden Nerven eintreten. Er sehe daher einen zwingenden Kausalzusammenhang zwischen der Akupunkturbehandlung und den Sensibilitätsstörungen an der linken Gesichtshälfte. Einen Zusammenhang mit der wesentlich später diagnostizierten Multiplen Sklerose könne er dagegen nicht feststellen.

Am 12.02.2003 stellte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung der Multiplen Sklerose als Impfschadensfolge. Die Ehefrau des Klägers sagte in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 03.02.2004 aus, dass bei ihm bereits Ende November 1997 die ersten Zeichen der Nervenerkrankung aufgetreten seien. Sie hätten sich in Form eines Pelzigkeitsgefühls des rechten Zeigefingers gezeigt. Ihr Mann sei jedoch nicht zum Arzt gegangen, weil er beruflich sehr unter Druck gestanden habe. Erst als sich die Symptomatik noch weiter verschlechtert habe, insbesondere als er beim Einkaufen an der Kasse den Geldbeutel nicht mehr aus der Gesäßtasche nehmen habe können und auch keinen Stift mehr halten habe können, habe er im Januar 1998 einen Arzt aufgesucht.

Zur Klärung des Kausalzusammenhangs erstellte Dr. A ... für den Beklagten ein nervenärztliches Gutachten. Im Gutachten vom 07.12.2004 kam sie zu dem Ergebnis, dass zwar mittlerweile das Vorliegen einer Multiplen Sklerose gesichert sei. Aus ihrer Sicht spreche aber mehr gegen als für einen Kausalzusammenhang. Bereits im Dezember 1996 seien Gefühlsstörungen an der linken Gesichtsseite aufgetreten, welche sie als Erstmanifestationszeichen einer Multiplen Sklerose wertete. Zudem gäbe es eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den Impfungen gegen Hepatitis B/Hepatitis A und der Entstehung einer Multiplen Sklerose unwahrscheinlich sei. Die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs reiche für eine Anerkennung nicht aus.

Der Nervenarzt Dr. K ... teilte in seinen Stellungnahmen vom 01.02.2005 und vom 03.06.2005 die Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen den Hepatitis-Impfungen und der Multiplen Sklerose nicht wahrscheinlich sei. Auch er sehe in den Sensibilitätsstörungen an der linken Gesichtshälfte, die im Dezember 1996 auftraten, erste Zeichen einer Multiplen Sklerose (MS). Zudem spräche die Tatsache, dass in den MRT-Aufnahmen der HWS und des Schädels vom Januar/Februar 1998 bereits radiologisch erkennbare Herde vorhanden waren, für einen bereits länger zurückliegenden tatsächlichen Beginn der Erkrankung. Die 3 Monate zwischen den Impfungen und dem radiologischen Nachweis seien hierfür zu kurz.

Auf Grund der ärztlichen Gutachten lehnte der Beklagte im Bescheid vom 05.07.2005 die Anerkennung eines Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz, sowie eine entsprechende Versorgung ab. Hiergegen legte der Kläger am 25.07.2005 Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde im Widerspruchsbescheid vom 14.03.2006 zurückgewiesen.

Gegen diesen Widerspruchsbescheid wurde mit Schreiben vom 22.03.2006 Klage beim Sozialgericht Landshut eingereicht.

Das Sozialgericht Landshut hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers, Dr. P ... in R und Dr. S ... in A-Stadt, sowie Erkrankungsunterlagen der verschiedenen Krankenkassen des Klägers beigezogen. Dr. S ... führte im Befundbericht vom 15.03.2007 aus, dass der Kläger seit 18 Jahren in seiner hausärztlichen Behandlung stehe. Am 19.01.1998 sei er erstmals wegen neurologischer Symptome mit Missempfindungen im Bereich der rechten Hand in seiner Praxis vorstellig geworden. Nach neurologischer Untersuchung sei der Verdacht einer Multiplen Sklerose gestellt worden, im Oktober 1998 sei es zu einer Verschlechterung der Symptomatik gekommen, im Juli 2000 sei ein erneuter Schub mit stationärer Behandlungspflicht aufgetreten. Im Wesentlichen bestünden Geh- und Gleichgewichtsstörungen, Missempfindungen in Händen, Beinen und Füßen, sowie im Bereich des Abdomens, Müdigkeit, Kältegefühl und allgemeine Verlangsamung, Leistungsschwäche. Die Greiffunktion sei vor allem im Bereich der rechten Hand gestört. Unzweifelhaft bestehe eine Multiple Sklerose vom schubförmig progredienten Verlaufstyp. Seit 02.04.2002 bestehe durchgehend Arbeitsunfähigkeit. Der Neurologe Dr. P ... bestätigte in seinem Befundbericht vom 22.03.2007 im Wesentlichen die vorgenannten Feststellungen. Ende November 1997 sei eine erste Symptomatik im Sinne von Parästhesien der Finger aufgetreten. Das Vollbild der Erkrankung habe sich im Jahr 1998 gezeigt. Insgesamt zeige die Erkrankung eine (mäßig) progrediente Verlaufsform.

Zur Klärung des Kausalzusammenhangs hat das Sozialgericht Landshut die Direktorin der Klinik für molekulare Neurologie der ...in B ... zur ärztlichen Sachverständigen ernannt. Im Gutachten vom 25.06.2007 führte sie aus, dass aus ihrer Sicht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Hepatitis-Impfungen und der MS-Erkrankung des Klägers nicht wahrscheinlich sei. Es gäbe wesentlich mehr Argumente gegen als für einen ursächlichen Zusammenhang. Es gäbe mittlerweile umfangreiche Studien zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen einer Hepatitis B-Impfung und einer MS-Erkrankung.

Auf Antrag des Klägers wurde ein Gutachten des Experten für Impfstoff-Sicherheit, Dr. H ... aus W ..., eingeholt. Dieser vertrat in seinem Gutachten vom 16.01.2008 die Auffassung, dass beim Kläger eine Sonderform der Multiplen Sklerose, nämlich eine sog. akute disseminierte Encephalomyelitis (ADEM) bestehe. Signifikant dafür sei die Tatsache, dass beim Kläger die sog. MS-typischen oligoklonalen Banden im Liquor nicht nachweisbar waren. Auch die Bildgebung und der Verlauf der Erkrankung seien eher typisch für eine rezidivierende ADEM. Diese Erkrankung sei mit Wahrscheinlichkeit durch die Impfungen mit dem Impfstoff "Twinrix" im September und Oktober 1997 verursacht worden. Ein Vorschaden sei nicht nachzuweisen, zumal der Kernspinbefund des Schädels vom Januar 1997 keinen pathologischen Befund ergeben habe. Er befürwortete die Anerkennung dieser Sonderform der Multiplen Sklerose (ADEM) als Impfschadensfolge. Den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) setzte er seit Antragstellung (Februar 2003) mit 80 v.H. fest.

Der Kläger beantragt, den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 05.07.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2006 die Sonderform der Multiplen Sklerose (ADEM) als Impfschadensfolge anzuerkennen und ab 01.02.2003 eine Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz zu gewähren. Hilfsweise beantragt er die Anerkennung der Impfschadensfolge im Wege der Kannversorgung.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Versorgungsakte, sowie die Schwerbehindertenakte, die beim Beklagten geführt werden, sowie auf die vorliegende Streitakte.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Nach der Überzeugung der Kammer kann zwar die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft noch nicht ausreichend beurteilt werden, es liegen jedoch die Voraussetzungen der Kannversorgung nach § 61 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vor.

Wer durch eine öffentlich empfohlene Impfung mit Wahrscheinlichkeit einen Impfschaden erlitten hat, hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (gemäß § 60 Abs.1 IfSG). Ein Impfschaden ist gemäß § 2 Nr.11 IfSG ein über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung mit Wahrscheinlichkeit ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden verursacht worden sind. Der Gesundheitsschaden selbst muss unter Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Impfschaden und Gesundheitsstörung müssen nach § 61 IfSG i.V.m. § 1 Abs.3 Satz 1 BVG mit Wahrscheinlichkeit durch die Impfung verursacht sein, d.h., es muss mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang sprechen (BSGE 60, 58).

Die Anerkennung einer Gesundheitsstörung im Sinne der Entstehung setzt voraus, dass zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs (hier der Impfungen) noch kein dieser Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches Geschehen (sog. Vorschaden) vorhanden war (vgl. "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit", Ausgabe 2008, S.155). Genauso wie die Erkrankung selbst muss auch der Vorschaden, falls man einen solchen zugrunde legt, unter Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Die Kammer hat Zweifel daran, ob vorliegend bereits vor den Impfungen im September und Oktober 1997 ein MS-typisches pathologisches Geschehen vorhanden war. Zwar litt der Kläger im Dezember 1996 und Januar 1997 unter Sensibilitätsstörungen an der linken Gesichtshälfte. Das Auftreten dieser Sensibilitätsstörungen ist aber erklärbar durch eine im Dezember 1996 durchgeführte Akupunktur, bei welcher u.a. auch der Nervenaustrittspunkt des zweiten Astes des Trigeminusnerven akupunktiert wurde. Gerade im Versorgungsgebiet dieses Nerven sind die Sensibilitätsstörungen aufgetreten. Die im zeitlichen Zusammenhang mit diesen Sensibilitätsstörungen veranlasste Kernspintomographie des Schädels vom 17.01.1997 (Radiologie-Praxis Dr. L ...) ergab keinen Hinweis auf einen pathologischen Prozess. (Der Verbleib der Originalaufnahmen war trotz entsprechender Bemühungen des Gerichts nicht mehr ermittelbar). Die Neurologin Dr. Z ..., die den Kläger im Januar 1997 untersuchte, wies darauf hin, dass kernspintomographisch ein cerebraler Prozess ausgeschlossen worden sei und sie daher keine Veranlassung für eine weitere Diagnostik, z.B. eine Liquorpunktion sehe. Dr. S ..., der behandelnde Hausarzt des Klägers, teilte im Schreiben vom 27.08.2007 dem Gericht mit, dass er am 11.12., am 12.12. und am 13.12.1996 beim Kläger eine Akupunkturtherapie wegen einer Sinusitis maxillaris durchgeführt habe. Dabei wurde u.a. der Punkt Dickdarm 20 gestochen, welcher links und rechts neben der Nase im Bereich des Trigeminus-Versorgungsgebietes liegt. Am 30.12.1996 wurde in seiner Patientenakte eine Hypästhesie der linken Gesichtshälfte, welche seit 2 Wochen bestehe, dokumentiert. Er habe daraufhin den Kläger zur Neurologin Dr. Z ... überwiesen. Auch diese habe einen Zusammenhang mit der Akupunkturtherapie in ihrem Befundbericht vom 20.01.1997 dokumentiert und darauf hingewiesen, dass eine kernspintomographische Untersuchung des Schädels keinerlei pathologische Veränderungen gezeigt habe. Auch er geht deshalb davon aus, dass die Sensibilitätsstörungen an der linken Gesichtshälfte damals von der Akupunktur herrührten. Alles in allem geht das Gericht daher davon aus, dass ein Vorschaden bzw. ein MS-typisches pathologisches Geschehen in der Zeit vor den streitgegenständlichen Impfungen nicht mit hinreichender Sicherheit nachweisbar ist.

Das Vorliegen der Erkrankung einer Multiplen Sklerose ist dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. unter Vollbeweis, nachgewiesen. Dies ergibt sich zum einen aus dem Gutachten von Prof. Dr. Z ... vom 25.06.2007, wonach die internationalen Diagnose-Kriterien der Multiplen Sklerose nach McDonald erfüllt sind. Untypisch ist zwar die Tatsache, dass mehrfach keine Auffälligkeiten im Liquor vorhanden waren, dies wird aber in 5 bis 10 % der MS-Fälle beobachtet. Das Ansprechen auf die Behandlung mit hochdosierten Kortikoiden unterstützt die Diagnose einer MS. Dr. H ... hat in seinem Gutachten vom 16.01.2008 noch genauer zwischen den einzelnen Sonderformen der MS differenziert. Eine Sonderform ist die "akute disseminierte Encephalomyelitis" (ADEM). Eine ADEM ist vom ersten Schub einer MS kaum zu unterscheiden und tritt nach einer Infektion und sehr selten auch nach Impfungen auf. Im Unterschied zur chronisch-progredienten Form der Multiplen Sklerose verläuft die ADEM in der Regel monophasisch. Ganz typisch für die ADEM ist, dass im Liquor die sog. oligoklonalen Banden, wie sie ansonsten für die MS typisch sind, fehlen. Auch beim Kläger konnten während des gesamten Erkrankungsverlaufs keine solchen oligoklonalen Banden im Liquor nachgewiesen werden. Auch die bildgebenden Befunde sprechen laut Dr. H ... für das Vorliegen einer ADEM.

Die Kammer sieht sich nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht in der Lage, die Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen der ZNS-Erkrankung des Klägers und den verabreichten Hepatitis B-Impfungen anzunehmen. Dies wäre nur dann möglich, wenn nach dem herrschenden Meinungsstand in der medizinischen Wissenschaft mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang spräche. Nach den schlüssigen und genau recherchierten Darlegungen des wissenschaftlich-epidemologischen Kenntnisstandes im Gutachten von Prof. Dr. Z ... ist es momentan der medizinischen Wissenschaft noch nicht möglich, zu beurteilen, ob eine Hepatitis B-Impfung generell das Risiko einer MS-Erkrankung erhöht. Eine statistische Häufung von MS-Erkrankungen oder MS-Schüben nach einer durchgeführten Hepatitis B-Impfung sei in der Mehrzahl der Studien nicht beobachtet worden. Laut Prof. Dr. Z ... ist die Pathogenese und Ätiologie der MS noch nicht hinreichend geklärt. Nach herrschender Lehrmeinung wird eine autoimmunologisch vermittelte Erkrankung des Zentralnervensystems angenommen. Es wird davon ausgegangen, dass durch T-Helferzellen eine Immunreaktion gegen bestimmte Bestandteile des zentralen Nervensystems (sog. Autoimmunreaktion) angestoßen wird. Nach der herrschenden medizinischen Auffassung ist es aber noch nicht geklärt, was als Auslöser für diese Ursachenkette in Betracht kommt und ob ggf. auch Impfungen dafür in Betracht kommen können. Damit kann nach der Überzeugung der Kammer die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs derzeit noch nicht hinreichend beurteilt werden.

Nach der Rechtsauffassung der Kammer liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Kannversorgung nach der Ziffer 39 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit", Ausgabe 2008, vor. Danach müssen für die Kannversorgung gemäß § 61 Satz 3 IfSG folgende medizinischen Voraussetzungen erfüllt sein: a) Über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens darf keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrschen. Eine von der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung abweichende persönliche Ansicht eines Sachverständigen erfüllt nicht den Tatbestand einer Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft. b) Wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen darf die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände muss in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden. Ist die ursächliche Bedeutung bestimmter Einflüsse trotz mangelnder Kenntnis der Ätiologie und Pathogenese wissenschaftlich nicht umstritten, so muss der Gutachter beurteilen, ob der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. c) Zwischen der Einwirkung der wissenschaftlich in ihrer ursächlichen Bedeutung umstrittenen Umstände und der Manifestation des Leidens oder der Verschlimmerung des Krankheitsbildes muss eine zeitliche Verbindung gewahrt sein, die mit den allgemeinen Erfahrungen über biologische Verläufe und den in den wissenschaftlichen Theorien vertretenen Auffassungen über Art und Wesen des Leidens im Einklang steht.

Zur Voraussetzung a) ist auszuführen, dass nach dem für das Gericht nachvollziehbaren Gutachten von Prof. Dr. Z ... keine ausreichenden Erkenntnisse über die Ätiologie und Pathogenese der MS-Erkrankung vorliegen. Deshalb kann man auch noch nicht hinreichend sicher beurteilen, welche Rolle eine Impfung in diesem Krankheitsgeschehen spielt.

Zu b) ist zu sagen, dass auch laut dem Gutachten von Prof. Dr. Z ... ein ursächlicher Einfluss von Hepatitis B-Impfungen auf die Entstehung einer MS als theoretisch begründet d.h. als möglich in Erwägung zu ziehen ist. Sie schreibt, dass verschiedene immunologische Mechanismen wie "Molecular Mimikry" oder "Bystander Activation" den Anstoß geben könnten für einen autoimmunologischen Prozess, der zu Multipler Sklerose führt. Ganz detaillierte und auch nachvollziehbare Ausführungen hat hierzu Dr. H ... in seinem Gutachten vom 16.01.2008 gemacht. Er sieht auf Grund seiner Hypothesen sogar einen wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der Verabreichung des Impfstoffes "Twinrix" und der Entstehung der Sonderform der Multiplen Sklerose, der sog. ADEM. Totimpfstoffe, wozu auch "Twinrix" gehört, enthalten nach seinen Informationen sog. Adjuvantien (Beistoffe). Diese Adjuvantien werden den inaktivierten Impfstoffen (Totimpfstoffen) beigefügt, um das erforderliche entzündliche Umfeld zu schaffen, in welchem eine Immunreaktion stattfinden kann. Solche Adjuvantien sind meist Aluminiumverbindungen (Aluminiumhydroxyd oder Aluminiumphosphat). Adjuvantien induzieren lokale Entzündungsreaktionen und unterstützen damit die effektive Prozessierung und den Transport von antigenen Bestandteilen des Impfstoffes in die sekundären lymphatischen Organe. Diese Adjuvantien oder auch die immunstimulierenden Proteine, die in den Totimpfstoffen enthalten sind, haben laut Dr. H ... als Triggerreize entscheidenden Einfluss für die Erstmanifestation einer Multiplen Sklerose. Im Ergebnis ist daher Dr. H ... der Auffassung, dass die Impfung mit "Twinrix" bei entsprechend genetisch disponierten Personen eine MS/ADEM auslösen kann.

Die Theorien, die Dr. H ... präsentiert, werden letztlich auch im Gutachten von Prof. Dr. Z ... erwähnt ("Molecular Mimikry" oder "Bystander Activation"). Es wird von Prof. Dr. Z ... aber darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um "bloße Hypothesen" handele. Dazu ist aber zu sagen, dass es nach Ziffer 39 der "Anhaltspunkte" für die Kannversorgung ausreicht, wenn ein ursächlicher Einfluss der in Frage stehenden Impfung in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen wird. Es ist geradezu klassisch für die Kannversorgung, dass die Ätiologie und Pathogenese einer Erkrankung wissenschaftlich umstritten ist. Wenn es hier eine einheitliche Meinung gäbe, käme die Kannversorgung erst gar nicht in Betracht.

Die Kammer vertritt die Auffassung, dass der Gesetzgeber ganz bewusst die Kannversorgung in das ab 01.01.2001 gültige Infektionsschutzgesetz mit aufgenommen hat. Die Kannversorgung soll gerade in solchen Fällen, in denen die Ätiologie und Pathogenese eines Leidens noch nicht klar erwiesen ist, eine Entschädigung ermöglichen.

Es soll dann die Möglichkeit einer Entschädigung geben, wenn im Einzelfall in plausibler zeitlicher Verbindung die entsprechende Erkrankung aufgetreten ist und zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Impfung einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Erkrankung gehabt hat.

Nach der Überzeugung der Kammer ist die Erkrankung des Klägers (ADEM) auch in plausibler zeitlicher Verbindung zu den Impfungen im September und Oktober 1997 aufgetreten. Dass ein Vorschaden nicht nachgewiesen ist, wurde bereits oben erläutert. Auch kommt es nach Meinung der Kammer nicht darauf an, ob die ersten Symptome einer MS nun Ende November 1997, im Dezember 1997 oder erst im Januar 1998 aufgetreten sind. Zum einen erscheinen die Angaben des Klägers und auch die Angaben der Ehefrau, welche ein Auftreten der ersten Symptome bereits Ende November 1997 behauptet, als glaubhaft. Zum anderen kann laut Prof. Dr. Z ... kein genaues zeitliches Intervall zwischen Impfung und dem Auftreten von MS-Symptomen identifiziert werden. Die Studien hierzu sind im Ergebnis sehr unterschiedlich. Sowohl Prof. Dr. Z ... als auch Dr. H ... sehen den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Impfungen und der sicheren Erstmanifestation der MS im Januar 1998 als plausibel an.

Alles in allem stellt sich für die Kammer der Fall so dar, dass die Voraussetzungen für die Kannversorgung (a - c) vollumfänglich erfüllt sind und somit die Erkrankung des Klägers als Impfschadensfolge anzuerkennen ist. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 05.07.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2006, in welchem eine Anerkennung abgelehnt wurde, war daher aufzuheben. Der Beklagte war zu verurteilen, die Erkrankung im Wege der Kannversorgung als Impfschaden anzuerkennen (ab Antragstellung im Februar 2003) und nach den gesetzlichen Vorschriften zu entschädigen. Über die Höhe des Grades der Schädigungsfolgen hat die Kammer nicht zu entscheiden, weil diesbezüglich noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt und die Höhe des GdS somit nicht Streitgegenstand war.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach den §§ 183, 193 SGG.

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Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstr. 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, 84034 Landshut schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Ausgefertigt - Beglaubigt Sozialgericht Landshut Landshut, den

als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

S 68 Urteil - Inland
Rechtskraft
Aus
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