S 18 SO 14/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 14/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 01.10.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2015 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Rückforderung in Höhe von 14.145,44 Euro.

Die 1927 geborene Klägerin bezog in der Zeit von Januar 2005 bis April 2009 von dem Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung nach dem vierten Kapitel SGB XII. Nachdem die Klägerin am 28.02.2005 im Antrag auf Leistungen der Grundsicherung zunächst angegeben hatte, alleinstehend zu sein und alleine in der Wohnung "A-Straße" in A-Stadt zu leben, teilte sie der Behörde im Antrag auf Weiterbewilligung vom 31.01.2009 mit, sie lebe mit Herrn C. seit September 2006 gemeinsam in der Wohnung "A-Straße" in A-Stadt.

Mit Bescheid vom 01.10.2009 nahm der Beklagte die Bewilligungsbescheide über die Gewährung von Sozialhilfe für die Zeit vom 01.09.2006 bis zum 30.04.2009 gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X zurück und machte einen Erstattungsanspruch in Höhe von 14.145,44 Euro geltend.

Hiergegen legte die Klägerin unter dem 23.10.2009 Widerspruch ein und machte im Wesentlichen geltend, ein grob fahrlässiges Verhalten liege nicht vor.

In der Folgezeit unternahm der Beklagte zur Durchsetzung des Erstattungsanspruchs nichts mehr, sondern gewährte der Klägerin ab 01.03.2011 erneut Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem vierten Kapitel SGB XII (Bewilligungsbescheid vom 14.04.2011). Die Klägerin stand in der Folgezeit weiter im Leistungsbezug bei dem Beklagten. Hinweise auf die noch offene Rückforderung finden sich weder in der Akte noch in dem Bewilligungsbescheiden etwa vom 14.04.2011 und 09.02.2012.

Mit Schreiben vom 24.10.2014 kam die jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf die Angelegenheit zurück, worauf der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.01.2015 zurückwies. Auf den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.

Dagegen richtet sich die Klage vom 31.01.2015 mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie trägt im Wesentlichen vor, der Bescheid sei teilweise nicht hinreichend bestimmt. Grobe Fahrlässigkeit liege nicht vor. Der Anspruch sei auch verwirkt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 01.10.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2015 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.

Dem Gericht lagen die Akten des Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG).

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid vom 01.10.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2015 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechte, § 54 Abs. 2 SGG.

Der Beklagte hat zu Unrecht die Erstattung der aufgrund der Bewilligungsentscheidungen ab 04.04.2005 erbrachten Grundsicherungsleistungen geltend gemacht. Einer Geltendmachung steht vorliegend das auch im Sozialrecht anerkannte Rechtsinstitut der Verwirkung als Fall unzulässiger Rechtsausübung entgegen.

Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Es liegt eine Verwirkung als Fall der unzulässigen Rechtsausübung vor. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist – losgelöst von der spezialgesetzlichen Ausprägung in § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X – als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben auch im Sozialversicherungsrecht anerkannt.

Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltend machen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (BSG Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 67/09 R; Urteil vom 08.10.2010, B 3 KR 7/14 R). Demgemäß müssen für die Verwirkung eines Rechts stets drei Voraussetzungen erfüllt sein, nämlich ein Zeitmoment, ein Umstandsmoment und zusätzliche eine faktische und rechtliche Untätigkeit (BSG Urteil vom 08.10.2014, B 3 KR 7/14 R).

Im Einzelnen gilt: Es muss seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, eine längere Zeit verstrichen sein, wobei die Umstände des Einzelfalls maßgeblich sind (Zeitmoment). Der Schuldner muss sich weiterhin darauf eingestellt haben, der Gläubiger werde aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen (Umstandsmoment). Dies ist der Fall, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht gegenwärtig und auch in Zukunft nicht mehr geltend machen wird. Letztlich muss noch eine Untätigkeit des Berechtigten vorliegen: während es für die Verwirkung erforderlichen Zeitraums darf der Berechtigte nichts zur Durchsetzung seines Rechts getan haben.

Prüft man den vorliegenden Sachverhalt nach diesen Kriterien, so sind die Voraussetzungen erfüllt.

Der streitige Ausgangsbescheid datiert vom 01.10.2009. Der Widerspruchsbescheid ist am 13.01.2015 erteilt worden. In der Zeit zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbescheid sind somit 5 Jahre und 3 ½ Monate vergangen.

Auch das Umstandsmoment ist gegeben. Die Klägerin konnte sich darauf einstellen, der Beklagte werde des aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen. Denn dies ist der Fall, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht gegenwärtig und auch in Zukunft nicht mehr geltend machen wird. Denn es ist nicht erkennbar, warum der berechtigte Landkreis nach der umfassenden Widerspruchsbegründung vom 23.10.2009 untätig geblieben ist und auf den Schriftsatz keinerlei Reaktion gezeigt hat. Mit Blick auf den langen Zeitraum konnte sich die Klägerin auch ohne weiteres darauf einstellen, dass der Beklagte sein Recht nicht mehr geltend machen würde. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund der erneuten Leistungsbewilligung ab März 2011.

Der Beklagte hat auch zu keiner Zeit zum Ausdruck gebracht, den möglichen Erstattungsanspruch durchsetzen zu wollen. Vielmehr hat er in jedem der Bewilligungsbescheide ab März 2011 Leistungen ohne jegliche Einschränkung bewilligt. Insbesondere hat der Beklagte in keinem der Bewilligungsbescheide deutlich gemacht, dass die Klägerin gegebenenfalls (noch) mit der Rückerstattungsforderung aus dem Bescheid vom 01.10.2009 zu rechnen habe. Diese Untätigkeit hat im Einzelfall ein schutzwürdiges Vertrauen dahin begründet, dass die Klägerin das Nichtstun des Beklagten nach den Umständen als bewusst und planmäßig betrachten durfte (BSG Urteil vom 01.07.2010, a.a.O.). Solche Umstände, aufgrund derer die bloße Untätigkeit des Beklagten hier einem Verwirkungsverhalten gleichkommt, liegen darin, dass zwischen Einreichung des Widerspruchs durch die Klägerin und dem Widerspruchsbescheid vom 13.01.2015 mehr als 5 Jahre liegen. Denn diese Frist überschreitet deutlich die in § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X normierte Verjährungsfrist für Erstattungsansprüche, wobei die Verjährungsfrist nach dieser Vorschrift mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt, mit dem der Erstattungsanspruch geltend gemacht wird, bekannt gegeben wird, zu laufen beginnt. In vorliegendem Fall begann damit die Frist am 01.01.2010 zu laufen und endete am 31.12.2013. Spätestens ab 2014 musste die Klägerin nicht mehr mit der Durchsetzung der Rückforderung rechnen.

Schließlich liegt auch eine Untätigkeit des Beklagten vor. Denn während des für die Verwirkung erforderlichen Zeitraums hat der Beklagte nichts zur Durchsetzung seines Rechts getan. Die Verwirkung ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Berechtigte in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben hat, dass er auf seinem Recht beharrt. Dies ist – worüber die Beteiligten nicht streiten – vorliegend nicht geschehen.

Bei dieser Sachlage war der Klage mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.
Rechtskraft
Aus
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