L 4 AS 851/16 B

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 33 AS 3136/15
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 851/16 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Als Anspruchsgrundlage für ein Klagebegehren auf Rücknahme des gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II durch den SGB II-Leistungsträger ersatzweise gestellten Rentenantrags kommt der allgemeine öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht.

2. Die Aufforderung zur Antragstellung gemäß § 12a S. 1 SGB II ist mit einer - angemessenen - Frist zu versehen (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R, Rn. 34). Dem Leistungsberechtigten, der als Anspruchsinhaber primär zur Stellung des Antrags berechtigt und verpflichtet ist, ist zunächst Gelegenheit zu geben, den Antrag binnen der gesetzten Frist selbst zu stellen.
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 27. Juni 2016 aufgehoben und Prozesskostenhilfe ohne Raten für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt St. V., , , bewilligt.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein erstinstanzliches Hauptsacheverfahren, in dem sie sich gegen eine Aufforderung zur Rentenantragstellung und den vom Beklagten ersatzweise gestellten Rentenantrag wendet.

Die am geborene, alleinstehende Klägerin steht seit Längerem beim Beklagten im Bezug von SGB II-Leistungen. Sie hat Einkommen aus einem Minijob i. H. v. 120 Euro monatlich. Für ihre Wohnung fallen monatliche Kosten i. H. v. 302 Euro an.

Mit Bescheid vom 14. April 2015 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen i. H. v. 685 Euro monatlich für Mai bis Oktober 2015. Am 27. Mai 2015 reichte die Klägerin eine Rentenauskunft vom 27. Mai 2015 ein, wonach ihre Regelaltersrente voraussichtlich 763,75 Euro betragen und am 1. November 2017 beginnen würde. Frühester Rentenbeginn wäre für eine Altersrente für langjährig Versicherte der 1. Mai 2015.

Mit Schreiben vom 14. Juli 2015 forderte der Beklagte die Klägerin auf, umgehend einen Antrag auf Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (DRV) zu stellen. Nach den vorliegenden Unterlagen könne die Klägerin einen Anspruch auf Altersrente haben, daher sei sie nach § 12a SGB II verpflichtet, einen Antrag beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen. Der Beklagte sei berechtigt, den Antrag ersatzweise nach § 5 Abs. 3 SGB II zu stellen. Die Klägerin solle bis 31. Juli 2015 die Antragstellung mitteilen.

Mit Schreiben auch vom 14. Juli 2015 machte der Beklagte einen Erstattungsanspruch gegenüber der DRV geltend und stellte gleichzeitig den ersatzweisen Antrag nach § 5 Abs. 3 SGB II.

Den gegen die Aufforderung eingelegten Widerspruch der Klägerin vom 30. Juli 2015 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. August 2015 als unbegründet zurück. Nach der Rentenauskunft könne die Klägerin ab 1. Mai 2015 eine geminderte Altersrente beziehen. Bestandsschutz nach § 65 Abs. 4 SGB II sei nicht gegeben. Die Ausnahmen von der Verpflichtung zur Rentenantragstellung nach der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) träfen auf sie nicht zu. Ein atypischer Fall, der eine im Einzelnen abwägende Ermessensentscheidung erforderlich mache, liege nicht vor.

Dagegen hat die Klägerin unter dem 18. August 2015 Klage zum Sozialgericht Gotha erhoben und weiter beantragt, den Beklagten zu verpflichten, den von ihm gestellten Rentenantrag zurückzunehmen. Gleichzeitig hat sie Antrag auf Gewährung von PKH gestellt. Sie macht geltend, dass der Beklagte sein Ermessen nicht rechtmäßig ausgeübt habe, da er nicht ausreichend berücksichtigt habe, dass die Klägerin bei Bezug abschlagsfreier Altersrente voraussichtlich bedarfsdeckendes Einkommen haben werde. Es sei nicht erkennbar, ob der Beklagte überhaupt die Höhe der Renten bei vorzeitigem bzw. regulärem Renteneintritt ermittelt habe. Die Klägerin habe zudem weiterhin den Minijob. Bei ergänzendem SGB XII-Bezug würden geringere Vermögensfreigrenzen greifen. Somit lägen hier außergewöhnliche Umstände im Sinne eines atypischen Falles vor, um über das intendierte Ermessen hinauszugehen. Zudem sei fraglich, ob der Beklagte den Rentenantrag selbst habe stellen dürfen. Dies sei verfassungsrechtlich bedenklich, da der Klägerin ihre Handlungsfreiheit genommen werde.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Am 3. Mai 2016 hat die DRV einen Bescheid erlassen, mit dem sie der Klägerin aufgrund des Rentenantrags vom 16. Juli 2015 eine Altersrente für langjährig Versicherte mit Beginn zum 1. Mai 2015 bewilligte.

Der Klägerbevollmächtigte hat mitgeteilt, dass die Klägerin selbst einen Rentenantrag zum 1. Mai 2016 gestellt habe. Da auch der Rentenbescheid sich auf den Antrag der Klägerin beziehe, sei davon auszugehen, dass die Rentenbewilligung fehlerhaft erfolgt sei. Die Rücknahme des Rentenantrags des Beklagten mache für das vorliegende Verfahren durchaus Sinn.

Mit Beschluss vom 27. Juni 2016 hat das Sozialgericht die Gewährung von PKH abgelehnt. Die Klage habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Nach Bewilligung der Altersrente ab 1. Mai 2015 habe sich der streitgegenständliche Aufforderungsbescheid und das Klageverfahren in der Hauptsache erledigt. Auch bis dahin habe die Klage keine Aussicht auf Erfolg gehabt, da die Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht zu beanstanden sei. Soweit die Rentenbewilligung für fehlerhaft erachtet werde, sei dies in einem Verfahren gegen die DRV zu klären. Im Übrigen sei nur die mit Bescheid vom 14. Juli 2015 erfolgte Aufforderung und nicht auch der durch den Beklagten gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II ersatzweise gestellte Antrag im Streit.

Gegen den Beschluss hat die Klägerin am 11. Juli 2016 Beschwerde eingelegt. Ihres Erachtens seien hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage gegeben. Bei Rechtswidrigkeit der Aufforderung sei auch zu klären, inwieweit der Beklagte zu verpflichten sei, den Rentenantrag zurückzuziehen bzw. zu korrigieren.

Die Klägerin teilt mit, dass sie den Rentenbescheid vom 3. Mai 2016 mit Widerspruch angegriffen habe. Die DRV entscheide derzeit nicht über den Widerspruch, da sie den Ausgang des vorliegenden Klageverfahrens abwarte.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von PKH zu Unrecht abgelehnt. Es fehlt im erstinstanzlichen Verfahren insbesondere nicht an einer hinreichenden Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung insgesamt.

Nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

An die hinreichende Erfolgsaussicht dürfen im Hinblick auf das aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG und dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG abzuleitende verfassungsrechtliche Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes keine zu strengen Anforderungen gestellt werden. Eine hinreichende Erfolgsaussicht liegt vor, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände nach summarischer Prüfung zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Klägerin mit ihrem Begehren voll bzw. teilweise durchdringt.

So verstanden ist hier eine zumindest teilweise Erfolgsaussicht gegeben.

Mit der Klage wird ausweislich des Klageantrags sowohl der Aufforderungsbescheid vom 14. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2015 angegriffen (dazu unter 1.), als auch die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme des ersatzweise gestellten Rentenantrags begehrt (dazu unter 2.). Zumindest hinsichtlich des letzteren Begehrens – welches das Sozialgericht bei Beschlussfassung vom 27. Juni 2016 wohl übersehen hat – ist eine Erfolgsaussicht nicht ganz ausgeschlossen.

1. Zwar ist mit Erlass des Rentenbescheides vom 3. Mai 2016 die angefochtene Aufforderung vom 14. Juli 2015 nicht bereits im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X erledigt bzw. besteht diesbezüglich noch weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin. Denn solange das auf dem Antrag des Beklagten (vom 14. Juli 2015, eingegangen bei der DRV offenbar am 16. Juli 2015) beruhende Rentenverfahren nicht bestandskräftig abgeschlossen ist, begründet und erhält die angefochtene Aufforderung die Verfahrensführungsbefugnis des Beklagten für die Klägerin im Rentenverfahren, in dem die rückwirkende Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente streitig ist (BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R, Rn. 13). Aus den Mitteilungen der Klägerin geht hervor, dass über den Widerspruch gegen den Rentenbescheid noch nicht entschieden ist.

Der Aufforderungsbescheid ist jedoch nach der im Rahmen der PKH-Entscheidung nur erforderlichen summarischen Prüfung nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des § 12a S. 1 i. V. m. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II sind durch den Beklagten zutreffend bejaht worden.

Die Klägerin konnte eine vorzeitige Altersrente mit Vollendung ihres 63. Lebensjahres (ab 1. Mai 2015, § 99 Abs. 1 SGB VI) beanspruchen. Sie war grundsätzlich zur Inanspruchnahme der vorgezogenen Rente verpflichtet, denn diese ist i. S. des § 12a Satz 1 SGB II erforderlich, weil sie – unabhängig von deren Höhe – zur Beseitigung ihrer Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II führt (§ 7 Abs. 4 S. 1 SGB II). Dass ein Ausnahmetatbestand nach der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) greift, ist nicht ersichtlich. Die Regelaltersrente würde jedenfalls erst ab dem 1. November 2017 beginnen. Die geringfügige Beschäftigung der Klägerin stellt keine Erwerbstätigkeit i. S. d. § 4 UnbilligkeitsV dar, da es sich nicht um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung handelt bzw. diese nicht den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Auch für die Aufnahme einer solchen Beschäftigung in nächster Zukunft lagen keine Anhaltspunkte vor.

Der Beklagte hat erkannt, dass er Ermessen hinsichtlich des Ob einer Aufforderung auszuüben hatte und dies auch entsprechend dem Zweck der Ermächtigung getan. Dass sich dies erstmals aus dem Widerspruchsbescheid vom 3. August 2015 ergibt, steht einer Rechtmäßigkeit der Aufforderung nicht entgegen (§ 95 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 46/15 R, Rn. 25). Es entspricht pflichtgemäßem Ermessen des Leistungsträgers, im Regelfall von der Ermächtigung zur Aufforderung zur Antragstellung Gebrauch zu machen (intendiertes Ermessen). Ein atypischer Fall, also ein Härtefall, der der Klägerin ein deutlich größeres Opfer abverlangt, als den mit der vorzeitigen Inanspruchnahme stets verbundenen Nachteil der Rentenminderung (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2015 – L 4 AS 263/15 B ER, Rn. 21), ist vorliegend nicht dargetan oder ersichtlich.

Der Verweis auf die "möglicherweise" bedarfsdeckende Regelaltersrente der Klägerin reicht hierfür nicht aus. Die durch die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente folgenden dauerhaften Rentenabschläge und die damit einhergehenden geringeren Rentenerhöhungen waren dem Gesetzgeber bekannt und können nicht zur Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 - B 14 AS 46/15 R, Rn. 27). Auf eine etwaige künftige Hilfebedürftigkeit der Klägerin auch bei Erreichen der Regelaltersgrenze kommt es im maßgeblichen Zeitpunkt der Aufforderung zur Antragstellung nicht an. Das gesetzliche Regelungskonzept des SGB II fragt nicht nach einer etwaigen künftigen Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB XII. Im Rahmen der Ermessensausübung vor Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind Prognosen über eine künftige Hilfebedürftigkeit nicht anzustellen (BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R, Rn. 42).

Der Beklagte hat sich im Widerspruchsbescheid auch damit auseinandergesetzt, dass bei ggf. nicht bedarfsdeckender Altersrente ergänzender Bezug von SGB XII-Leistungen bzw. Wohngeld in Betracht kommt. Zur konkreten Höhe der zu erwartenden vorzeitigen Altersrente hat es keiner Erwägungen bedurft (vgl. dazu zuletzt auch BSG, Urteil vom 23.06.2016 - B 14 AS 46/15 R, Rn. 27; Senatsbeschluss vom 8. April 2015 - L 4 AS 263/15 B ER, Rn. 24).

Dass der Verordnungsgeber ab dem 1. Januar 2017 mit § 6 UnbilligkeitsV (Fassung vom 4. Oktober 2016) nunmehr einen Unbilligkeitsgrund dann vorsieht, wenn der Leistungsberechtigte durch die Inanspruchnahme vorgezogener Altersrente hilfebedürftig im Sinne des SGB XII werden würde, führt nicht dazu, dass hier andere Ermessenserwägungen anzustellen waren. Der Verordnungsgeber hat in Kenntnis und unter Anführung der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R - und Urteil vom 23.06.2016 - B 14 AS 46/15 R), wonach eine Hilfebedürftigkeit der Leistungsberechtigten bei Bezug der Altersrente keinen bei der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs 3 SGB II atypischen Fall begründet (so festgehalten im Verordnungsentwurf http://www.harald-thome.de/fa/harald-thome/files/UnbilligkeitsV-ndV.PDF), die Neuregelung erst mit Wirkung zum 1. Januar 2017 eingeführt (Bayerisches LSG, Beschluss vom 21. November 2016 – L 11 AS 721/16 B ER, Rn. 25).

Auch der Verweis der Klägerin auf die unterschiedlichen Vermögensfreigrenzen im SGB II und SGB XII greift nicht durch, da aus der vorliegenden Verwaltungsakte keinerlei Hinweise auf tatsächlich vorhandene Vermögenswerte der Klägerin (über die laufenden Einnahmen und Ausgaben auf dem Girokonto hinaus) hervorgehen.

2. Eine Erfolgsaussicht der Klage ist jedoch insoweit nicht von vornherein zu verneinen, wie die Klägerin auch "die Verpflichtung des Beklagten beantragt, den von ihm gestellten Rentenantrag zurückzunehmen".

Dieses Klagebegehren ist im Sinne einer weitestgehenden Verwirklichung der erkennbaren Prozessziele auszulegen (§§ 106 Abs. 1, 112 Abs. 2 S. 2, 123 SGG). Dabei ist entsprechend § 133 BGB nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften; im Zweifel ist davon auszugehen, dass die Klägerin alles zugesprochen haben möchte, was ihr aufgrund des Sachverhalts zusteht (BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R, Rn. 12). Insofern ist es möglich, den Antrag nicht als Verpflichtungsantrag gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 SGG, sondern vielmehr als Leistungsantrag gemäß § 54 Abs. 5 SGG auf Abgabe einer Willenserklärung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 54 Rn. 41) – nämlich Erklärung der Rücknahme des Rentenantrags – auszulegen.

Denn während die Aufforderung an den Berechtigten zur Rentenantragstellung ein Verwaltungsakt i. S. d. § 31 S. 1 SGB X ist (vgl. auch § 39 Nr. 3 SGB II; BSG, Beschluss vom 16. Dezember 2011 - B 14 AS 138/11 B), stellt die Antragstellung durch den Grundsicherungsträger selbst keinen Verwaltungsakt dar, da sie keine Regelung enthält (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01. März 2016 – L 5 AS 25/16 B ER, Rn. 55; Bayerisches LSG, Beschluss vom 3. Juni 2016 – L 7 AS 233/16 B ER, Rn. 45; Stachnow-Meyerhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 5 Rn. 102.1:

Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin auf Rücknahme des Rentenantrags kommt der allgemeine öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht. Dieser richterrechtlich entwickelte, aus dem Bundesverfassungsrecht (Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 1 und 3 GG) hergeleitete Anspruch ist als Primäranspruch zu verstehen, der auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch einen rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff veränderten Zustandes im Wege der Naturalrestitution zielt (vgl. hierzu u. a. Seewald in Kasseler Kommentar, Stand Juni 2012, Vor §§ 38-47 SGB I, Rn. 104f; BSG, Urteil vom 10. August 1995 – 11 RAr 91/94, Rn. 32; Urteil vom 29. Mai 1996 – 3 RK 26/95, Rn. 58; zur Herleitung: BVerwG, Urteil vom 19. Juli 1984 – 3 C 81/82 Rn. 25ff). Der Anspruch setzt voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht des Betroffenen ein rechtswidriger Zustand geschaffen wurde und dieser Zustand noch andauert (vgl. u. a. BVerwG, Urteil vom 26. August 1993 – 4 C 24/91, Rn. 23f; SG Berlin, Urteil vom 10. Dezember 2013 – S 182 KR 1747/12, Rn. 29).

Vorliegend ist nicht ausgeschlossen, dass der am 14. Juli 2015 (Eingang am 16. Juli 2015) durch den Beklagten gestellte Rentenantrag, durch welchen die Klägerin in ihrem Selbstbestimmungsrecht auf Antragstellung beeinträchtigt wird, nicht von der Ermächtigungsnorm des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II gedeckt ist und somit ein rechtswidriger Zustand gegeben ist.

Gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II können, wenn die Leistungsberechtigten trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf vorrangige Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, die Leistungsträger den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Voraussetzung für das Antragsrecht des Leistungsträgers ist dabei ausdrücklich, dass der Leistungsberechtigte die Stellung des Antrags trotz einer entsprechenden Aufforderung unterlassen hat. Der Leistungsberechtigte muss vergeblich aufgefordert worden sein (Armborst in: LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 5 Rn. 47; Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013; § 5 Rn. 31). Primär ist gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II der Hilfesuchende als Anspruchsinhaber zur Stellung des Antrags berechtigt und verpflichtet. Ihm ist daher auch unter dem Gesichtspunkt rechtlichen Gehörs zunächst Gelegenheit zu geben, den Antrag selbst zu stellen (Armborst, a. a. O.; Stachnow-Meyerhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 5 Rn. 93).

Insofern ist die Aufforderung zur Antragstellung mit einer - angemessenen - Frist zu versehen (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R, Rn. 34). Die Länge der zu gewährenden Frist ist nicht gesetzlich geregelt, wobei eine starre Vorgabe auch nicht sachgerecht wäre (ähnlich Bieback in Gagel, SGB II, Stand September 2015, § 5 SGB II Rn. 88). In den Fachlichen Hinweisen der BA zu § 5 SGB II, Ziff. 5.7 sind 2 Wochen genannt. Ein Abwarten der Widerspruchsfrist ist angesichts der Regelung des § 39 Nr. 3 SGB II nicht erforderlich (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 1. März 2016 – L 5 AS 25/16 B ER, Rn. 47).

Vorliegend wurde der Klägerin im Bescheid vom 14. Juli 2015 zwar eine Frist zur Antragstellung bis 31. Juli 2015 eingeräumt, die nach den genannten Prämissen nicht zu beanstanden sein dürfte. Jedoch hat der Beklagte den Ablauf dieser Frist nicht abgewartet, sondern hat den ersatzweisen Antrag nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II bereits mit Schreiben vom selben Tag, dem 14. Juli 2015, gestellt. Damit konnte bei Antragstellung des Beklagten augenscheinlich noch gar nicht feststehen, dass die Aufforderung an die Klägerin "vergeblich" sein würde, also die Klägerin nicht selbst einen Antrag stellen würde. Der Beklagte hat der Klägerin gar nicht die Gelegenheit gegeben, die Frist bis 31. Juli 2015 für eine eigene Antragstellung zu nutzen. Auch wenn sich aus dem Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 30. Juli 2015 dann (rückblickend) ergibt, dass sie selbst nicht zur Antragstellung binnen der Frist bereit war, war dies dem Beklagten aber im konkreten Zeitpunkt seiner Antragstellung noch nicht bekannt.

Durch das Nichtabwarten der angemessenen Frist könnte der ersatzweise Rentenantrag zumindest insoweit rechtswidrig sein, wie er bereits im Juli 2015 bei der DRV eingegangen ist und nicht erst nach Ablauf der Frist – also frühestens im bzw. mit Wirkung zum August 2015 – gestellt wurde (vgl. zur "verfrühten Antragstellung": LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01. März 2016 – L 5 AS 25/16 B ER, Rn. 47; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. November 2016 – L 4 AS 550/16 B ER, Rn. 44). Auf die Wirksamkeit des Antrags schon in Juli oder erst später kommt es aber entscheidend an, da sich hierdurch Auswirkungen auf den möglichen Rentenbeginn gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI ergeben.

Sodann bleibt zu fragen, ob ein möglicher Folgenbeseitigungsanspruch hier ggf. darauf gehen könnte, den ersatzweisen Rentenantrag des Beklagten im Rahmen der Dispositionsmaxime als mit Wirkung ab August 2015 gestellt anzusehen. Wegen der unmittelbaren Auswirkungen dieser Überlegungen auf den bereits ergangenen Rentenbescheid und im Sinne einer umfassenden Einbeziehung aller am Sachverhalt Beteiligten wäre eine Beiladung der DRV Mitteldeutschland zu erwägen.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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