S 19 AS 2534/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 19 AS 2534/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 08.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.05.2015 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern zum Stichtag 01.02.2015 Leistungen zur Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf zu gewähren in Höhe von jeweils 30,00 EUR. Der Beklagte hat den Kläger ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Vorverfahren in voller Höhe zu erstatten und für das gerichtliche Verfahren in Höhe von 13 %. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Kläger zum Stichtag 01.02.2015 Anspruch haben auf Leistungen zur Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf ("Schulgeld"). Die XXXX und XXXX geborenen Kläger, die seit 2009 beim Beklagten bzw. dessen Rechtsvorgängerin im Leistungsbezug stehen und am 01.02.2015 Schüler der Hauptschule M waren, leben gewöhnlich in J im Haushalt ihrer Mutter. Die Eltern der Kläger leben getrennt. Der Vater der Kläger wohnt in I und steht jedenfalls seit 2013 beim Beigeladenen im Leistungsbezug. Die Kläger halten sich mehrmals im Monat bei ihrem Vater auf. Grundlage ist ein am 13.09.2012 vor dem Amtsgericht – Familiengericht – J zwischen den Eltern der Kläger geschlossener und vom Familiengericht genehmigter Vergleich, der das Umgangsrecht des Kindesvaters mit den Klägern regelt.

Auf den von ihrer Mutter am 27.10.2014 gestellten Weiterbewilligungsantrag hin bewilligte der Beklagte den Klägern zunächst vorläufig und mit Bescheid vom 28.06.2016 endgültig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Monate Dezember 2014 bis Mai 2015.

Zum Stichtag 01.02.2015 – an diesem Tag hielten sich die Kläger ab 10:00 Uhr bei ihrem Vater auf – wurde an die Kläger kein Schulgeld gezahlt. Auf diesbezügliche Nachfrage hin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 08.05.2015 die Gewährung von Schulgeld für die Kläger zum Stichtag 01.02.2015 ab. Da die Kläger am 01.02.2015 nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Mutter gewesen seien, bestehe kein Anspruch auf diese Leistung. Schulgeld könne jedoch vom Beigeladenen gewährt werden, weil die Kläger Mitglied der Bedarfsgemeinschaft des Vaters gewesen seien.

Gegen den Ablehnungsbescheid legten die Kläger am 18.05.2015 Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde nicht begründet.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2015 zurück. Der Widerspruch sei zulässig, jedoch unbegründet. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 28 Abs. 3 SGB II seien aus den Gründen des Ablehnungsbescheids nicht gegeben. Auch eine analoge Anwendung der Norm scheide aus.

Die Kläger und ihre Mutter, die die Klage zwischenzeitlich zurückgenommen hat, haben am 26.06.2015 Klage erhoben. Die Kläger meinen, Besuchskontakte seien für die Gewährung von Schulgeld unerheblich. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Kläger sich am 01.02.2015, einem schulfreien Tag, noch bis 10:00 Uhr bei der Mutter aufgehalten haben.

Zwischenzeitlich meinten die Kläger auch, Anspruch auf höhere Leistungen als jeweils 30,00 EUR zu haben. Insoweit verwiesen sie auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Hildesheim (Urteil vom 22.12.2015, S 37 AS 1175/15, nicht veröffentlicht), nach der bei den beiden dortigen Klägern ein Mehrbedarf für Schulbücher von 470,90 EUR nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II anzuerkennen sei.

Die Kläger beantragen nunmehr aber nur noch,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 08.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.05.2015 zu verurteilen, ihnen zum Stichtag 01.02.2015 jeweils Schulgeld nach § 28 Abs. 3 SGB II in Höhe von 30,00 EUR zu gewähren,

hilfsweise, den Beigeladenen entsprechend zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt der Beklagte Bezug auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Der Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene meint, nicht zur Gewährung von Schulgeld gegenüber den Klägern verpflichtet zu sein. Leistungspflichtig sei der Beklagte, weil die Kläger ihren gewöhnlichen Aufenthalt im N L haben.

Die Beteiligten haben sich einverstanden erklärt mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.

Wegen des weitergehenden Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und des Beigeladenen. Diese Akten sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben, entscheidet die Kammer gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung.

Die Kammer entscheidet nur darüber, ob die Kläger zum Stichtag 01.02.2015 Anspruch haben auf Schulgeld in Höhe von jeweils 30,00 EUR. Durch die Beschränkung des Klageantrags haben die Kläger die Klage im Übrigen – also soweit sie weitere 410,90 EUR begehrten, ggf. im Wege des Mehrbedarfs – zurückgenommen (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 102 Rn. 7b). Bei dem Anspruch auf Schuldgeld handelt es sich um einen eigenständigen Streitgegenstand. Denn bei §§ 28 Abs. 3, 29 Abs. 1 Satz 3 SGB II in der hier maßgeblichen, bis 31.07.2016 geltenden Fassung (a. F.) handelt es sich um eine eigenständige Anspruchsgrundlage (vgl. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.04.2016, L 6 AS 303/15, juris, Rn. 27).

Die so verstandene Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig, insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG statthaft. Die Klage ist auch begründet. Durch den Ablehnungsbescheid vom 08.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.05.2015 sind die Kläger beschwert i. S. d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die Ablehnungsentscheidung ist rechtswidrig. Die Kläger haben zum Stichtag 01.02.2015 Anspruch auf Schulgeld in Höhe von jeweils 30,00 EUR. Anspruchsgrundlage sind §§ 28 Abs. 3, 29 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. Die formellen und materiellen Voraussetzungen dieser Normen liegen vor.

Die formellen Anspruchsvoraussetzungen sind gegeben. Der nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderliche Leistungsantrag wurde am 27.10.2014 gestellt. Der Antrag wirkt gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch für die Kläger. Der Antrag auf laufende Leistungen umfasst – wie sich im Umkehrschluss aus § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II ergibt – zugleich den Antrag auf Schulgeld (Thommes, in: Gagel [Hrsg.], SGB II/SGB III, 64. Ergänzungslieferung Dezember 2016, § 28 SGB II Rn. 18). Die Zuständigkeit des Beklagten folgt sachlich aus §§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 44b Abs. 1 Satz 2 SGB II und örtlich aus § 36 Satz 2 SGB II, wonach für die örtliche Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt des Leistungsberechtigten maßgeblich ist.

Abweichendes hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit des Beklagten folgt insbesondere nicht aus § 36 Satz 3 SGB II. Danach ist während des Aufenthalts des Minderjährigen beim Umgangsberechtigten zwar das Jobcenter zuständig, in dessen Bezirk der Umgangsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies spricht dem Wortlaut nach für die örtliche Zuständigkeit des Beigeladenen. Denn die Kläger hielten sich am 01.02.2015 über 12 Stunden (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, juris, Rn. 16) bei ihrem Vater auf, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in I hat. Zu beachten ist jedoch, dass der Gesetzgeber durch § 36 Satz 3 SGB II lediglich die Rechtsprechung des BSG zur temporären Bedarfsgemeinschaft (grundlegend BSG, Urteil vom 07.11.2006, B 7b AS 14/06 R, juris, Rn. 27 ff.) umsetzen wollte (CDU/CSU- und FDP-Fraktionen, Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 114). Eine örtliche Zuständigkeit des Trägers am gewöhnlichen Aufenthaltsort des umgangsberechtigten Elternteils folgt deshalb nur insoweit aus § 36 Satz 3 SGB II, als nach der Rechtsprechung des BSG zur temporären Bedarfsgemeinschaft die jeweiligen Bedarfe nicht in der Bedarfsgemeinschaft des Elternteils zu berücksichtigen sind, bei dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sondern in der Bedarfsgemeinschaft des umgangsberechtigten Elternteils.

Schuldgeld ist nicht in der Bedarfsgemeinschaft des umgangsberechtigten Elternteils zu berücksichtigen. Im Rahmen der temporären Bedarfsgemeinschaft erfolgt, eine tageweise Zuordnung lediglich hinsichtlich teilbarer Geldleistungen zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten (BSG, Urteil vom 17.02.2016, B 4 AS 2/15 R, juris, Rn. 20), um den Umgangskosten Rechnung zu tragen (BSG, Urteil vom 12.06.2013, B 14 AS 50/12 R, juris, Rn. 18; Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, juris, Rn. 15). Das Schuldgeld stellt keine derartige Leistung dar. Erstens handelt es sich nicht um Leistungen zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten, sondern um Leistungen zur Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf. Zweitens ist das Schulgeld nicht tageweise teilbar. Es wird – entweder ganz oder gar nicht – für ein Schulhalbjahr geleistet. Drittens handelt es sich in der Regel nicht um Umgangskosten. Es erscheint wenig naheliegend, dass der umgangsberechtigte Elternteil, wenn sich das Kind am Stichtag bei ihm aufhält, auch tatsächlich derjenige ist, der für das kommende Schulhalbjahr sämtlichen Schulbedarf beschafft. Regelmäßig werden die Kosten für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf vielmehr in der Bedarfsgemeinschaft desjenigen Elternteils anfallen, bei dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Lesart des Beklagten dann zu einem mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht zu vereinbarenden Ergebnis führt, das vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann, wenn der umgangsberechtigte Elternteil nicht im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende steht. Denn nach der Lesart des Beklagten besteht in diesem Fall für das kommende Schulhalbjahr überhaupt kein Anspruch auf Schulgeld, wenn sich das Kind am maßgeblichen Stichtag beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält. Dieses Leerlaufen des Schulgeldanspruchs stellt eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Kindern getrennt lebender Eltern dar, die sich am Stichtag nicht beim Umgangsberechtigten aufhalten. Denn letztere erhalten trotz an anderen Tagen stattfindender Umgangskontakte Schulgeld. Die hierin liegende Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem ist allenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Umgangsberechtigte für die Ausstattung mit Schulbedarf für das gesamte bevorstehende Schulhalbjahr sorgt. Damit ist allerdings – wie ausgeführt – nicht zu rechnen.

Auch die materiellen Voraussetzungen der §§ 28 Abs. 3, 29 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. sind gegeben. Danach werden bei Schülerinnen und Schülern zum 01.02. eines jeden Jahres für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf 30,00 EUR als Geldleistung erbracht. Voraussetzung für die Gewährung von Schulgeld in dieser Höhe ist demnach, dass der Antragsteller Schüler ist und am 01.02. des Jahres im Leistungsbezug steht bzw. Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hat (Thommes, a. a. O., § 28 SGB II Rn. 17). Die Kläger sind Schüler. Sie standen am 01.02.2015 im Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

Auf Rechtsfolgenseite sehen §§ 28 Abs. 3, 29 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. eine gebundene Entscheidung vor. Dem Beklagten kommt kein Ermessen zu. Schulgeld ist als Geldleistung in Höhe von 30,00 EUR je Kläger zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Kläger auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache. Hinsichtlich der Kosten des Klageverfahrens hat die Kammer dabei den Erfolgsanteil der Klage ausgehend von den zwischenzeitlich begehrten Leistungen von 470,90 EUR bemessen. Die Kammer hat davon abgesehen, den Beigeladenen an den Kosten der Kläger zu beteiligen, weil die Kammer den Antrag des Beigeladenen – trotz seiner insoweit missweisenden Fassung – bei der nach § 123 SGG gebotenen Auslegung dahingehend versteht, dass der Beigeladene lediglich Klageabweisung begehrt, soweit seine Verurteilung erstrebt wird. Damit ist der Beigeladene nicht unterlegen. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten und des Beigeladenen sind gemäß § 193 Abs. 4 SGG nicht erstattungsfähig. Die Kostenentscheidung bezieht sich nicht auf die Mutter der Kläger. Über deren Kosten hat die Kammer infolge der Klagerücknahme gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG nur auf gesonderten Antrag durch Beschluss zu entscheiden.

Die Kammer hat die nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftige Berufung zugelassen, weil die Rechtsfrage, welches Jobcenter örtlich zuständig ist für die Gewährung von Schulgeld bei temporären Bedarfsgemeinschaften, grundsätzliche Bedeutung hat i. S. d. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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